Interview mit Thomas Ostermeier über das Freedom Theatre Jenin und Juliano Mer Khamis

Der Platz zwischen den Stühlen ist leer

04.06.2012   Lesezeit: 5 min

Am 4. April 2011 wurde der palästinensisch- jüdische Theatermacher Juliano Mer Khamis vor dem Eingang seines Theaters ermordet. Bis heute ist die Tat nicht aufgeklärt.

Wenn der Mord an Juliano die Arbeit des Freedom Theatre Jenin beenden sollte, dann ist das nicht gelungen. Das palästinensische Theater erarbeitete sich mit „Sho Kman?“ (Was noch?) ein neues Stück, zeigte es in Jenin und ging in Deutschland im Herbst 2011 auf Tournee. Allein an der Schaubühne in Berlin wurde das Stück vier Mal gezeigt. Gemeinsam mit 13 namhaften Intendanten und Theaterschaffenden, darunter Thomas Ostermeier, rief medico parallel zur Unterstützung des Freedom Theatre auf.

Sie kannten Juliano Mer Khamis gut. Nach der Ermordung von Juliano haben Sie in Interviews immer wieder seine Arbeit erwähnt und das Entsetzen über seinen Tod deutlich gemacht. Warum sind diese Arbeiten so wichtig für Sie?

Thomas Ostermeier:

Die Arbeit von Juliano und des Freedom Theatre stellen meine eigene Arbeit infrage: Wie hohl und belanglos wirkt Theaterarbeit in Deutschland angesichts der Bedingungen, unter denen die Menschen dort arbeiten. Angefangen bei den Kleinigkeiten des alltäglichen Umgangs bis zu den ernsthaften, ja tödlichen Bedrohungen und Taten, denen das Freedom Theatre ausgesetzt ist. Und sie machen nach dem Mord an Juliano weiter. Dieses Weitermachen hat bereits eine Geschichte. In seinem Film „Arnas Kinder“ schilderte Juliano die Theaterarbeit seiner Mutter in Jenin und die Geschichte einiger der von ihr betreuten Kinder. Ein Junge hatte sich Jahre später als Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt, drei weitere waren im Widerstand gegen die israelische Armee ums Leben gekommen. Die Wirkung einer grenzüberschreitenden Arbeit, wie der von Arna, tendiert doch damit gegen Null. Trotzdem hatte sich Juliano entschlossen, das Theater-Projekt wieder aufzunehmen.

Als Sohn einer Jüdin und eines Palästinensers hoffte Juliano Mer Khamis möglicherweise sich gegen diese fatale Entwicklung stemmen zu können?

Er saß zwischen den Stühlen. Das war eine Position, die ihm Legitimation verlieh. Aber sie hat ihn vielleicht auch das Leben gekostet. Wir wissen leider noch immer nicht, wer ihn ermordet hat. Er hat einmal gesagt, hier hole man ihn nur mit einer Kugel im Kopf raus. Aber war er sich bewusst, wie groß die Gefahr wirklich war? Mich bewegt die Frage, ob es das wert war. Zugleich steht es mir nicht zu, Julianos Handlung zu beurteilen. Juliano hat etwas getan, was in künstlerischen oder akademischen Milieus von großer Gültigkeit ist. Er hat versucht, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überwinden. Er hat auf eine große Karriere in Israel, vielleicht sogar auf eine Weltkarriere verzichtet, um mit seinen Mitteln an der Front des Konfliktes zu arbeiten. Deshalb ist sein Tun über jede Kritik erhaben. Aber war es das wert, dass er sein Leben dafür verliert? Der Verlust von Juliano ist grausam und macht traurig. Das Freedom Theatre hingegen ist eine Arbeit, ein Projekt, das einen aufbauen kann.

Wir zweifelten, ob das Theater nach dem Mord weiter existieren kann. Nun setzen andere Julianos Arbeit fort und auch die Schauspieler machen weiter. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass Theater tatsächlich dazu beitragen kann, dass Menschen sich selbst und ihrer Kraft bewusst werden?

Es ist schon eine großartige Leistung dieses Projekts, wie die jungen Leute über sich selbst, die Welt und ihre Situation nachdenken. Es hätte eine soziale Einrichtung sein können oder aber eine Filmschule. Aber das Freedom Theatre erhebt für sich den Anspruch, professionelles Theater zu sein. So, wie jeder von ihnen über Theater redet und wie er Theater macht, können sie ihn auch einlösen. Kürzlich trafen die Schauspielschüler aus Jenin hier an der Schaubühne auf deutsche, polnische und französische Schauspielschüler. Bei diesem Treffen haben die Schauspielschüler aus Jenin ihre entwickelte politische Haltung dargelegt. Sie waren so überzeugend in ihrer Ablehnung von Gewalt und in ihrem Glauben an die Kraft des Theaters und von der Kunst als Waffe. Ihre Biographien machen diese Haltung umso beeindruckender. Die anderen Schauspieler haben mit ihnen erst wieder den Sinn von Theater überhaupt verstanden.

Sollte man in Deutschland nicht auch über derart widerständiges Theater nachdenken?

Für das Theater ist es nicht schlecht zu wissen, wofür und wogegen man ist. Ein repressives System führt einem vor Augen, dass es tagtäglich notwendig ist, dagegen zu kämpfen. Beim Theater in Deutschland wissen wir nicht, wofür und wogegen wir sind. Mit der Finanzkrise und mit der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus bekommen wir langsam wieder eine Ahnung davon. Aber der schöne Satz von Marx, das Sein bestimme das Bewusstsein, stimmt noch immer. Unser gesellschaftliches Sein ist doch unvergleichbar mit dem der Jeniner. Glücklicherweise.

Also keine Zukunft für politisches Theater?

Wir gehen davon aus, dass Theater in den letzten 20 Jahren nur sich selbst thematisiert hat. Gerade in den fortgeschritteneren Ästhetiken des Theaterbetriebs geht es immer mehr darum: Ich bin hier auf der Bühne, und diese ist die einzige Wirklichkeit, über die ich erzählen kann. Wir möchten jedoch das Theater zu einem Referenzrahmen machen, in dem ich eine Wirklichkeit, die außerhalb liegt, spiegele und versuche, sie modellhaft auf der Bühne nachzubilden. Das wäre der entscheidende Schritt hin zu einem politischen Theater. Dazu bedarf es zweierlei: der Fähigkeit, die komplexe Wirklichkeit da draußen zu durchdringen und des Autors, der Autorin, der/die diese Transferleistung überzeugend nachvollzieht. Und an beidem mangelt es.

Die Schauspieler des Freedom Theatre tragen die zu spiegelnde Wirklichkeit von draußen in sich, macht das politisches Theater heute aus?

Ja, genau. Sie sind eine Mischung von Rimini Protokoll und politischem Theater, weil sie Experten des Alltags sind, Experten dessen, wovon sie erzählen.


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