Der populistische philippinische Präsident Rodrigo Duterte ist immer für eine politische Volte gut. Mit brutaler Gewalt setzen das Militär und die Polizei seit der ersten Welle im März 2020 einen der weltweit striktesten Corona-Lockdowns durch, der Millionen Menschen in die Verelendung treibt. Trotzdem haben die Philippinen neben Indonesien die höchsten Infektions- und Sterblichkeitsraten an Covid-19 in der asiatisch/pazifischen Region. Weil Tausende Arbeitsmigrant:innen wegen der globalen Reisebeschränkungen im eigenen Land festsitzen, boten Duterte und das Arbeitsministerium Großbritannien und Deutschland Ende Februar 2021 an, die bestehenden Begrenzungen bei der Anwerbung von philippinischen Pflegekräften aufzuheben – wenn die Philippinen im Gegenzug 600.000 Impfstoffdosen erhalten. So könnten die globalen „Leiharbeiter:innen“ schneller zu ihren Jobs in Übersee zurückkehren und die dringend benötigten Devisen verdienen, auf die viele Familien angewiesen sind.
Dieses „unmoralische Angebot“ wurde von Boris Johnson ebenso zurückgewiesen wie vom deutschen Gesundheitsministerium. Aber es enthüllt präzise das „katastrophale moralische Versagen“ der Weltgemeinschaft, von dem der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Tedros, im Januar 2021 sprach. Damit skandalisierte er die extremen Unterschiede beim Zugang zu den seit Ende 2020 verfügbaren Impfstoffen, die trotz der enormen staatlichen Investitionen in die Entwicklung von Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen gegen Covid-19 in der Verfügungsgewalt der Hersteller bleiben. Und das obwohl sie – so noch im letzten Frühjahr vollmundig von EU-Kommissionschefin von der Leyen und anderen prominenten Staatschefs verkündetet – „globale öffentliche Güter“ für alle sein sollten. Zum größten Teil sind sie per Vorverträge an eine Handvoll reicher Staaten verkauft worden. Kein Wunder, dass die Börsen-werte der Pharma-Multis Pfizer, AstraZeneca und Johnson&Johnson durch die Decke gingen, ebenso wie die der deutschen Entwickler-firmen CureVac und BioNTech.
Die Geschichte der Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe zeigt einmal mehr, dass öffentliche Investitionen der zentrale Hebel zum raschen Erfolg sind – und gerade nicht das Patentsystem, das die Hersteller für ihre Investitionsrisiken im Erfolgsfall nachträglich entschädigen soll. An der Entwicklung der Impfstoffe entpuppt sich die Behauptung als Mär, dass Patente in einem kapitalistischen System den zentralen Anreiz zur Produktion neuen Wissens und neuer Produkte darstellen. Dennoch wird die Legende weitergesponnen. Die globalen Spielregeln, die durch das Patentsystem der Welthandelsorganisation (WTO) den finalen Entwicklern dieser Produkte ein Monopol darauf einräumen, scheinen trotz globaler Pandemie in Stein gemeißelt zu sein.
Dabei liegen die Alternativen längst auf dem Tisch. Schon seit Oktober 2020 verhandeln die Mitgliedstaaten der WTO über einen Antrag von Südafrika und Indien, der inzwischen von mehr als 100 Ländern, vornehmlich aus dem Globalen Süden, unterstützt wird. Das Regelwerk des geistigen Eigentums (TRIPS) soll für die Zeit der Pandemie aufgehoben werden, damit technische Geräte, Medikamente, Diagnostika, Schutzausrüstung und Impfstoffe von anderen Herstellern schneller und billiger kopiert werden können. Aber auch nach einem halben Jahr Verhandlungen blockieren einige Staaten diese Initiative – vornehmlich genau jene Handvoll mächtiger Länder, die dank ihrer Verträge über die Impfstoffe trotz aktueller Engpässe mit dem Status quo leidlich leben können: die Europäische Kommission als Verhandlungsführerin der EU, ebenso wie Deutschland und die meisten anderen OECD Staaten. Unterstützt werden sie von der machtvollen Pharmalobby, die die Kontrolle über die Produktion nicht aus ihren Händen geben will. Dagegen protestierten zum Jahrestag der Pandemie am 10. und 11. März 2021, an dem zeitgleich die jüngste Verhandlungsrunde des TRIPS Councils der WTO stattfand, Gesundheitsaktivist:innen in aller Welt.
Dass die Blockadehaltung des Pharmakartells und seiner staatlichen Unterstützer:innen gar nichts mit einer angeblichen „Enteignung“ des geistigen Eigentums zu tun hat, sondern mit der grundsätzlichen Weigerung, mögliche Konkurrent:innen an die Fleischtöpfe des profitablen Geschäfts mit Covid-19 zu lassen, wird an einem weiteren Vorschlag deutlich. Dieser existiert bereits seit Mai 2020, fristet aber ein Schattendasein. Mit dem „Covid-19 Technology Access Pool“, kurz CTAP, unter dem Dach WHO sollen freiwillige Lizenzen, Studien- und Zulassungsdaten sowie Know-how zur Beschleunigung des Technologietransfers gebündelt werden. So ließe sich die Knappheit an Impfstoffen schneller überwinden.
