Was Europa wert ist, zeigt sich da, wo es aufhört: in Marokko. Von Navid Kermani
Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani wurde gebeten, anlässlich des 50. Jahrestages der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters am 14. Oktober dieses Jahres die Festrede zu halten. Das Thema war: Europa. Um darüber zu sprechen, reiste der Schriftsteller dorthin, wo Europa beginnt: Nach Tanger und in die spanische Enklave Ceuta, an jene schmale Stelle im Mittelmeer, die im Jahre 711 nach Christi Muslime unter Führung von Tarik Ibn Ziyad auf Schiffen in Richtung Spanien überquerten und die seither Meerenge von Gibraltar (nach „Dschebel al Tarik”) genannt wird. Für seine Recherchen am Schengen-Rand konnte Navid Kermani auch die Kontakte des europaweiten antirassistischen Frassanito-Netzwerks nutzen. medico freundschaftlich verbunden, setzen sich dessen Aktivisten nicht nur in Tanger, Ceuta und Tarifa (Spanien) für die Rechte der Flüchtlinge ein.
Heinrich Mann hat einmal behauptet, dass das Gemeinschaftsgefühl der Europäer eine Erfindung der Dichter sei. Damit mag er übertrieben haben, und dennoch ist auffällig, wie entschieden sich während der vergangenen zweihundert Jahre gerade die Literaten für Europa ausgesprochen haben. Den Politikern waren sie Jahrzehnte voraus. Als Victor Hugo 1851 vor der französischen Nationalversammlung für eine Union der demokratisch verfassten europäischen Länder warb, fand sich nicht ein einziger Abgeordneter, der ihn ernst genommen hätte. Hugos Rede ging im Protest und Hohngelächter seiner Kollegen unter.
Noch 1932 schrieb Zweig, dass Europa „endlich wieder einen der Höhepunkte europäischer Humanität“ erreicht habe. Zweig übersah die Stärke der nationalistischen Gegenkräfte keineswegs, „die Macht der kleinen, kurzdenkenden Interessen, die den großen notwendigen Ideen entgegenwirken“, wie er es nannte. Niemals sei „die Absonderung von Staat zu Staat in Europa größer, vehementer, bewusster, organisierter als heute.“
Zweig machte sich keine Illusionen über das Kräfteverhältnis zwischen nationalen Partikularinteressen und der übernationalen europäischen Idee. Sein Glaube an Europa erwuchs nicht aus der Analyse der politischen Gegenwart, sondern aus der Verzweiflung über sie. Sein Plädoyer für Europa war 1932 nicht realistisch, sondern messianisch. Zweig glaubte, wie er selbst schrieb, „an Europa wie an ein Evangelium“. Eine wahrhafte Überzeugung aber bedürfe nicht der Bestätigung durch die Wirklichkeit, um sich richtig und wahr zu wissen. „Und so kann es auch heute schon niemandem verwehrt sein, sich selbst einen Heimatbrief als Europäer zu schreiben, sich Bürger dieses noch nicht vorhandenen Staates Europa zu nennen und, trotz den heute noch bestehenden Grenzen, unsere vielfältige Welt von innen her brüderlich als eine Einheit zu empfinden.“
1934 musste Stefan Zweig aus Österreich fliehen. Am 23. Februar 1942 brachte er sich im brasilianischen Petrópolis um, in der Nähe von Rio de Janeiro. Heute ist Europa eine Realität. So utopisch Zweig sich selbst vorkam, hat er doch Recht behalten, hat er gesiegt über jene, die ihn in den Tod zwangen. Stefan Zweig hat gesiegt, und mit ihm Heine, Nietzsche, Benjamin, die Gebrüder Mann, Hesse, Hoffmansthal, Tucholsky, Döblin, um nur einige der deutschsprachigen Schriftsteller anzuführen, die für ihren Einsatz für Europa von ihrer eigenen Zeit bestenfalls verlacht, fast immer vertrieben und schlimmstenfalls umgebracht worden sind.
