Globale Netze, lokale Knoten

20.08.2004   Lesezeit: 7 min

Eine andere Hilfe braucht eine andere Öffentlichkeit Ein Ort, an dem Demokratie und Öffentlichkeit schon vor Jahrhunderten zusammenkamen, war die »Agora«, der Marktplatz, an dem die Bürger Athens in freier Versammlung über die öffentlichen Belange ihrer Stadt stritten. Bald schon kam zur Sprache, dass sich die Bürger dort nur treffen konnten, solange die für solche Freiheit notwendige Arbeit von Sklaven und Frauen verrichtet wurde. Den Frauen und den Sklaven war – wie den Fremden – der Zugang zur Agora verwehrt. Von Fortschritten in der Geschichte demokratischer Öffentlichkeit kann seither immer dann gesprochen werden, wenn der Kreis derer, die in freier Rede ihr Wort ergreifen, erweitert wird. Jedoch: Je umfassender Öffentlichkeit zugleich globalisiert und massenmedial inszeniert wird, umso dringlicher wird es, nicht nur einen, sondern viele solche Orte der freien Rede zu schaffen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Den Agoren fällt dann die Aufgabe zu, den über alle Medien verbreiteten Monolog des neoliberalen Pensée Unique zu unterbrechen. Dieses »Einheitsdenken« gibt zwar offen zu, dass unsere Welt im freien Fall von einer Krise in die nächste stürzt, nimmt dies aber nur zum Anlass, um immer wieder das eigene Credo zu wiederholen, nach dem es zu neoliberaler Politik eine Alternative weder geben darf noch kann.

Spektakel der Politik, Spektakel der Hilfe Was für die Politik gilt, gilt in gleicher Weise für die Hilfe, und dabei hat das eine mit dem andern zu tun. Denn Politiker und Medien, die den Fortschritt kapitalistischer Globalisierung als »alternativlos« legitimieren, müssen auch und gerade die Verlierer und Ausgegrenzten ihres Fortschritts öffentlich in Szene setzen, und das vor allem dort, wo sie nach Millionen zählen, im globalen Süden. Dessen Menschen erscheinen im massenmedialen Stereotyp entweder als »gefährliches Subjekt« oder als reines Opfer. Ersteres ist ein Fall für die weiße (Welt-)Polizei, letzteres das Objekt der weißen Hilfe. Die kommt mit den auf jede Krise folgenden »Flüchtlingsströmen« ins Bild, fliegt von außen ein, verteilt Zelte, Decken, Medikamente und Reis, platziert an den Eingängen der Flüchtlingslager und auf den T-Shirts der Geretteten werbewirksam das Logo der jeweiligen Organisation. Ist der Höhepunkt überschritten – in der Regel eine Sache weniger Tage – ziehen die »Schnellen Eingreiftruppen« der weißen Medien und der weißen Hilfe wieder ab. Was von solcher »Berichterstattung« hängen bleibt? Der schwarze Täter, die schwarzen Opfer, der weiße Helfer. Und hier, »zu Hause«, das Gefühl, trotz Hartz IV noch einigermaßen sicher zu sein.

Netzwerke demokratischer Öffentlichkeit Die von medico initiierte Internationale Kampagne zum Verbot von Landminen war und ist immer noch das Beispiel einer Hilfe, die da nicht mitspielen wollte und will. In den Ländern des Südens nicht, weil nicht einfliegende Helfer, sondern die Betroffenen selbst zum Zug kommen, die salvadorianischen, angolanischen oder afghanischen Partnerorganisationen medicos. Schon in ihrer tagtäglichen Arbeit treten sie den Beweis an, dass die Überlebenden der Minenkriege keine bloßen Opfer sind, die unfähig wären, in eigener Sache das Wort zu ergreifen. Zugleich wurde die Kampagne zur weltumspannenden Agora, zu einer internationalen demokratischen Öffentlichkeit, die ihre Sache in eigenem Namen vortrug. Ihren politischen Erfolg verdankt sie auch den Sprecherinnen und Sprechern, die sie auch hier, vor Ort, auf den Plätzen der Städte und Gemeinden fand.

»Vor Ort«, das hieß auf Abendveranstaltungen, ausgerichtet von einer Kirchengemeinde, einer Schülergruppe, oft auch von einer Einzelperson, wo Mitarbeiter von medico ein Forum fanden, um für das Landminenverbot zu werben. Oder an zahllosen Infoständen in samstäglichen Innenstädten, wo Flugblätter verteilt und Tausende von Unterschriften gesammelt wurden. Oder in Redaktionsbüros, wo Unterstützer der Kampagne erreichten, dass die lokale Tageszeitung einen Hintergrundbericht zum Minenproblem druckte. Ohne solche Netzwerke demokratischer Öffentlichkeit hätte die Kampagne den Verteidigungsministerien und Rüstungskonzernen das Landminenverbot nicht abtrotzen können. Ohne die Spenderinnen und Spender und ohne die Fördermitglieder nicht, die diese Arbeit finanzierten, und ohne die ehrenamtlichen Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht, die an ihrem Ort das Veranstaltungslokal angemietet, den Infostand aufgebaut, die Flugblätter verteilt, den Lokalredakteur angesprochen haben.

