Gesundheit: Globale Apartheid

18.08.2006   Lesezeit: 11 min

Über die Ökonomisierung von Gesundheitsbedürfnissen. Von Thomas Gebauer. Im Zuge der Globalisierung ist die Welt fraglos näher zusammengerückt, doch zu einem globalen Dorf, wie es manchmal hieß, wurde sie nicht. Im Gegenteil: Gerade im Bereich der Gesundheit wird auf erschütternde Weise deutlich, dass die Welt heute gespaltener denn je ist.

Das Ende der 70er Jahre mit großer Emphase propagierte Ziel, Gesundheit für alle im Jahr 2000 zu schaffen, ist weit verfehlt worden. Zynisch heißt es heute, dass man Gesundheit für alle vielleicht in 2000 Jahren erreichen könne. Schon der Blick auf die weltweit geleistete medizinische Entwicklungshilfe lässt nichts Gutes erhoffen. Deren Summe nämlich ist in etwa so groß wie das, was Europa alljährlich für Speiseeis ausgibt oder die Menschen in den USA für das Renovieren ihrer Badezimmer. So mag der Verweis auf die "Apartheid" zwar provozieren, übertrieben aber ist er nicht.

Bekanntlich hat sich die Globalisierung bisher in zwei gegenläufigen Bewegungen vollzogen: Einerseits ist die Welt zu einem globalen System integriert worden, andererseits wurden große Teile der Weltbevölkerung ökonomisch ausgegrenzt. "Redundant people" heißen die Verlierer der Globalisierung im Englischen: Menschen, für die es in den weltwirtschaftlichen Zusammenhängen keinen Platz zu geben scheint, die "überflüssig" sind. Ein wenig wird davon gegenwärtig in der sog. "Unterschichtsdebatte" in Deutschland deutlich.

Die Produktion von "redundant people" aber ist kein Betriebsunfall. Sie gehört zum Wesen des global entfesselten Kapitalismus, der längst in alle Sphären des Lebens hineinreicht und dafür sorgt, dass menschliche Bedürfnisse dem Kalkül ökonomischer Interessen untergeordnet werden. Maßgeblicher Wegbereiter der neoliberalen Umgestaltung der Welt war die gebetsmühlenartig verbreitete Überzeugung, dass private unternehmerische Initiativen grundsätzlich den staatlichen überlegen seien. Keine Talkshow, keine Expertenkommission, kaum ein Leitartikel, der nicht als Allheilmittel für die Lösung sozialer Missstände die Deregulierung propagiert hätte. Dabei ist die angeblich größere Effizienz eines von allen staatlichen Eingriffen befreiten Marktes nie wirklich bewiesen worden. Gerade die großen gesundheitlichen Erfolge in den letzten Jahrhunderten zeigen das Gegenteil. Die Verbesserung des Trinkwassers, die Einführung einer funktionierenden Abfallbeseitigung, die Schaffung von Nahrungsmittelsicherheit, das Angebot breitenwirksamer Impfungen, all das ist nicht das Ergebnis privater Leistungen gewesen, sondern gründete auf öffentlichem Engagement, das nicht selten erst gesellschaftlich erkämpft werden musste.

Dennoch predigen Politiker und Manager heute unablässig, dass es zum Rückbau des Sozialstaates keine Alternative gebe. Es scheint, als habe sich der Neoliberalismus vor allem deshalb so erfolgreich durchsetzen können, weil er sich mit der Aura der ökonomischen Zwangsläufigkeit umgeben konnte. Der Neoliberalismus aber ist keine Zwangsläufigkeit, wie Pierre Bourdieu dargelegt hat. Er ist das Ergebnis einer bewusst lancierten "Politik der Entpolitisierung", die steuernd nur noch da eingreift, wo die Chancen kurzfristiger Kapitalrealisierung zu sichern sind.

Es ist diese "Politik der Entpolitisierung", die nun auch im Gesundheitssektor ihren Niederschlag gefunden hat. Immer weniger sind es Gesundheitsbedürfnisse, die über Versorgungsangebote entscheiden, sondern wirtschaftliche Kriterien. Die voranschreitende Ökonomisierung von Gesundheit, ihre "Ver-Betriebswirtschaftlichung" aber bleibt nicht ohne Folgen: Mit ihr verkümmert Gesundheit zur Ware, reduziert sich Gesundheitspolitik auf bürokratisches Krankheitsmanagement, werden aus Patienten Konsumenten und sind es nicht mehr soziale Rechte, die über den Zugang zu Gesundheit bestimmen, sondern die individuelle Kaufkraft.

