Guatemala: Mit Biss und Zukunft

18.08.2006   Lesezeit: 8 min

Die guatemaltekischen Dentalkliniken füllen mehr als eine Lücke und werden nun zu Gesundheitszentren ausgebaut. Eine Reise zu den Barfußzahnärzten, die große Zukunftspläne haben. Von Christoph Goldmann.

Kollisionen geschehen an den Kreuzungen, Überschneidungen, bilden Schnittmengen. Das sind jene Orte, an denen man sich verirren kann. Aber wie schon die alten Maya ihren Kindern beizubringen pflegten: Der "Listo" (der Clevere) am Kreuzweg ist auch der Meister der Möglichkeiten. Solche Meister sind Elizabeth Ibarra und Humberto de León. Wir sitzen in ihrem Büro von ACCSS (Asociación Coordinadora Comunitaria de Servicios para la Salud) in Guatemala-Stadt. Die beiden Leiter der Gesundheitsorganisation, mit der medico seit vielen Jahren zusammenarbeitet, erzählen von ihren Zukunftsplänen: Sie werden die im ländlichen Guatemala entstandenen Gesundheitszentren, die dort arbeiten, wo keinerlei Zugang zu medizinischer Versorgung vorhanden ist, weiter ausbauen. Sie wollen aber auch die Lobby-Arbeit intensivieren. Denn die Gesundheitspolitik im Land ist eine Katastrophe.

"Wir können den Genozid an der indianischen Bevölkerung Guatemalas und die entsetzlichen Grausamkeiten, die die Menschen unseres Landes erleben mussten, nicht mehr rückgängig machen", so Umberto de León. "Aber wir können etwas tun gegen die Strukturanpassungspolitik, die Millionen um angemessene Gesundheitsversorgung, Bildung und Wohnraum bringt."

Humberto de León und Elizabeth Ibarra, Projektleiter, wissen, wovon sie reden. Hunger, Hass, Armut und Verfolgung haben die beiden über lange Zeit in dem kleinen Land in Zentralamerika am eigenen Leib erfahren. Als politisch Andersdenkende, als Mitstreiter des guatemaltekischen Widerstandes. Als Psychologe und als Frontärztin, die versuchten, zusammen mit der überwiegend indianischen Bevölkerung Guatemalas der rassistischen Ausrottungspolitik durch das Militär ein entschiedenes "Nein" entgegenzusetzen.

Seit über 20 Jahren unterstützt medico international jene Kräfte solidarisch, die für ein gerechteres Guatemala kämpfen. In Guatemala herrschte 36 Jahre lang Bürgerkrieg. Erst 1996 wurde nach 200.000 Toten und mehr als einer Million Flüchtlinge ein Friedensvertrag unterschrieben, der den Krieg formell für beendet erklärte.

El Triunfo - Schönheit siegt

Jahrelang waren die Familien von Rosa Solana Ortega, 22, Margarita Cobo Raymundo, 20, und Maria Raymundo Corio, 19, als Nomaden im eigenen Land auf der Flucht vor dem Militär. Sie waren 10 Jahre alt, als sie in der Wiederansiedlung namens "El Triunfo", nur 10 km von der Pazifikküste Guatemalas entfernt, eine neue Heimat fanden.

"Als wir hierher gekommen sind, war das eine große Umstellung. Die Landschaft, die Menschen, vor allem aber das heiße Klima. Eigentlich kamen wir in ein fremdes Land, denn wir alle kannten nur das Hochland. Für meine Eltern war es schrecklich, auch wenn wir froh waren, der ununterbrochenen Bedrohung durch das Militär entkommen zu sein", so Rosa Solana Ortega, die in El Triunfo alle nur Rosita, la dentista, die Zahnärztin, nennen.

