Indien: Der freie Markt der Mildtätigkeit

19.08.2005   Lesezeit: 6 min

Nach dem Tsunami begann in den zerstörten Küstendörfern im indischen Tamil Nadu ein hektischer Wiederaufbau: Nahrungsmittel wurden verteilt, Häuser gebaut, neue Fischerboote bereitgestellt. Wie die gut gemeinte Hilfe

Kanyakumari, 11. November 2005. „Von der Dorfbevölkerung werden wir manchmal mit ‚Wanakkam Tanggacci (Hallo, kleine Schwester), hast du wieder nur Papier in deiner Tasche’ begrüßt“, sagt Panchavaram. Die indische Aktivistin berichtet mit Stolz in der Stimme, wie ihr Team die Akzeptanz der von der Flut betroffenen Bevölkerung gewinnen konnte. Panchavaram ist Mitarbeiterin in einer Studie mit dem langen und etwas umständlichen Namen „Post Tsunami-Szenario: Analyse der Auswirkungen auf sozio-, ökonomische, kulturelle, traditionelle und religiöse Strukturen”. Die Untersuchung wird entlang des 110 km langen Küstenstreifens in den südlichsten indischen Bezirken Kanyakumari und Trinuveli (Tamil Nadu) durchgeführt. Geleitet von der „Rural Education Development Society“ (REDS) und von medico unterstützt, sucht die Studie Antworten auf Fragen wie: Welche Art von Hilfe benötigen die Menschen; führt die Hilfe zu größeren Abhängigkeiten und veränderten Erwartungshaltungen; wie sehen die beteiligten Nichtregierungsorganisationen (NROs) den Wiederaufbau, und schließlich, welche eigenen Bewältigungsstrategien haben die Menschen entwickelt?Noch im Sommer, zu Beginn der Untersuchung waren Panchavaram und ihre Kolleginnen und Kollegen in den von ihnen ausgewählten 55 Dörfern nicht immer willkommen. Zu viele Hilfswerke waren in den letzten Monaten mit Fragebögen unterwegs gewesen – und nicht wiedergekommen. „Die NROs betrügen uns und stecken das Geld in die eigene Tasche.” Mehr als nur einmal hörte Panchavaram diese Sätze. Aber durch seine lokalen Kontakte konnte das REDS-Team die Dorfbewohner erreichen. Einzelne des Teams wurden zudem wiedererkannt, waren sie doch bereits am 26. Dezember, dem ersten Tag nach der Flut als Freiwillige vor Ort gewesen.

Ausschluss und Überfluss

Nachdem die Tsunami-Überlebenden vermehrt über schlechte Bedingungen in den Notunterkünften, Verteilungsungerechtigkeiten, über den Ausschluss von Dalit-Familien und die Angst der Frauen vor sexuellen Übergriffen berichtet hatten, beschloss man im REDS-Team, den Prozess des Wiederaufbaus längerfristig zu beobachten. „Globale und lokale Akteure sollten lernen, dass eine technische Zusammenarbeit nicht ausreicht. Um zu Lösungen zu kommen, muss die Rolle von lokalen Institutionen gestärkt werden“, fordert S. Alexander, der Koordinator der Studie und Direktor von REDS. Die Untersuchung wurde mit der regionalen Gandhigram Rural Universität diskutiert. In Workshops verständigte man sich über Fragen der quantitativen Datenerhebung und partizipatorische Untersuchungsmethoden. Dann sammelten das Team und die Bewohner in Einzelgesprächen, auf Diskussionen in Dorfversammlungen und Dorfparlamenten, in Schulen und Jugendclubs Informationen. Mitte des nächsten Jahres soll die Studie vorliegen. Eine in Tamil übersetzte Ausgabe wird dann in öffentlichen Versammlungen in den Dörfern von Kanyakumari und Trinuveli vorgestellt. In den beiden Bezirken wurden nach offiziellen Angaben der Regionalregierung von Tamil Nadu 53 Dörfer mit rd. 29.000 Familien (117.000 Menschen) vom Tsunami betroffen. 753 Tote wurden bestätigt. Die NROs gehen dagegen von bis zu 70 Dörfern und von etwa 7.000 Toten aus. Am schlimmsten traf die Flutwelle 24 Dörfer im Bezirk Kanyakumari, in denen es darüber hinaus zu großen Verteilungsungerechtigkeiten kam. „Jeder hat nur den Fischern geholfen. Die Dalits und all jene, die nicht unmittelbar von der Fischindustrie leben, bekamen nichts“, lautet die Erfahrung von Nithy, die für REDS die Region untersuchte. Alexander attestiert der Regionalregierung zumindest den Versuch, nachprüfbare Listen über Tote, Vermisste und Schäden aufgestellt zu haben. Im Gegensatz dazu haben die NROs ihre Hilfsgüter größtenteils wahllos und bisweilen auch „mehr als adäquat“ verteilt, wie er an einem Beispiel ausführt: „Am ersten Tag kam eine NGO und verteilte 50 kg Reis pro Familie. Am nächsten kam die zweite NGO und verteilte 75 kg Reis pro Familie, usw. Am Ende der Woche hatte die Familie dann 500 kg Reis.” Natürlich seien dann, so der REDSKoordinator, die Preise für Reis, für Matten und Geschirr – und später auch für das asbesthaltige Material, aus denen die Notunterkünfte gebaut wurden, in die Höhe geschnellt.