Die Freiheit und Freizügigkeit, an der wir heute teilhaben, ist nicht selbstverständlich, weder mit Blick auf die europäische Geschichte noch mit Blick auf unsere gegenwärtige Welt. Wir leben in Staaten, in denen wir wählen können - in meinem Fall zwischen Schröder und Merkel, mein Gott, ja, keiner von beiden ist der Inbegriff der europäischen Aufklärung, aber es ist eine Wahl. Als ich mich kürzlich am Telefon über meine künftige Bundeskanzlerin echauffierte, sagte mir mein Cousin in Iran: Hör mal, wir nehmen deine Merkel, schick sie uns rüber, und den Schröder gleich mit. Dafür bekommt ihr unsere Herrschaften. Nicht einmal in den Vereinigten Staaten könnte ich mehr sagen, dass ich sicher wäre. Hunderte, wenn nicht Tausende junger Iraner oder Araber sind nach dem 11. September 2001 festgenommen und an einen unbekannten Ort verschleppt worden, ohne Anklage, ohne jeden Kontakt zu Anwälten oder ihrer Familie, für Monate oder sogar Jahre. Von einem solchen Rechtsalltag ist Europa auch nach allen neuen Sicherheitsgesetzen noch weit entfernt.
Wie für so viele jüdische Intellektuelle seiner Zeit war Europa für Zweig mehr als nur ein Projekt oder eine großartige Idee. Es war eine Lebensnotwendigkeit. Als Jude fand er keinen Platz in den europäischen Nationalismen. Aufgehen konnte er nur in einer transnationalen Humanität, die durch Werte geeint ist, durch einen Prozess der Säkularisation, nicht durch eine Ethnie, Sprache oder Religion. Auch heute findet man den größten Enthusiasmus für Europa dort, wo die Existenz in Europa nicht als selbstverständlich empfunden wird, in Osteuropa, auf dem Balkan oder in der Türkei, unter Juden oder Muslimen. Wer wissen will, wie viel dieses überbürokratisierte, apathische, satte, unbewegliche, entscheidungsschwache Gebilde namens Europäische Union wert ist, muss dorthin fahren, wo es aufhört.
Selbstmordattentäter
Ich bin zu denen gegangen, die alles aufgegeben haben, nur um nach Europa zu gelangen: zu den Flüchtlingen an den Toren der Europäischen Union. Ich möchte von dieser Reise erzählen und auch von den Büchern, die ich im Gepäck hatte. Neben Stefan Zweig war ein weiterer Autor aus Österreich dabei: Josef Roth.
Es gibt ein frühes Buch von Roth, das Europa zwischen den beiden Weltkriegen beschreibt, eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, so dass ihre Bewohner sich unversehens an immer neuen Orten finden, immer wieder neu flüchten, sich in immer neuen Konstellationen wieder finden. Ich meine seinen Roman „Hotel Savoy“ aus dem Jahr 1929. Die prunkvolle Fassade des Hotels, das dem Roman seinen Namen gegeben hat, zeugt noch von der Vorkriegsepoche. Im Inneren beherbergt es eine bunte Schar aufgelöster Existenzen, die sich im Provisorischen eingerichtet haben: Millionäre, Bankrotteure, Devisenschieber und Tänzerinnen.
Das Hotel Savoy gehört keiner fernen Epoche an. Es liegt heute in Tanger, 30 Kilometer südlich von Tarifa. Es heißt nicht Hotel Savoy, sondern Pension de la Paix, Pension Andalus, Pension Fuentes, Pension Sevilla, Pension Hoffnung. Die Hotel Savoys, die dort dutzendfach in der Altstadt zu besichtigen sind, haben keine schöne Fassade mehr. Früher war das anders, früher, als Paul Bowles noch in Tanger lebte. In seinen Romanen schrieb Bowles über westliche Menschen, die ihrer Zivilisation müde geworden sind, und vor ihrem Leben ohne Inhalt nach Afrika fliehen. Heute werden die Pensionen Tangers von Menschen bewohnt, die jubeln würden über ein westliches Leben ohne Inhalt – wenn es nur ein Leben wäre. Sie lungern in den Teehäusern herum, in ihren Zimmern, am Hafen – und warten. Vor dem Hotel Sevilla kam ich mit sechs Gästen ins Gespräch, kaum zwanzig Jahre alt der jüngste, vielleicht vierzig der älteste. Was sie in Europa wollen, fragte ich in die Runde. Arbeit, natürlich, ein normales Leben, mehr nicht. Dass man ein bisschen Sicherheit hat, nicht jeden Tag von neuem kämpfen muss ums Überleben, eine Chance bekommt, eine Familie zu gründen oder die Freundin wenigstens mal ausführen könne. Auto und Urlaub gehören nicht zu dem normalen Leben, von dem sie träumen; wichtiger ist ihnen, dass das Geld reichen wird, um der Familie von Zeit zu Zeit etwas zu überweisen. Demokratie? Sie kichern. Au Mann, ja, das wäre eine super Sache, und sie schauen mich an, als hätte ich Sie nach einer Reise auf den Mars gefragt. Vorerst wären sie schon mit einer Krankenversicherung zufrieden. Um Geld zu verdienen, würden sie alles tun, rufen sie und werden zum ersten Mal etwas lauter, alles, Müllabfuhr, putzen, ernten, Hauptsache weg von hier, weg von dem Friedhof, in dem sie lebendig verrotten, wie einer von den Männern sagt.
