Interview mit Mohammed al-Zayed, Amel
Mohammed al-Zayed ist Gesundheitskoordinator bei der medico-Partnerorganisation Amel. Amel betreibt im ganzen Land Gesundheitszentren, sowie sechs mobile Kliniken. Ihre Mitarbeiter:innen bieten für alle Menschen eine Basisgesundheitsversorgung an, in der Bekaa-Ebene versorgen sie zudem syrische Flüchtlinge. Imad Mustafa sprach mit Mohammed über die aktuelle humanitäre Lage.
medico: Die Angriffe der letzten Tage haben nicht nur Tote und Verletzte verursacht, sondern auch hunderttausende Menschen in die Flucht getrieben. Wie ist die Situation bei euch?
Mohammed: Die Ereignisse überschlagen sich. Am Montag war alles sehr chaotisch, die israelischen Angriffe mit 500 Toten und über 1600 Verwundeten haben die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt. Wir mussten beispielsweise unser Zentrum in Mashghara in der Bekaa-Ebene schließen. Sieben Bomben sind in nächster Umgebung eingeschlagen. Heute konnten wir das Zentrum zum Glück wieder öffnen, aber es bleibt ungewiss für wie lange. Auch weitere Zentren in der Bekaa-Ebene und im Süden des Landes wurden zwischenzeitlich geschlossen – zu unsicher war die Situation für Personal und Patient:innen.
Wer wurde bei den israelischen Angriffen vom Montag getroffen?
Die meisten Verwundeten gibt es im Süden des Landes. Das Nachbarhaus einer Kollegin von mir, die aus dem Süden kommt, wurde komplett zerstört und 15 Bewohner:innen getötet. Viele Menschen liegen noch unter den Trümmern begraben, ganze Familien sind zum Teil noch vermisst. Zivilist:innen wurden von Israel zwar aufgefordert, sich von bekannten Hizbollah-Orten zu entfernen, aber in al-Ayn, das liegt in der nordöstlichen Bekaa-Ebene, wurden bspw. sechs Zivilist:innen getötet. Einen von ihnen kannte ich persönlich. Die Raketen sind auch in Beirut eingeschlagen.
Wie läuft die Versorgung der Verwundeten ab?
Die Krankenhäuser im Süden sind total überlastet. In der Regel werden Verwundete dort nur stabilisiert, um sie zur Weiterbehandlung nach Beirut fahren zu können. Aber auch dort sind die Krankenhäuser bereits am Limit. Das Gesundheitssystem im Libanon steht ohnehin schon durch die andauernde politische und wirtschaftliche Krise stark unter Druck. Die israelischen Pager-Angriffe von letzter Woche haben ihr Übriges dazu beigetragen. 2974 Menschen wurden laut Gesundheitsministerium dabei verletzt, die meisten in der Dahiya, den südlichen Vororten Beiruts. Aber auch im Süden des Landes und in der Bekaa-Ebene gab es durch die Pager-Explosionen hunderte Verletzte. Es handelte sich dabei um einen willkürlichen Angriff auf tausende Libanes:innen – darunter viele Zivilist:innen. Beim Angriff auf Dahiye am Freitag wurde ebenfalls die Tötung von Zivilist:innen in Kauf genommen: Um einen einzigen Hisbollah-Kommandeur zu töten, wurde ein ganzer Wohnblock zerstört. 37 Zivilist:innen, darunter Kinder, wurden getötet. Die israelische Führung ordnet derzeit jegliche wertebasierte Politik einer militärischen Logik unter.
Wie ist die Versorgungslage und wo ist Unterstützung nötig?
Im Zuge der Vorbereitungen auf den Kriegsfall bekamen die Krankenhäuser in den letzten Wochen von der Weltgesundheitsorganisation, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und von Ärzte ohne Grenzen sogenannte Trauma-Kits zur Stabilisierung und Versorgung von Verletzten. Dies hat letzte Woche sehr geholfen, um den Druck auf die Krankenhäuser zu reduzieren und die Versorgung der Verwundeten zu verbessern. Ohne diese Lieferungen hätten die Vorräte der Krankenhäuser definitiv nicht ausgereicht. Es fehlen aber weiterhin wichtige Medikamente – die Versorgungslage war hier schon vor den Angriffen sehr dürftig. Es wird zentral sein, dass die Krankenhäuser und Nothelfer:innen weiter mit medizinischen Gütern versorgt werden, mit Notfallmedikamenten, Verbandszeug, Traumakits und vielem mehr. Es fehlen zudem Medikamente für Menschen auf der Flucht, die an chronischen Krankheiten leiden und in Eile aufbrechen mussten.
Was können Eure Gesundheitszentren in dieser Situation leisten?
Amel kann in den Gesundheitszentren keine Schwerverletzen versorgen, Augen- und Gesichtsverletzungen müssen in Krankenhäusern notoperiert werden. Wir helfen bei der Behandlung von leichter Verwundeten und entlasten so das Gesundheitssystem. Die Nachversorgung von Operierten können wir auch, abhängig von der Schwere der Verletzung, meist übernehmen. Wir haben keine Operationssäle oder Chirurg:innen. Allerdings helfen wir bei der Versorgung von Flüchtenden, die an chronischen und akuten Krankheiten leiden. Ihre Versorgung muss sichergestellt werden. Auch psychosoziale Unterstützung für Flüchtende bieten unsere Zentren an. In den betroffenen Dörfern im Süden helfen unsere Gesundheitsarbeiter:innen außerdem alten oder behinderten Menschen. Sie leben oft alleine und können nicht fliehen.