In den beiden Bezirken leben die meisten Fischer von Tamil Nadu. Aber nur der geschützte Kleinhafen in Chinnamuttom erlaubt es, an der oft stürmischen Küste regelmäßig zu fischen. Für viele einfache Fischer bedeutet dies, dass sie oft auf Jobs im Hafen oder bei der Reparatur von Netzen und Booten angewiesen sind. Die Fischerfamilien sind in der Mehrzahl arm und ohne Lobby und leiden unter einer vielfachen Ausbeutung durch die Geldverleiher, Großhändler, die Besitzer der großen Boote und Exporthändler.

Zwischenhändler Kirche

In den Dörfern herrscht nicht allein eine starke Elite. Es besteht zudem ein historisch gespanntes Verhältnis zwischen der christlichen Mehrheit und der hinduistischen wie muslimischen Bevölkerung. 98 Prozent sind Anhänger des römisch-katholischen Glaubens, dem Vatikan gehören rund 95 Prozent des Grund und Bodens der Region – in diesem Teil Indiens ist er die „Supermacht“.

Der Gemeindevorstand, in dem der lokale Priester, die Bootsbesitzer, Händler und Geldverleiher das Sagen haben, kontrolliert auch die Hilfe und den Wiederaufbau. Hier kann niemand unabhängig helfen. Kompensationsleistungen müssen vom lokalen Priester genehmigt werden. Die Regierung, die es faktisch – von den Notunterkünften abgesehen – versäumt hat, wirkliche Hilfe zu leisten, ist nicht in Reichweite. Protest gegen die Macht der Kirche wird immer wieder mit der Exkommunikation der Gläubigen bestraft. In dieser Situation gewinnt auch die hindu-fundamentalistische Shiv Shena (Armee Shivas) an Popularität.

In keinem der bis Ende Oktober untersuchten 41 Dörfer wurden die Communities in die Entscheidungen über den Wiederaufbau einbezogen, weder in der Planung noch in der Ausführung. Dalits, landlose Arbeiter, die indigene Gruppe der Adivasis, die muslimische und hinduistische Bevölkerungsgruppe werden bis heute systematisch übergangen und bleiben in den Schadenslisten unsichtbar. Die unkoordinierte Hilfe führt nicht nur zu sozialen Verwerfungen, sie hat auch die lokale ökonomische Struktur außer Kraft gesetzt. Wenn es in einem Dorf heute 120 motorisierte Boote und Katamarane gibt - gegenüber 35 Katamaranen vor dem Tsunami - dann wird der Wettbewerb um den schon jetzt geringeren Fang viele Familien in die weitere Verschuldung führen.

Aneignung von unten

„Moral had gone“, beschreibt Alexander die dörfliche Situation zehn Monate nach der Flutwelle. Eine passive Erwartungshaltung und die Unsicherheit vor der nächsten Katastrophe haben zugenommen, Alkoholismus und Gewalttätigkeiten gehen mit einer zunehmenden Verschuldung einher. „Wir haben nie um etwas gebeten“, sagt eine Frau in einer Diskussion mit dem REDS-Team. „Jetzt aber scheint es, dass wir alle zu Bettlern geworden sind.” Die lokalen NROs haben viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt und müssen sich zwischen den Forderungen der Dorfbevölkerung und den Anforderungen ihrer Geber, den internationalen Hilfswerken, hin- und herbewegen. Viele der lokalen Konflikte sind nur aus dieser Dynamik zu verstehen.

Doch es gibt auch Anzeichen des Protests. Dort, wo es zu massiven Fehlverteilungen gekommen ist, eignen sich die Menschen die Hilfsgüter ihren Bedürfnissen entsprechend an: So werden beispielsweise die von den Hilfsorganisationen bestellten mechanisierten Boote wieder an die Hersteller oder auf lokalen Auktionen verkauft und der „Gewinn“ unter den Familien ausgezahlt. Es kommt vor, dass die Materialien von Gruppen zurückgewiesen werden und stattdessen ein einheitlicher Geldbetrag für alle gefordert wird. Dort, wo die Betroffenen ausgeschlossen sind, formiert sich ein organisierterer Protest. So demonstrieren die Dalits, die durch die Übersalzung des Bodens ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden, vor den Büros der Bezirksverwalter, um ihre Registrierung als Tsunami-Betroffene zu fordern. Besonders die Jugendlichen an der Küste haben kaum Zukunftsperspektiven. „Wir spüren, dass sich in den Dörfern etwas regt und die Frustration unter den Jugendlichen wächst. Ich glaube”, so der REDS-Aktivist Shanmugam, „die Gewalt wird zunehmen.“


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