Auf solche Netzwerke ist medico heute mehr denn je angewiesen: Mitstreiter, die Räume der freien Debatte öffnen. Das wird in vielen Fällen wiederum ein Veranstaltungslokal sein. Das kann aber auch eine Buchhandlung, eine Gaststätte, ein Kulturzentrum sein, wo Informationsmaterial ausgelegt wird. Oder eine Schule, an der eine Projektwoche zu den fortdauernden Minenkriegen organisiert werden kann, mit einem Sponsored Walk zum Abschluss, dessen Ertrag an die »Organisation for Mineclearance and Afghan Rehabilitation« (OMAR) geht, einen der medico-Partner in Afghanistan.

Globalisierung und Demokratie Ist die Mine ein Symbol für den tatsächlichen Zusammenhang von Globalisierung und Krieg, so ist die Anti-Minenkampagne ein Beispiel für den möglichen Zusammenhang von Globalisierung und Demokratie. Der aber ist auch auf vielen anderen Feldern herzustellen, in den Ländern des Südens, im Nord-Süd-Verhältnis und eben deshalb auch und gerade hier, im eigenen Land. So haben wir im letzten Jahr eine Rundreise durch acht Städte organisiert, auf der Miri Weingarten von den israelischen Ärzten für Menschenrechte und Daoud Abdeen von den palästinensischen Gesundheitskomitees vom Kampf um die Demokratisierung ihrer Gesellschaften berichteten. Möglich war das nur, weil wir vor Ort Partner fanden, die die Veranstaltung für sich und mit medico organisierten: zuerst Einzelne, dann eine Friedensgruppe, Professoren einer Hochschule, einen Ortsverband von attac, den Gewerkschaftsbezirk.

Insgesamt nahmen über 600 Leute an den Veranstaltungen teil und erfuhren so, dass und warum der Konflikt in Israel-Palästina – wie die zahllosen Krisen und Konflikte anderswo – in den Bildern der Prime Time News nicht aufgeht. Nicht zuletzt deshalb, weil Menschen dort eine Hilfe leisten, die politisch für einen Frieden Partei ergreift, der ohne Demokratie auf allen Seiten nicht zu haben ist. Das verbindet uns und unsere Partner in Israel-Palästina wie im eigenen Land mit Millionen von Demonstranten, die am 15. Februar 2003 weltweit gegen den Irakkrieg protestierten. Sie folgten einem Aufruf des Europäischen Sozialforums, das wenige Monate zuvor in Florenz stattfand. Das Weltsozialforum in Porto Alegre übernahm den Florentiner Aufruf, verbreitete ihn über Internetseiten und Hunderttausende von E-Mails, in einem horizontalen, nicht zu kontrollierenden Austausch. Das Netz der Agoren überspannt die ganze Welt und verdichtet sich in unzähligen Knoten – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, an einem Infostand auf dem Marktplatz irgendwo in der Bundesrepublik wie über den access point einer wireless LAN-Verbindung. Es sind nicht unbedingt gemütliche Orte, weil die Agora ein Ort des Austauschs nur ist, sofern sie ein Ort des Streites um die öffentlichen Belange ist, um die »res publica«. medico und seine Partnerinnen und Partner spinnen im Netz der Agoren ihre Fäden, von Knoten zu Knoten. Wir brauchen solche, die dabei mitmachen wollen, an vielen Orten, auch an Ihrem Ort. Rufen Sie uns an.

PS: Übrigens, »agora« heißt auf portugiesisch »jetzt« bzw. »gegenwärtig« – und ist der Name einer oppositionellen Wochenzeitung in Angola. Deren kritische Berichte über staatliche Menschenrechtsverletzungen werden im medico-newsletter zu Afrika verschickt.

medico vor Ort

Auch für medico ist das Partnernetzwerk im eigenen Land ein Experiment. Anfang des Jahres fand ein erstes Treffen mit 30 Unterstützerinnen und Unterstützern statt. Thema war: Wer kann – im beidseitigen Interesse – was tun? Eine Mailingliste wurde eingerichtet und Verabredungen über kleine und größere Aktivitäten bis ins nächste Jahr hinein getroffen. Es geht um Infostände mit medico-Materialien, zum Beispiel bei Kulturveranstaltungen, aber eben auch in der Innenstadt, Samstags – oder Montags. Wir planen Veranstaltungen: zum immer noch dringlichen Problem der Mine, zu Israel und Palästina, zu globalen sozialen Rechten, zu Access To Health For All – Gesundheit für alle, zur Arbeit von medico. Wir hoffen auf neue Kontakte, für weitere Aktivitäten, auf längere Sicht.

Kontakt: Anne Jung, (069)94438-27, jung@medico.de Thomas Seibert, (069)94438-36, seibert@medico.de


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