Ob einer von ihnen bereits versucht habe, mit dem Boot nach Europa zu kommen, frage ich. Zweimal war ich schon drüben, sagt der erste und schaut in die Runde. Dreimal, sagt der nächste, einmal, viermal, und so weiter. Irgendwo setzen sie nachts über, werden von der spanischen Polizei auf hoher See oder am Strand geschnappt und nach Marokko zurückgebracht.
Viele werden sich an die Bilder der maroden Flüchtlingsfrachter erinnern, an die 911 Passagiere, die am 17. Februar 2001 am südfranzösischen Strand Boulouris gelandet sind, oder das Totenschiff, das im Oktober 2003 von den italienischen Behörden an die Küste Lampedusas gezogen wurde: Alle Passagiere waren verdurstet. Kaum bekannt ist, dass inzwischen über achtzig Prozent der Flüchtlinge mit kleinen Schlauchbooten nach Europa übersetzen. Wenn ihre Leichen an die europäischen Küsten gespült werden, ist das höchstens eine Meldung für die Lokalpresse des Küstenorts. Geht man davon aus, dass nur jede dritte Leiche gefunden und registriert wird, sind allein im Umkreis der Meerenge von Gibraltar in den letzten fünfzehn Jahren dreizehn- bis fünfzehntausend Flüchtlinge gestorben. Die Meerenge ist damit das größte Massengrab Europas.
Die Marokkaner kennen die Gefahren der Überfahrt genau, schließlich haben sie bereits auf den Booten gesessen. Und wenn sie umkommen? „Dann ist es eben so“, sagt einer. „Wir sind keine Selbstmörder“, ergänzt der zweite. „Es gibt Leute, die setzen im Herbst oder im Winter über. Das ist Selbstmord. Wir versuchen, die Dinge realistisch zu sehen. Wir kennen das Risiko genau. Wenn wir ins Boot steigen, muss die Chance, dass wir durchkommen, groß genug sein im Verhältnis zu dem Risiko.“ „Aber den Tod kalkuliert ihr schon ein?“ fragte ich. „Gut, wir kalkulieren den Tod mit ein, aber der ist auch nicht schlimmer als das Leben hier.“ Die übrigen Männer nicken. Wir schweigen eine Weile. Als sie sich wieder zu mir umdrehen, sagt einer der Männer grinsend: „Das sind eben amaliyyât istischhâdiya, was wir tun, Selbstmordattentate. Die Europäer denken doch, dass alle Araber Selbstmordattentäter sind. Ja, sie haben recht, wir sind alle hier Selbstmordattentäter. Das Paradies, für das wir unser Leben lassen, heißt Schengen.“
Vor einigen Jahren ergab eine Umfrage unter marokkanischen Oberschülern, dass achtzig Prozent der Jugendlichen nach Europa auswandern möchten. Achtzig Prozent. Überall wird gefragt: Warum hassen sie uns? Ich glaube, jeder, der einmal ein arabisches Land besucht hat, kann darüber nur lächeln. Achtzig Prozent der marokkanischen Jugendlichen wollen nach Europa. Für eine Kultur, die mit dem Westen im Krieg sein soll, sind achtzig Prozent ein bisschen viel. Falls sie Europa hassen sollten, dann nicht wegen seiner Werte und Errungenschaften, wegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern weil dieses Europa sie einfach nicht haben will. Es lässt diese jungen Menschen lieber jede Sommernacht im Mittelmeer ersaufen, als ihnen Zutritt zu gewähren zum Paradies, das Schengen heißt.