Nun ließe sich einwenden, dass mit dem Auftreten neuer globaler Plagen, wie SARS oder der Vogelgrippe eine Rückbesinnung auf die Bedeutung öffentlicher Gesundheitsfürsorge stattgefunden hat. Nicht Eigenverantwortung, ja nicht einmal nationalstaatliches Handeln reichen schließlich aus, um den neuen Gesundheitsrisiken zu begegnen - Risiken, die übrigens keineswegs nur aus dem Süden zu uns dringen, sondern vor allem aus dem Norden in alle Welt exportiert werden. Viele der global grassierenden Krankheiten korrespondieren mit den Einflüssen der dominanten westlichen Kultur, mit veränderten Ernährungsgewohnheiten und den Folgen eines weltweiten Klimawandels, der nicht zuletzt auf ungebremste Schadstoffemissionen im Norden zurückzuführen ist. Unter solchen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass sich chronische Erkrankungen nun auch im Süden ausbreiten und Diabetes seine höchsten Zuwachsraten beispielsweise in Afrika hat.

Fraglos ist das Bewusstsein für die globalen Zusammenhänge von Gesundheit gestiegen, doch sind die Antworten, die die Politik bislang gefunden hat, unzureichend. Auch in ihnen spiegelt sich die Gleichzeitigkeit von Integration und Ausschluss. Sie sollen globale Verantwortung demonstrieren (und damit zur Überwindung politischer Legitimationsdefizite beitragen), und zielen zugleich auf selektive Schutzmaßnahmen (und damit auf die Frage, wie die eigene "Volks-Gesundheit" gegen das vermeintlich "infektiöse Fremde" geschützt werden kann). Die Bilder von martialischen Straßensperren, mit denen die Bundeswehr Anfang 2006 der vorrückenden Vogelgrippe Einhalt gebieten sollte, lassen Erinnerung an längst überkommen geglaubte Zeiten kolonialer Gesundheitspolitik wach werden. Der heutige "Cordon Sanitaire" aber trennt nicht mehr die Siedlungen weißer Kolonialbeamten von den Wohnvierteln der Eingeborenen, sondern den globalen Norden vom Süden.

Es steht zu befürchten, dass auch die sogenannten "Millennium Development Goals" (MDGs) nicht die Rückkehr kolonialer Seuchenpolitik verhindern können. Immerhin: Drei der acht MDGs, die die Staats- und Regierungschefs dieser Welt feierlich zum Jahrtausendwechsel vereinbart haben, beschäftigen sich mit Fragen globaler Gesundheit. Seitdem steht beispielsweise die Zurückdrängung von Malaria, Tuberkulose und HIV/AIDS ganz oben auf der internationalen Agenda. Seitdem wurde auf unzähligen Konferenzen, Symposien und Meetings Handlungsbedarf beschworen und es wurden immer neue Aktionspläne verabschiedet. Verändert aber hat sich wenig. Mit jedem Tag, der nun verstreicht, wird das Scheitern der MDGs wahrscheinlicher. Die Gründe sind bekannt: Statt dem komplexen sozialen Hintergrund von Krankheiten zu entsprechen, beschränken sich viele der Aktionen auf punktuelle, von oben nach unten durchgeplante technische Eingriffe, die möglichst rasch sichtbare Erfolge zeigen sollen.

Wie aber soll in Südafrika die schnelle Bekämpfung von HIV/AIDS gelingen, wenn es die sozialen Umstände sind, die für die Ausbreitung der Immunschwäche sorgen? Monat für Monat verlassen 300 Krankenschwestern, die für nachhaltige AIDS-Programme unentbehrlich sind, das Land, um im reichen Europa oder den USA Arbeit zu finden. Die Mittel, die Großbritannien auf diese Weise für die Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte spart, liegen weit über den Mitteln, die es für Hilfsprogramme in Südafrika aufwendet. Auch im anhaltenden "Braindrain" wird deutlich, wie die Welt zwar näher zusammengerückt ist, doch ihre Spaltungen eher noch zunehmen.Während sich die Menschen im Norden Gesundheitsressourcen aus allen Teilen der Welt leisten können und beispielsweise auf billige Pflegekräfte aus Osteuropa zurückgreifen, Zahnersatz aus China importieren, sich zu Ayurveda-Kuren nach Indien zurückziehen und vitaminreiches Obst und Gemüse konsumieren, das rechtlose Arbeitsmigranten im spanischen Andalusien produzieren, ist eine wachsende Zahl von Menschen im globalen Süden von jeglichen Versorgungsangeboten ausgeschlossen: zumindest als Patient.

