Von Martin Glasenapp
Es ist der große Exodus. Seit Beginn des Krieges suchen syrische Flüchtlinge im Libanon Schutz. Heute leben 1,2 Millionen Menschen aus Syrien an 1.600 Orten im Libanon – offiziell. Laut UN kommen mindestens noch 500.000 illegale Flüchtlinge hinzu. Die syrische Diaspora macht zusammen mit den palästinensischen Flüchtlingen ein Viertel der Gesamtbevölkerung im Libanon aus. Im Vergleich müsste Deutschland etwa 24 Millionen Flüchtlinge aufnehmen.
Nach Angaben der Weltbank belastet die Situation den libanesischen Staatshaushalt mit 1,5 Milliarden US-Dollar im Jahr. Die technischen Infrastrukturen sind ebenso überlastet wie das Gesundheits- und Bildungssystem. Der Mangel an Wohnraum ist dramatisch, die Mieten haben sich vielerorts verdreifacht. Viele Flüchtlinge leben in provisorischen Zeltstädten aus Plastikplanen am Rande der Städte, oder auf Feldern, wofür sie hohe Mieten an libanesische Bauern zahlen. Gleichzeitig drückt die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt die Löhne.
Flüchtlinge abschrecken
Die libanesische Regierung hat begonnen, die syrische Flüchtlingsfrage zu „palästinisieren“, sprich: Sie lehnt es zwar weiterhin ab, offizielle Flüchtlingslager einzurichten, schränkt aber die Aufenthaltsrechte der Flüchtlinge massiv ein. Erstmals in der Geschichte beider Länder gibt es eine Visumspflicht für Syrer im Libanon und eine neue, perfide Aufenthaltsgesetzgebung, gefordert werden Nachweise über Einkommen und Bankkonten, Mietverträge und libanesische Bürgen. All das zielt darauf, Flüchtlinge abzuschrecken oder zusätzlich zu illegalisieren. Für Merhi Fliti ist das alles grotesk. „Die Flüchtlinge kommen mit ihren Sachen nachts über die grüne Grenze den Berg hinunter. Sie interessieren sich nicht für Mietverträge, Kontonachweise oder gar Bürgen.“
Der 47-Jährige ist Sozialarbeiter in Arsal in der nördlichen Bekaa-Ebene. Früher hatte die Kleinstadt 40.000 Einwohner, durch die Flüchtlinge sind es heute 80.000. Merhi Fliti arbeitet mit seiner Frau Salah, einer gelernten Krankenschwester, in der lokalen Klinik des medico-Partners Amel, einer landesweit arbeitenden Gesundheitsorganisation. Eigentlich diente die Klinik der Versorgung der armen Landbevölkerung, die sich das teure private Gesundheitssystem nicht leisten kann.
Permanente Nothilfe
Seit Beginn der syrischen Flüchtlingskrise aber besteht die Arbeit aus permanenter Nothilfe. Versorgt werden die, die kommen und nichts haben. Es geht um Tuberkulose, Auszehrung, Durchfall- und Hautkrankheiten, Schussverletzungen. Hinzu kommt die Sicherheitslage. Seitdem syrische Rebellengruppen in den nahen Bergen aktiv sind, haben sich viele Hilfsorganisationen aus Arsal zurückgezogen. Amel ist geblieben.
Angesichts der immer schwieriger werdenden Lage versuchen diejenigen, die noch über finanzielle Mittel verfügen, dass Land wieder zu verlassen. Der Weg ist das Meer, über Ägypten und Libyen, oder über die Türkei. Alle wissen, welche Gefahren auf sie lauern und kennen die Bilder der Toten. „Aber das schockt hier wirklich niemanden“, so Wesam Sabaaneh vom medico-Partner Al Jafra in Beirut. „Wer es schafft, die Straße von Damaskus bis Aleppo zu nehmen und die sieben Checkpoints mit sieben Geheimdiensten, Milizen und Soldaten übersteht, hat auch vor dem Wasser keine Angst mehr.“
Alle wollen gehen
Der syrische Palästinenser Sabaaneh koordiniert aus Beirut die Gemeindearbeit von Al Jafra im palästinensischen Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus. Jafra leistet nicht nur medizinische Nothilfe, sondern versucht auch Menschen zu helfen, die das Land verlassen wollen. „Alle wollen gehen, niemand glaubt, dass es eine Zukunft gibt“, sagt Sabaaneh. Syrien habe begonnen, „sich selbst aufzuzehren“.
Schon in den 1980er Jahren half Amel mit medico-Unterstützung den Opfern des libanesischen Bürgerkriegs. Heute werden, unterstützt vom Auswärtigen Amt, vor allem syrische Kriegsflüchtlinge versorgt, in der Bekaa-Ebene und den schiitischen Vorstädten von Beirut. Auch Al Jafra ist mit der Wucht des Krieges konfrontiert: Das palästinensische Lager Jarmuk in Damaskus ist weitgehend zerstört, die verbliebenen Bewohner sind auf tägliche Nothilfe angewiesen: Suppenküchen, Notärzte, Schulunterricht.
Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 2/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal link in current>Jetzt abonnieren!