Warten auf Godot
In meinem Hotel, das über dem Hafen lag, hörte ich jede Nacht die Hunde der marokkanischen Grenzpolizei, die den Kindern auflauerten. Jeden Tag spielen sich an Europas Grenzen und den gegenüberliegenden Küsten die gleichen dramatischen Szenen ab wie vor sechzig Jahren: klapprige Boote, die an einer abgelegenen Stelle ins Meer stechen, beladen mit jungen Männern, Familien, schwangeren Frauen, Kindern. Boote, die kentern, Flüchtlinge, die auf hoher See treiben, bis sie verdursten oder erfrieren. Wir kennen all das. Die europäische Literatur hat solche Szenen vielfach beschrieben. Fast alle Motive in Josef Roths „Hotel Savoy“ finden sich heute in den Pensionen von Tanger wieder, die Suche nach Gelegenheitsjobs, das Warten auf einen Transfer, die Hoffnung auf Ausweispapiere, die Scham zu verelenden, das Verpfänden noch der letzten Habseligkeiten, die Versuchung, seine Seele oder seinen Körper zu verkaufen, der Tod im Hotelbett, weil die Medikamente unbezahlbar waren.
Ich weiß schon, man wird sagen, man dürfe nicht vergleichen. Ich vergleiche nicht die Ursachen. Ich vergleiche die Folgen. Ein Flüchtling, der ertrinkt, ist ein Flüchtling, der ertrinkt. Er muss nicht wegen seiner Rasse oder seiner politischen Gesinnung wegen verfolgt worden sein, um Gründe genug gehabt zu haben, sein Leben zu riskieren, nur um nach Europa zu entkommen. Wer hungrig ist und ein Stück Brot will, ist kein Schmarotzer und schon gar nicht kriminell. Er klagt sein Menschenrecht auf Leben ein. Er gibt dem einfachsten, unmittelbarsten Impuls eines jeden Menschen nach. Wir verhindern jeden Tag, dass Menschen überleben.
Bis in diese Tage versuchen Hunderte Schwarzafrikaner mit selbstgebauten Leitern die Grenzabsperrungen der spanischen Enklave Ceuta in Marokko zu überwinden. Ein paar Flüchtlinge hatten es geschafft, dutzende Flüchtlinge blieben schwer verletzt auf der einen oder anderen Seite der Grenze liegen. Ich erreichte Ceuta nach dem ersten Sturm und sah ein paar hundert Meter vor dem Grenzzaun am Wegrand marokkanische Soldaten und zwischen ihnen eine Gruppe von vielleicht 20, 25 Schwarzafrikanern, die dicht zusammengedrängt auf dem Boden saßen. Sie froren. Es war dichter Nebel, und die meisten trugen nicht mehr als eine kurze Hose und ein T-Shirt. Jeder der Anwesenden weiß, was nun geschieht. Die Schwarzen werden für ein paar Tage interniert und dann an der Grenze zu Algerien ausgesetzt, mitten in der Wüste. Die Schwarzen wissen es, die Soldaten wissen es, sogar der Taxifahrer, mit dem ich auf der Weiterfahrt über die „armen Hunde“ spreche, weiß es. Selbst wenn Europa auf sie schießt: Sie werden wiederkommen.
Die Grenzanlagen um Ceuta erinnern jetzt schon an die frühere innerdeutsche Grenze: zwei Stacheldrahtzäune, drei und sechs Meter hoch, dazwischen eine Straße, auf der die Jeeps der Guardia Civil patrouillieren, Wachtürme natürlich, Videokameras, Nachtsichtgeräte. Die Schwarzen wissen genau, dass sie nicht unbemerkt über die Grenzen kommen. Sie versuchen, die Grenzzäune mit soviel Menschen gleichzeitig zu stürmen, dass sie jede Grenzpolizei überfordern. Wenn 500 Leute mit selbstgebauten Leitern auf den Grenzzaun losstürmen, kommen 50 durch – das ist das Kalkül. Ein paar sterben jedes Mal, bei jedem dieser Überfälle, die übrigen werden in die Wüste zwischen Marokko und Algerien deportiert, um noch auf dem Absatz umzukehren und wieder die Tore Europas einzurennen. Wer das Blut an den Stacheldrahtzäunen gesehen hat, wird lebenslang zusammenzucken, wenn er das Wort „Wirtschaftsasyl“ hört.