Diese Einschränkung ist bedeutsam. Denn auf perfide Weise sind die "redundant people" zuletzt doch wieder für den globalisierten Gesundheitsmarkt interessant geworden: als Ersatzteillager für die Transplantationsmedizin oder als Versuchskaninchen für neue Medikamente. In Indien, wo alleine 350 Mio. Menschen in extremer Armut leben, sehen sich immer mehr Menschen gezwungen, Nieren oder andere Organe an zahlungskräftige Ausländer zu verkaufen. Abhängigkeit und Unwissenheit machen sie zu leichten Opfern auch der Pharma-Industrie. Wo korrupte Verwaltungen herrschen und von Ethikkommissionen keine Spur ist, da können die sonst aufwendigen klinischen Tests von neuen Medikamenten abgekürzt und billiger durchgeführt werden: meist ohne Einwilligung der Patienten, ohne Risikoaufklärung und ohne therapeutische Kontrollen. Die zynische Rechtfertigung der mit den Tests beauftragten Firmen: wenigstens für die Dauer der Tests seien die Armen medizinisch versorgt. - Vor 60 Jahren wurde in Nürnberg auch gegen die Verantwortlichen der medizinischen Menschenversuche der Nazis verhandelt. Leider steht zu befürchten, dass viele der damals verabredeten ethischen Grundlagen heute wieder brüchig werden.

Gerade im Arzneimittelsektor sind die prekären Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung spürbar. Während es sich ein Land wie Deutschland trotz – besser: wegen – der vielen sozialen Einschnitte leisten kann, jährlich 4.700 Tonnen Arzneimittel im Wert von 4 - 5 Mrd. Euro nicht zu verbrauchen, haben im globalen Süden 2 Mrd. Menschen nicht einmal Zugang zu den lebenswichtigsten Medikamenten. Den meisten Ländern fehlen sowohl die finanziellen Mittel als auch die technischen Voraussetzungen, um eine angemessene Versorgung mit Arzneimitteln aus eigener Kraft sicherstellen zu können.

Und dass es bei dieser Abhängigkeit bleibt, dafür sorgt nicht zuletzt das "Internationale Abkommen über den Schutz geistiger Eigentumsrechte", kurz: TRIPS, das 1996 in Kraft getreten ist und dessen Übergangsregelungen für die meisten Entwicklungsländer Ende letzten Jahres ausgelaufen sind. Mit dem TRIPS-Abkommen verpflichten sich die Mitgliedsländer der WTO patentgeschützte Medikamente als solche anzuerkennen und von ihnen keine Generika zu produzieren. Nur den Least Developed Countries (LDC), den am wenigsten entwickelten Ländern, ist noch eine weitere Übergangszeit bis 2016 eingeräumt worden, in der sie auch patentgeschützte Präparate für den eigenen Bedarf und den Export an andere LDC herstellen dürfen. Die indischen Generika-Firmen, die viele Jahre lang weite Teile der Weltbevölkerung mit neu auf den Markt gekommenen Arzneimitteln zu erschwinglichen Preisen versorgt haben, können dies seit 2005 nicht mehr tun. Einen indischen Pharmaunternehmer hat dies zu dem makabren Ausspruch verleitet, dass man selbst die Konsequenzen des TRIPS-Abkommens wohl überleben werde, aber die früheren Patienten nicht unbedingt.

Den USA aber gehen die TRIPS-Regelungen noch nicht weit genug. Sie wollen auch jene Paragraphen kippen, die Ländern das Recht einräumen, im Falle besonderer gesundheitlicher Notlagen Zwangslizenzen zur Herstellung patentgeschützter Medikamente zu erteilen. Die AIDS-Katastrophe, die in vielen Ländern Afrikas und Asiens herrscht, würde solche Zwangslizenzen ohne Frage rechtfertigen. Von den 42 Mio. Menschen, die weltweit mit dem HIV–Virus infiziert sind, leben 70% in Afrika südlich der Sahara. Von angemessenen Behandlungsmöglichkeiten aber kann nirgendwo in Afrika die Rede sein. Nicht einmal 20% derjenigen, die einer AIDS-Behandlung bedürften, haben Zugang zu antiretroviralen Medikamenten. Zwar hat der öffentliche Druck der letzten Jahre dazu geführt, dass Pharma-Konzerne hin und wieder AIDS-Medikamente billiger abgegeben haben, doch kostet die Behandlung mit "Second Line"- Präparaten, gegen die das Virus noch keine Resistenzen ausgebildet hat, wieder ca. 10.000 Dollar pro Patient und Jahr - für Menschen in Afrika eine Absurdität.