In Saida, südlich von Beirut, habt ihr im Juli ein neues Gesundheitszentrum eröffnet. Wie ist die Situation dort?
In Saida liegt ein staatliches Katastrophenzentrum. Dieses ist 2006 nach dem Juli-Krieg entstanden. Von dort werden die humanitären Aktivitäten in der ganzen Region koordiniert und unser Zentrum ist darin eingebunden. Zehntausende Geflüchtete sind dieser Tage in Saida angekommen. Ungefähr 5000 wurden bisher in Schulen untergebracht, andere sind bei Verwandten untergekommen. Viele sind weiter nach Beirut gefahren, da Saida eine Art Durchgangsort ist, der erste mehr oder weniger sichere Hafen auf der Flucht aus dem Süden. Auch weiter südlich, in Tyre, helfen wir bei der Versorgung der Geflüchteten in den Schulen.
Wie kommen die Gesundheitsarbeiter:innen in dieser Situation zurecht?
Aufgrund der Wirtschaftskrise gibt es zu wenig Gesundheitspersonal. Es gibt Ärzt:innen und Pfleger:innen, die seit den Pagerexplosionen in der letzten Woche das Krankenhaus nicht verlassen haben. Sie schlafen dort. Sie setzen sich unermüdlich für die Verwundeten und die Aufrechterhaltung der Versorgung ein. Wir alle sind jetzt schon erschöpft, aber wir haben in den Überlebensmodus geschaltet.
Interview mit Zafer al-Khateeb, Nashet
Zafer al-Khateeb ist Direktor der medico-Partnerorganisation Nashet im palästinensischen Flüchtlingslager Ein el-Hilweh bei Saida, südlich von Beirut. Nashet betreibt dort ein Zentrum, in dem Sozialprogramme für Jugendliche und Frauen angeboten werden. Außerhalb des Lagers betreibt eine mit Nashet verbundene Frauen-Kooperative eine Küche zur Unterstützung von Frauen, die in prekären Verhältnissen leben. Imad Mustafa sprach mit Zafer über die humanitäre Lage.
medico: Wie ist die aktuelle Situation im Ein el-Hilweh-Camp und in Saida?
Zafer: Die israelischen Flugzeuge sind permanent am Himmel. Vom Lager hören wir die Luftangriffe in der Nähe. Es gibt zwar keine militärischen Ziele in Saida, dennoch befürchten wir, dass auch hier bombardiert werden könnte.
Wie viele Geflüchtete sind nach Saida gekommen?
Weil im Krieg von 2006 die Verbindungsstraße und die Brücken zwischen Saida und Beirut bereits am ersten Tag bombardiert worden sind, ist Saida heute mehr eine Transitstadt für die Flüchtenden als im damaligen Krieg. Viele sind zwar über Nacht hiergeblieben, aber die Meisten versuchen weiter nach Beirut und sogar bis nach Tripoli zu kommen, weg vom Krieg. Für diejenigen, die hierbleiben, wurden bisher 15 Schulen in Notunterkünfte umgewandelt.
Wer ist nach Saida gekommen und wer kümmert sich um die Geflüchteten?
Es ist offensichtlich, dass hauptsächlich arme Menschen nach Saida geflohen sind, die kaum etwas dabeihaben. Darunter sind Libanes:innen, Palästinenser:innen und syrische Geflüchtete, die im Süden Zuflucht gefunden hatten. Im Laufe des Montags haben sich viele Freiwillige gemeldet, die in den neu geschaffenen Notunterkünften helfen. Wir betreuen eine dieser Notunterkünfte in einer Schule und versorgen die Geflüchteten mit Essen. Wir können mit unserer Küchen-Kooperative „Zuwaditna“ mehrere warme Mahlzeiten pro Tag und pro Person anbieten. Die ersten Tage sind immer etwas chaotisch, bis sich alles eingespielt hat. Es geht deshalb jetzt vor allem darum, die Grundbedürfnisse der Menschen zu stillen.
Was bedeutet das konkret?
Das hängt von der Finanzierung ab. Wenn genug Geld da ist, können wir 500-600 Mahlzeiten am Tag anbieten. Wir brauchen dringend mehr Unterstützung, weil wir davon ausgehen müssen, dass der Krieg noch lange dauern kann und die Binnenvertriebenen wahrscheinlich für mehrere Monate nicht in ihre Dörfer und Städte zurückkehren können.
Du glaubst also an keine schnelle politische Lösung?
Nein. Die israelische Regierung hat deutlich gemacht, dass das Ziel dieses Krieges die Rückkehr der eigenen Geflüchteten in den Norden Israels ist und dass der Beschuss aus dem Libanon aufhört. Dies wird nur dann passieren, wenn der Krieg gegen Gaza beendet wird oder die Hizbollah sich auf eine politische Lösung einlässt, d.h. einer Waffenstillstandsvereinbarung zustimmt. Beides halte ich kurz- bis mittelfristig für unrealistisch.
Wie wirkt sich der Krieg auf eure alltägliche Arbeit aus?
Bis Montag haben wir im Lager unsere Arbeit mit den palästinensischen Jugendlichen fortgesetzt. Auch die Dachgärtenprojekte laufen normal weiter. Erst seit gestern haben wir die Jugendlichen in unser Notfallprogramm integriert, damit sie uns helfen können. Bis jetzt war das Lager kein militärisches Ziel, aber wir können nichts ausschließen. Deswegen haben wir einige Aktivitäten mit den jüngeren Kindern vorsichtshalber abgesagt.
medico unterstützt die Nothilfe von Amel und Nashet. Wir bitten Sie dafür um ihre Solidarität in Form einer Spende für die Menschen im Libanon.