Zusammen mit ihren beiden Kolleginnen betreibt sie die Clinica Dental, die lokale Zahnklinik, eine von mittlerweile 12 Kliniken in ganz Guatemala, die in Zusammenarbeit von ACCSS mit medico international in den letzten Jahren entstanden sind. Ein utopisches Projekt, verspricht es doch das Recht auf (Zahn)-Gesundheit und auf ein strahlendes Lachen auch für jene, die in dem gnadenlos marktorientierten guatemaltekischen Gesundheitssystem nie und nimmer auch nur den Hauch einer Chance auf eine angemessene Zahnversorgung hätten. Hier ein Auszug aus der Preisliste der Zahnklinik: Zahnsteinentfernung: 70 Quetzales (8 Euro); Kariesentfernung und Füllung: 35 Quetzales (4 Euro); Teilprothese: 100 Quetzales pro Einheit (11 Euro); Gebiss: 800 Quetzales (88 Euro).

Auch wenn die globale Dentalhistorie wie ein Reigen bunter Geschichten anmutet, der von Mundhygiene und Mäusemist, Gummigebissen und Goldkronen, Zahnwürmern und fahrenden Doktoren erzählt: Die Dentalhandwerkerinnen von El Triunfo finden auch in der akademischen Welt Anerkennung und selbst preisbewusste Kunden aus der Mittelschicht wurden schon in der Clinica Dental in El Triunfo gesehen. Margarita, die aktuelle Chefin der Klinik, klärt über Gefahren und Risiken der Behandlung auf, pflegt eine akribische Buchführung und findet für so manchen verängstigten Patienten das beruhigende Wort. "Wir versuchen jeden Zahn zu retten, und da unterscheiden wir uns wirklich von so manchen "Zahnreißern” , die eigentlich immer nur möglichst viele Zähne ziehen, um dann an einem Vollgebiss zu verdienen. Deshalb sind wir auch regelmäßig unterwegs und besuchen die verschiedenen Wiederansiedelungen von Flüchtlingen und die Dörfer von Landarbeitern, die ihr sklavenähnliches Leben bei den Großgrundbesitzern satt hatten, und sich selbstständig gemacht haben. Wir bringen den Kindern das Zähneputzen bei und führen regelmäßig Fluorisierungen durch."

Werbespots für die Dorfdentisten

Mittlerweile ist der Erfolg mancher Zahnkliniken so groß, dass selbst in lokalen Radio- und Fernsehstationen dafür Werbung geschaltet wird. Auch andere arbeiten in der Gewinnzone. Bei so vielen Patienten kommt es schon einmal zu Begegnungen, die weit über den rein pragmatischen Ansatz der Clínicas Dentales hinausweisen.

Nikolas Armado Lopez betreibt seine Klinik im Nordosten Guatemalas, in Petén. Nikolas ist gehbehindert, seit er während des Krieges schwer verletzt worden war. Ein Handicap, das es für ihn fast unmöglich machte, in Friedenszeiten auch nur die geringste Chance auf eine Arbeit zu haben. Für ihn hat die Clínica Dental alles verändert. "Ja, es gibt viele Organisationen, die bemühen sich um die Aufarbeitung unserer traumatischen Geschichte. Manchmal aber dachte ich, wo bleibt die Zukunft bei so viel Vergangenheitsbewältigung? Weißt du, das ist schon komisch, wenn ein ehemaliger Gegner sich dir komplett ausliefert, und wenn du dich in seinem Mund zu schaffen machst, den Atem in deinem Gesicht fühlst. In meinem Wartezimmer, und auch nach den Behandlungen, reden die Leute. Und längst ist uns allen klar, wer damals gegen wen gekämpft hat und wer den Krieg verloren hat. Für 70% der Guatemalteken bedeutet der tägliche Überlebenskampf immer noch eine informelle Kriegserklärung, aber wir wehren uns auf unsere Art und wir sind der festen Überzeugung, dass wir von diesem Staat nicht viel zu erwarten haben."

Angesichts der überwältigenden Probleme Guatemalas wäre es vermessen zu behaupten, dass die Dentalkliniken die Gesundheitsversorgung der armen Bevölkerung gewährleisten können. Deshalb auch wird bei einer einwöchigen Fortbildungsveranstaltung von ACCSS in Guatemala-Stadt, zu der Dentisten aus dem ganzen Land anreisen, trefflich über Politik, nationale Vernetzung und Perspektiven geredet. Viele akademische Ärzte, die die Dentisten in ihrer Freizeit mittlerweile auch in Allgemeinmedizin unterrichten, sind auch in der INS (Instancia Nacional de Salud), einer Vereinigung von 25 Organisationen aus dem sozialen und dem Gesundheitsbereich, engagiert. Die INS hat zusammen mit 65 Organisationen und 218 Einzelpersonen über zwei Jahre Vorschläge für konkrete Maßnahmen einer Basisgesundheitsversorgung für alle erarbeitet. Für sie sind die Clínicas Dentales ein wegweisendes Beispiel: denn mittlerweile sind viele Kliniken auch zu Beratungsstellen für Mutter/Kind-Prävention und zu kleinen Volksapotheken avanciert.

