„Das hier ist nicht Israel“, sagt Yehuda Shaul. Gedankenverloren schweift sein Blick über die Hügel von Hebron. Hier, in Kiryat Arba, einer der jüdischen Siedlungen, „soll es sich nur so anfühlen“. Auf der Anhöhe über der Altstadt weht seit 50 Jahren die israelische Fahne, Soldaten der IDF, der Israeli Defense Forces, fahren Patrouille. Siedler pilgern zur Gedenktafel von Baruch Goldstein. 1994 hatte der jüdische Arzt in Hebron 29 Araber erschossen – in der Machpela-Höhle, von Juden und Muslimen gleichermaßen als Grabstätte Abrahams verehrt. Diese Bluttat habe Hebron für immer verändert, erklärt Shaul, einer der Gründer der besatzungskritischen Organisation Breaking the Silence. Denn spätestens seit damals sei diese Stadt, die für beide Religionen so viel bedeutet, ein Ort der Wahrheit – und für jüdischer Siedler der zentrale Eckpfeiler der Landnahme.
Die Zeit der Siedler begann vor mehr als 50 Jahren, am 5. Juni 1967, mit Israels so genanntem Sechstagekrieg gegen eine Koalition arabischer Staaten, darunter Syrien, Ägypten und Jordanien. Israel, der junge, 1948 gegründete jüdische Staat, gewann in diesem Krieg an allen Fronten, besetzte neben der Sinai-Halbinsel und dem Golan auch den Gazastreifen, Ost-Jerusalem, das Westjordanland. Vom Sinai hat sich die israelische Armee vor vielen Jahren zurückgezogen. Aber Gaza ist und bleibt abgeriegelt, durch das für alle Seiten heilige Jerusalem ziehen sich die Mauern – und in der Westbank hält das Besatzungsregime an. Mit der Politik der völkerrechtlich illegalen Siedlungen schafft Israel weiter Fakten. Eine Zwei-Staaten-Lösung scheint in weiter Ferne, erst recht, seit die USA unter Präsident Trump beschlossen haben, ihre Botschaft nach Jerusalem zu verlegen – eine faktische Anerkennung der Okkupation.
Trumps Entscheidung sei „ein perfekter Sturm“ für all diejenigen in Israel, die am Status quo festhalten wollten, erklärt Amira Hass, Korrespondentin der israelischen Zeitung Haaretz in Ramallah: Natürlich sei die erschreckende Ineffizienz der Palästinensischen Autonomiebehörde zu kritisieren, die Korruption und der Klientelismus. Ihre besten Köpfe habe sie schon lange an das Ausland verloren, außerdem lähme die ewige, teils blutige Fehde zwischen Hamas und Fatah alle Versuche, eine nachhaltige Verwaltung für die Bevölkerung aufzubauen. Ungeduld und Verzweiflung würden immer größer und äußerten sich zwangsläufig in Gewalt, so Amira Hass. All das spiele der israelischen Regierung in die Karten und trage dazu bei, dass die radikalen Kräfte „das Narrativ des Antisemitismus weiter nutzen, um jegliche Kritik an der Besatzung im Keim zu ersticken“, so Amira Hass.
In der Geisterstadt
Wie schwierig die Lage für die Palästinenser ist, zeigt sich vor allem in den so genannten C-Gebieten. Sie gehören zwar zum Westjordanland, werden aber vom israelischen Militär kontrolliert. Hebron, die Stadt im zentralen Süden der Westbank, ist in diesem Zusammenhang ein ganz besonderes Politikum: Als die UNESCO 2017 Hebron ins Weltkulturerbe aufnahm, verkündeten die USA und Israel daraufhin ihren Austritt aus der Kulturorganisation der Vereinten Nationen – wegen „anhaltender anti-israelischer Tendenzen“. Nirgendwo leben Juden und Palästinenser so eng beieinander wie in Hebron. Doch seit 1997 ist die Stadt geteilt, in die palästinensische Zone H1 und die jüdische H2. Für Palästinenser und Juden gelten in der H2-Zone unterschiedliche Regeln. Die Israelis unterliegen dem israelischen Zivilrecht, die Palästinenser der Administrativverwaltung – und damit dem Militärrecht und den Regeln der Besatzungsmacht. Die Siedler sehen sich als Pioniere.