Doch auch diese Initiative – gestaltet nach dem Vorbild des bereits erfolgreichen Pools für Patente und Lizenzen auf Medikamente zur Aids-Behandlung (Medicines Patent Pool) – hat nie die Unterstützung entscheidender Länder mit Forschungskapazitäten erhalten. Im Gegenteil wurde sie von der Pharmaindustrie aktiv angefeindet. Keine einzige Lizenz ist bislang eingebracht worden. Dabei hätte mit der Bereitstellung enormer öffentlicher Mittel für Forschung und Entwicklung gegenüber den Konzernen genau das zur Bedingung gemacht werden können: die Verpflichtung zu einem „sozialverantwortlichen Lizensierungsverfahren“, wie es längst von einigen Universitäten und öffentlichen Forschungsinstituten debattiert und umgesetzt wird.
Die „globale Solidarität“ in der Covid-19-Pandemie beschränkt sich jedoch auf die „Access to Covid-19 Tools Accelerator Initiative (ACT)“. ACT stellt der Impfstoffplattform COVAX Gelder zum Ankauf von Seren zur Verfügung. Um sicherzustellen, dass von dieser Initiative keine Gefahr für die herrschende Patentrechtsarchitektur ausgeht, wird COVAX von den öffentlich-privaten Impfallianzen GAVI und CEPI abgewickelt. Konzeptionell hätte COVAX eine gemeinsame Anstrengung für reiche und arme Länder sein sollen, um schnellstmöglich für alle einen gerechten Anteil an Impfstoffen zu gewährleisten. Strategische Finanzmittel und eine entsprechende Verhandlungsmacht für niedrigere Preise und Produktionsausweitungen gegenüber den Pharmaunternehmen sollten gebündelt werden. Die WHO entwickelte einen Verteilungsplan, demzufolge allen Ländern prozentual zur jeweiligen Bevölkerungszahl schrittweise die Impfstoffe zur Verfügung gestellt würden, sobald sie produziert und zugelassen sind: zuerst für Gesundheitspersonal und besonders gefährdete Gruppen, danach für den Rest der Bevölkerung.
Tatsächlich ist ACT zu einer rein karitativen Veranstaltung geworden, bei der sich die reichen Länder mit einer „Solidaritätsfinanzierung“ für die ärmsten 92 „Empfänger-Länder“ freikaufen. Diese müssen warten, bis die Pharmaunternehmen die meisten ihrer inzwischen 56 bekannten bilateralen Verträge mit den reicheren Ländern (und einigen mit mittleren Einkommen) bedient haben. Auch bei der Registrierung der Impfstoffe bei der WHO, eine Voraussetzung für ihren Einsatz durch die COVAX Fazilität, waren die Unternehmen deutlich langsamer als bei ihren für die Geschwindigkeit gepriesenen „rolling reviews“ bei den US-amerikanischen, britischen und europäischen Zulassungsbehörden. So konnten erst Anfang März die ersten Lieferungen über den COVAX Mechanismus verteilt werden.
Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Die dringend benötigte „Gesundheitssystem“-Komponente, die nur als nachträgliche Ergänzung in die beeindruckende ACT-Accelerator-Architektur eingeführt wurde, hat bis jetzt nur minimale Mittel erhalten. Dies wird sich als entscheidend erweisen. Denn ohne starke Gesundheitssysteme wird die Perspektive Milliarden von Menschen weltweit schnell zu impfen, zu einem immer ferneren Traum – ganz zu schweigen von dem erodierenden Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Systeme.
Die Rolle der Zivilgesellschaft darf in dem Streben nach einer global gerechten Pandemiebekämpfung nicht unterschätzt werden. Aktivist:innen in Südafrika, Kenia, Indien oder Brasilien haben von ihren Regierungen eine Corona-Politik gefordert, die sich den gesundheitlichen und sozialen Rechten der Bürger:innen verpflichtet zeigt. Und weltweit hat sich aus den Erfahrungen der Kämpfe für den Zugang zu Aids-Medikamenten vor 20 Jahren eine neue Bewegung gebildet, die gegen dieselben Patentgesetze kämpft, die damals schon umkämpft waren.
Zurück zu Duterte und seinem „unmoralischen Angebot“: Nicht nur die philippinischen Gesundheitsaktivist:innen von „Filipino Nurses United“ wiesen auf den Skandal hin, dass ihre nur durch die Ausweitung der Produktionskapazitäten erfolgen. Das „business as usual“ muss im Interesse einer möglichst raschen und weltweiten Ausweitung der Impfstoffproduktion beendet werden. Solche klaren Worte fehlen bislang leider von den deutschen Gewerkschaften.
Die Konzerne und die reichen Staaten behaupten weiterhin, dass das Patentsystem die Versorgung mit Covid-19-Impfstoffen sichere – und nicht begrenze. Tatsächlich ist die Aufhebung oder Aussetzung des Patenschutzes die einzige Möglichkeit, diese Pandemie und weitere zu befürchtende Pandemien in den Griff zu bekommen. Die Erfahrung mit Covid-19 unterstreicht die Dringlichkeit, essenzielles Gesundheitswissen den privaten Monopolen zu entziehen und allen zugänglich zu machen. Dies trifft nicht nur auf die Impfstoffe zu. Es gilt auch für Gesundheitsdienste in privatisierten Krankenhäusern und für Finanzierungssysteme, die auf Wettbewerb statt guter Planung aufgebaut sind. Das Schlagwort von der „Rekommunalisierung“ der Gesundheit macht nicht nur in Deutschland schon die Runde.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!