"Das staatliche Gesundheitssystem ignoriert die meisten Menschen, die auf dem Land leben, völlig. Wenn überhaupt, dann haben die vielen privaten Apotheken hier eine gewisse Stellvertreterposition eingenommen. Die verkaufen den Menschen überteuerte Medikamente und Wunderheilmittel wie das mexikanische Nahrungsergänzungsmittel Omnilife. Das sind unsere Konkurrenten", so Santos Chen Yat, Dentist aus der Clínica Dental in Cimientos de la Esperanza (Fundament der Hoffnung) im Norden Guatemalas.

Seit drei Monaten betreibt Chen eine kleine und erfolgreiche Apotheke in seiner Dentalklinik, in der ausschließlich Generika angeboten werden. " Die Menschen haben Vertrauen zu uns, und nur deshalb kaufen sie hier die ‘billigen’ Medikamente. Die arme Bevölkerung glaubt leider immer noch, dass gut auch teuer sein muss. Es hat sich aber herumgesprochen, dass ich demnächst eine Ausbildung zum Mayapriester beginnen werde, das hat offenbar das Vertrauen in meine Apotheke erhöht." Und Chen fügt stolz hinzu: "Die Zeiten, in denen man sich schämte, Indianer zu sein, sind endgültig vorbei."

Tradition und Moderne

Unerwartete Koalitionen und Kollisionen sind auch die Koordinaten für das Leben und die Zukunftsplanung von Rosa Solana Ortega. Rosita ist "schon" 22 und da wäre sie der Tradition nach schon lange verheiratet. Rositas größter Traum aber besteht darin, Zahnmedizin an der Universität zu studieren. "Mit zwölf bin ich mit meiner Mutter aus der Kampfzone im Norden Guatemalas mit dem Hubschrauber ausgeflogen worden. Mit 13 habe ich das erste Wort spanisch gelernt, mit 14 habe ich zum ersten Mal ein Klassenzimmer von innen gesehen. Bis zu diesem Alter mussten wir uns immer wieder für eine Zeit im Urwald verstecken, sonst hätte uns das Militär alle umgebracht. Auch deshalb trage ich bis heute gerne meine traditionelle Kleidung. Ich stelle sie selbst an meinem Webstuhl zu Hause her, deshalb war ich so an der handwerklichen Arbeit als Dentistin interessiert. Gut, mittlerweile habe ich mein Abitur nachgemacht, ein teurer Spaß, denn ich musste alles selbst bezahlen. Ich danke meinen Eltern so, dass sie mir diese Freiheit gelassen haben. Ob ich jemals werde studieren können, das weiß ich noch nicht, denn das Studium hier ist sehr, sehr teuer."

Rosita Solana Ortega wäre die erste Indianerin in der fast 500-jährigen Geschichte Guatemalas, die das Studium der Zahnmedizin aufnehmen würde. Das sagt einiges aus über ein Land, das zu 70% von indigener Bevölkerung bewohnt wird. George Washington, dessen Konterfei mit leicht schmerzverzogenem Mund die 1-Dollarnote ziert, hätte ihr sicherlich gerne das Studium finanziert. George Washington litt unter übelstem Zahnweh, seit er 22 war. Schwarz und faulig sollen viele seiner Zähne gewesen sein, Karies war sicher dabei, seine Briefe und Tagebücher sind voll von Klagen, und im Schnitt verlor er jedes Jahr einen Zahn oder ließ ihn sich ziehen. Nur ein einziger natürlicher Zahn war Washington geblieben, ein Backenzahn unten links.

Die Dentistinnen aus El Triunfo hätten ihm helfen können, und das zu Preisen, die auch damals konkurrenzlos gewesen wären.


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