Yehuda Shaul weiß, was sie denken. Als Offizier war er in Hebron stationiert. Der exklusive Auftrag: 650 Soldaten der IDF schützen 850 Siedler, die sich – getragen von der Mission Hebron „zurückzuerobern“ – in festungsartigen Anlagen inmitten einer palästinensischen Stadt mit gut 200.000 Bewohnern eingerichtet haben. Möglich wird das auch dadurch, dass die Soldaten die Palästinenser in Atem halten, mit Durchsuchungen, Festnahmen und Schikanen aller Art. „Seit der zweiten Intifada im September 2000 hat es bis heute keine Unterbrechung gegeben, nicht mal eine Sekunde. Jeder Palästinenser soll jederzeit spüren, dass wir ihm im Nacken sitzen – überall und immer.“
Wo in Hebrons jüdischem Teil H2 noch palästinensische Familien leben, haben sie ihre Fenster vergittert, um sich vor Steinwürfen der Siedler zu schützen. Als Hebron geteilt wurde, lebten noch rund 35.000 Palästinenser in der H2-Zone. Zehn Jahre später hatten schon über 40 Prozent der Muslime die Gegend verlassen. Hunderte Wohnungen wurden geräumt, fast alle Märkte geschlossen. H2, der historische Teil Hebrons, ist heute eine Geisterstadt – mit Wachtürmen der Armee, mit Beton-Blockaden, Mauern, zugeschweißten Türen. Manche Straßen sind laut Militärjargon „steril“ – also komplett abgeriegelt: als Puffer für jüdische Siedlungen. Andere Straßen, auf denen sich die Siedler frei bewegen dürfen, sind für Palästinenser gesperrt. Sie können nur vom Fenster aus beobachten, wie eine jüdische Schülergruppe über die berühmte Shuhada Road spaziert, während die Lehrer sie mit Maschinengewehren bewachen. Auf all diese Weisen, sagt Yehuda Shaul, würden Fakten geschaffen: „Die Besatzung basiert nicht auf den großen Siedlungsprojekten. Es sind Tausende und Abertausende kleine Dinge, die hier im Westjordanland jede Sekunde passieren. Wenn also jemand hebräische Straßenschilder mitten in Hebron aufstellt, hat das schon eine Bedeutung!“
Wer als Palästinenser in H2 lebt und nach H1 will, muss zu Fuß durch einen Checkpoint mit schwer bewaffneten, meist sehr jungen israelischen Soldaten. Erst jenseits dieser Kontrolle sei Palästina, da beginne das Leben, sagt Issa Amro von der palästinensischen Organisation Youth Against Settlements. Auf dieser Seite der Mauern werde er nicht respektiert: „Sie sehen uns nicht als Menschen. Ein Siedler hat mich vorhin erst bespuckt und als Terrorist beleidigt. Das ist kein Umgang mit Menschen.“ Unzählige Male wurde Issa Amro festgenommen, verhört, auch gefoltert. Trotz allem setzt er sich für gewaltfreien Widerstand gegen die Besatzer ein. Traurig macht ihn, dass er viele junge Palästinenser nicht mehr erreicht. Dass sie zu den Waffen greifen, weil sie verzweifeln. „Wenn sich die Internationale Gemeinschaft nicht einschaltet, dann wird es noch mehr Siedlungen geben, und dann werden wir irgendwann den Punkt erreichen, an dem einfach keine Lösung mehr möglich ist.“
Besatzungskritik unter Druck
In Hebron ist die alltägliche Gewalt greifbar und immer wieder wird scharf geschossen – wie im Fall des israelischen Feldwebels Elor Azaria. Er hatte im März 2016 einen schon verletzt am Boden liegenden palästinensischen Messer-Angreifer per Kopfschuss getötet. Azaria gilt vielen als Held, wurde wegen Totschlags nur zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Yehuda Shaul hingegen gilt nicht als Held: 2004 hatte er mit anderen Ex-Soldaten die Organisation „Breaking the Silence“ gegründet. Darum geht es ihm bis heute: Das Schweigen über die Besatzungsrealität zu brechen und der israelischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Deswegen führt er immer wieder vor allem junge Israelis nach und durch Hebron – obwohl es für ihn immer auch eine Art Spießrutenlauf ist. „Hau ab!“, schreit ein wütender alter Siedler ihm ins Gesicht. Jugendliche stellen sich ihm in den Weg und beleidigen ihn als „Schwein“ und „Hurensohn“.
Die Anfeindungen vor Ort haben ihre Entsprechung in der konservativen israelischen Regierung. So will Ajelet Schaked, Israels Justizministerin von der nationalreligiösen Siedler-Partei Jüdisches Heim, von der Kritik an der Besatzung nichts hören: „Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht das eigentliche Problem im Nahen und Mittleren Osten – der Status quo ist die beste Option für alle.“ Diese Haltung steht hinter der zunehmenden Behinderung und Gängelung von siedlungskritischen Nichtregierungsorganisationen wie Breaking the Silence, Physicians for Human Rights oder B’ Tselem. Immer häufiger beklagen diese Organisationen und zahlreiche linksliberale Medien eine massive Einschränkung ihres Handlungsspielraumes durch immer neue staatliche Vorgaben.