1.400 Kinder sterben täglich an AIDS. Und weil diese Kinder in ihrer überwiegenden Zahl nicht "weiße" Kinder sind, gibt es für die Opfer noch immer keine einfach einzunehmenden antiretroviralen Tabletten. Sie wären leicht zu entwickeln und herzustellen, versprechen aber kein Geschäft. Und genau darin liegt auch der Grund dafür, dass die Pharmaindustrie die Entwicklung eines HIV-Impfstoffes nur zögerlich betreibt: Gäbe es ihn, er müsste angesichts der Krankheitslast, die vor allem Afrika trägt, zum Selbstkostenpreis abgegeben werden. Den Patienten in Afrika, Asien und Lateinamerika fehlen die Mittel für teure Arzneimittel. Und weil dies so ist, fehlt auch der Markt, der Aufwendungen für die Erforschung von Krankheiten, die mehrheitlich die Armen plagen, lohnen würde.

Von den 1.400 Medikamenten, die in den letzten 25 Jahren weltweit entwickelt wurden, waren gerade einmal 13 Präparate, also nicht einmal 1%, solche, die gegen armutsbedingte Krankheiten wirken. Erforscht wurden stattdessen allerlei Scheininnovationen, die im Englischen "me-too drugs" heissen und den Pharma-Konzernen einen Anteil an bereits bestehenden Absatzmärkten sichern sollen. Renner sind u. a. sogenannte Lifestyle-Präparate - Mittel gegen Haarausfall, Übergewicht oder Erektionsstörungen, die hohe Gewinnmargen versprechen, weil sie ein zahlungskräftiges Publikum haben.

Unbedingt ist eine Neuausrichtung der pharmakologischen Forschung notwendig. Sie könnte sehr gut gelingen, wenn beispielsweise die Europäische Union ihren Forschungsetat für ein bewusstes Gegensteuern einsetzen würde. Leider aber ist das Gegenteil der Fall. Explizit geht es der EU bei der Vergabe von Forschungsmitteln um die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit europäischer Arzneimittelhersteller. Nicht die Förderung eines an öffentlichen Interessen ausgerichteten medizinischen Fortschritts steht im Vordergrund, sondern die verdeckte Subvention von Big Pharma.

Dabei wäre es durchaus denkbar, die Forschung und Entwicklung von essentiellen Arzneimitteln ganz in die öffentliche Hand zu legen. Bereits jetzt sind 50 % der Forschungskosten öffentlich finanziert. Das renommierte Londoner Centre for Economic and Policy Research hat nachgewiesen, dass eine 100%ige öffentliche Finanzierung nicht nur essentielle Forschung entlang akuter Gesundheitsbedürfnisse zuließe, sondern auch die Entwicklungskosten senken und damit Medikamente insgesamt billiger machen würde. Mittel, die bislang im Arzneimittelsektor gebunden sind, könnten für andere Gesundheitsleistungen frei gemacht werden. Es gäbe kaum einen anderen politischen Eingriff, der von vergleichbar großem gesellschaftlichem Nutzen wäre, so das Fazit der Studie.

Gemeinsam mit kritischen Pharmakologen, Verbraucherschutzgruppen, Hilfsorganisationen und Wissenschaftlern in aller Welt drängt medico auf einen Richtungswechsel in der globalen Arzneimittelpolitik. Ziel ist die Sicherstellung einer weltweiten Versorgung mit essentiell notwendigen Arzneimitteln, zu denen alle Menschen ungeachtet ihrer Kaufkraft Zugang haben und die in den Fällen, wo es sie noch nicht gibt, prioritär erforscht und entwickelt werden.

Der globalen Gesundheitskatastrophe wird nur zu begegnen sein, wenn die Idee des Menschenrechts auf höchstmögliche körperliche und geistige Gesundheit politisch wie materiell fundiert wird. Dafür zu sorgen, dass der Rechtsanspruch auf einen adäquaten Zugang zur Gesundheitsversorgung keine nette Floskel bleibt, - das würde einer Welt, die mit der Demokratisierung ihrer Verhältnisse ernst machen will, nicht schlecht zu Gesicht stehen.


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