In Tanger habe ich mit vielen Schwarzen gesprochen. Man trifft sie nicht mehr in den Hotels und kaum noch in den Gassen. Seit die Europäische Union die Zusammenarbeit mit Marokko intensiviert hat, geht die marokkanische Polizei gegen die illegalen Einwanderer vor. Wer ohne Papiere aufgegriffen wird, wird in die Wüste deportiert. Immerhin konnte Europa durchsetzen, dass die Pensionen in Tanger so gut wie keine Schwarzafrikaner mehr aufnehmen. Sie leben jetzt vor allem in Lagern außerhalb der Stadt und vor den spanischen Enklaven, im Wald, ohne jede Versorgung, ohne sanitäre Einrichtungen, unter Zelten aus Plastikfolie oder unter freiem Himmel. Viele andere Schwarze sind in den Vorstädten oder in der Altstadt von Tanger untergetaucht, in Zimmern, in denen sie zu viert, zu acht, zu zwanzigst hocken, ohne Strom und mit Löchern statt Toiletten. Ich saß bei Osman, Stephen, Osahan und Caesar. Osman zeigte mir das Heft, in dem er die Stationen seiner Odyssee aufgeschrieben hatte, vor allem die Wochen in der Wüste, nachdem die Marokkaner ihn deportiert hatten. Jeder von ihnen war mindestens einmal in die Wüste deportiert worden. Es klang fast so, als gehöre es nun einmal zu ihrem Beruf, von Zeit zu Zeit auf einem LKW in die Wüste gefahren und mitten im Nirgendwo von der Ladefläche getrieben zu werden.
Die meisten lebten schon zwei, drei Jahre in Marokko. Früher, in den Pensionen, sei es erträglicher gewesen, sagen sie. Jetzt warten sie tagaus, tagein auf ihren Decken, hören afrikanische Musik aus einem Kassettenrekorder, wenn sie Batterien haben, und schauen ins Dunkel. Ab und zu zünden sie eine Kerze an. Keiner der europäischen Touristen, die jeden Tag an dem Haus vorbeikommen, dürfte ahnen, dass hinter der Lehmmauer im ersten Stock Beckett gespielt wird, allerdings als Aufführung ohne Pause, ohne Ende und ohne Licht: „Warten auf Godot“. Niemand dürfte geahnt haben: Godot, das sind wir selbst.
Eine Idee verteidigen
Ein früherer Innenminister Hollands sprach angesichts von Pfarrern, die Flüchtlingen Kirchenasyl gewähren, wörtlich von einem „Exzess der Nächstenliebe“. Wir haben vergessen, dass Vertreibung und Flucht zu den identitätsstiftenden Motiven von Judentum, Christentum und Islam gehören. Die islamische Zeitrechnung beginnt mit der Flucht Mohammeds aus Mekka. Nach der Scharia, der religiösen Ordnung des frühen Islams, ist das Asyl eine feste Institution. Die islamischen Rechtsgelehrten legten bereits im 8., 9. Jahrhundert den Mindeststandard genau fest, mit dem jedem Menschen, der mittellos in eine Stadt kommt, Aufnahme gewährt werden muss. Auch in der Bibel wird von Anfang an geflüchtet. Adam und Eva fliehen aus dem Paradies. Kain flüchtet vor der Rache, Abraham und Sara flüchten vor dem Hunger nach Ägypten. Abrahams Zweitfrau Hagar flüchtet, weil sie diskriminiert wird, in die Wüste. Jakob flüchtet aus Ägypten aus Angst vor seinen Brüdern. Moses ist ein politischer Flüchtling, David ebenso. Auch Elia flieht. Josef und Maria fliehen mit dem Jesuskind, um es vor dem Tod zu bewahren. Man stelle sich vor, sie würden heute einem europäischen Grenzpolizisten erzählen, dass sie durch einen Traum vor einem drohenden Blutbad gewarnt worden seien. Europas Innenminister könnten beruhigt sein. Kein Grenzpolizist würde es wagen, sich eines „Exzesses der Nächstenliebe“ verdächtig zu machen. Er wäre sofort seinen Job los.
Europa ist ein wunderbares Land – für Europäer. Erst wenn Europa menschlich ist zu denen, die nicht zu Europa gehören, ist es „das übernationale Reich des Humanismus“, an das Stefan Zweig glaubte wie an ein Evangelium. Die europäische Idee einer säkularen, transnationalen, multireligiösen und multiethnischen Willensgemeinschaft lässt sich nicht relativieren und kennt keine festgefügten geographischen Grenzen. Sie kann nicht einfach in Tarifa oder Ceuta, an den Grenzen Polens oder Bulgariens aufhören. Diese Idee zu verteidigen heißt, sich für die Ausbreitung Europas einzusetzen, nicht für dessen Grenzen und Mauern.
Stark gekürzte Fassung. Der vollständige Text erscheint im Dezember als Buch im Ammann Verlag, Zürich.