Landnahme schreitet voran
Auch in Susiya fühlen sich die Palästinenser von Siedlungen umzingelt. Susiya ist eines der vielen kleinen Beduinendörfer in „Area C“. Rund 45 Familien, 350 Menschen, leben hier seit vielen Generationen – in Bretterverschlägen und Zelten, denen Plastikplanen als Dächer dienen; gesichert mit Seilen, Autoreifen und Felsbrocken. Bauern züchten Ziegen und Schafe, erzeugen den traditionellen salzigen Käse, ernten ihre Obstbäume. Wasser für den täglichen Bedarf müssen sie hier über solarbetriebene Pumpen aus dem Boden zapfen, die mit der Hilfe von medico international errichtet wurden. Für Mensch und Tier reicht das Wasser selten. Die israelische Wassergesellschaft hat zwar Leitungen in dem Gebiet gelegt. Die beliefern aber nur die Siedler. Wenn es nach israelischen Behörden geht, soll Susiya ohnehin bald verschwinden. „An Orten wie diesen wird entschieden, wohin die Reise geht“, erklärt Yehuda Shaul. „Hier sind fast 20 Beduinendörfer von der kompletten Zerstörung bedroht. Es geht um riesige Landflächen. Wenn Susiya fällt, dann fallen die gesamten südlichen Hebronberge an Israel. Dann wird diese gesamte Region für Siedlungen und Vorposten geräumt werden.“
Es gibt Räumungs- und Abrissbefehle, die Planierraupen der israelischen Militärverwaltung können jederzeit anrücken. „Jüdische Siedler versperren uns palästinensischen Bauern den Weg, wenn wir unsere Ziegen auf die Weide treiben“, berichtet Nasr Al Nawajje, Sprecher der Familien von Susiya. „Sie bedrohen, sie bespucken uns, sie werfen Steine, zerstören Weiden und Obstbäume.“ Mit einem Glas Tee in der Hand sitzt er in seinem Zelt auf einem Teppich, zeigt Videos von Übergriffen, die er mit seinem Handy gefilmt hat. Ruhe findet Nasr nicht. Ständig klingelt sein Telefon. Die Anwälte in Tel Aviv halten ihn wegen der Räumungsklagen auf dem Laufenden. „Was ich fast noch schlimmer finde als die ständige Angst vor der Zerstörung unseres Dorfes: Dass sie dann andere Familien enteignen, damit wir dann dort auf ihrem Land wohnen. Sie zetteln Streit zwischen uns an und zerstören unsere Gesellschaft.“
Israel ist längst hier
Während der Fahrt zurück geht am Horizont langsam die Sonne unter. Der tiefblaue Himmel wird pastellrot, legt eine friedliche Stimmung über die sanft geschwungene Silhouette der Hebronberge. Da hinten, hinter der Grünen Linie, ist Israel. Aber Israel ist längst hier. Die Landschaft der Hebronberge wird zerschnitten von asphaltierten Zufahrtsstraßen, von Siedlungen, Outposts und Kasernen der IDF. 50 Jahre habe Israel es geschafft, fast fünf Millionen Palästinenser zu kontrollieren, sagt Yehuda Shaul. Weitere 50 Jahre sei diese Situation nicht zu halten. „Wenn die Regierung weiterhin auch nur einem einzigen Siedler erlaubt, sich hier niederzulassen, wird es nicht aufhören. Aber sie könnte es stoppen. Sie müsste es nur wollen. Alles andere sind Märchen.“ Und deswegen macht er, allen Anfeindungen zum Trotz, immer weiter.
„Gerade wer Israel liebt, muss sich engagieren. Denn die gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Folgen von 50 Jahren Besatzung sind dramatisch, auch für die Besatzungsmacht und die Demokratie in Israel.“ Sogar Israels Staatspräsident Reuven Rivlin muss heute feststellen: „Es ist Zeit, einzugestehen, dass unsere Gesellschaft krank ist.“ „Was ist Israel?“, fragt sich Yehuda Shaul. „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Was bedeutet es, heute Jude zu sein? Das sind die Themen, um die es eigentlich geht und um die gestritten werden muss!“
Paradoxe Situation
Israel/Palästina ist eine der größten Projektregionen von medico international. Die Zusammenarbeit mit und die Unterstützung von israelischen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Breaking the Silence, Kerem Navot oder Physicians for Human Rights Israel zählen genauso dazu wie die Förderung der Menschenrechtsarbeit in den palästinensischen Gebieten, u.a. durch Al Mezan im Gaza-Streifen. Während diese Menschenrechtsarbeit auf beiden Seiten, die immer wieder auch in Konflikt mit ihren eigenen Regierungs- und Herrschaftsstrukturen geraten, wesentlich aus Spendengeldern finanziert wird, erhält medico auch beachtliche Summen von deutschen Ministerien. Gefördert werden damit insbesondere die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten und die Verteidigung von Landrechten im Jordantal und andernorts.
Solange der israelisch-palästinensische Konflikt keine politische Lösung erfährt, und danach sieht es weiterhin nicht aus, ersetzt medico genauso wie seine palästinensischen Partner eine eigenständige palästinensische öffentliche Infrastruktur und übernimmt die humanitäre Verantwortung, die eigentlich Israel als Besatzungsmacht hätte. Eine also in vielfacher Hinsicht paradoxe Situation für eine Organisation wie medico, die sich die Überwindung von Hilfsabhängigkeit als Teil von Emanzipation zur Aufgabe gemacht hat.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!