Im Süden von Tel Aviv steht ein schiffsähnliches Gebäude, ein Juwel der Bauhausarchitektur, die zur Weltkulturerbeliste der UNESCO zählen. Das Haus wird zurzeit saniert, doch im Erdgeschoss wimmelt es nur so von Leben: Mehr als 150 Menschen hausen in zwei unverputzten, etwa fünfzig Quadratmeter großen, kaum beleuchteten Räumen, die vollgestopft sind mit schmutzigen, abgewetzten Matratzen. Auf ihnen kauern Menschen und essen aus großen Aluminiumtöpfen. Es gibt nur eine einzige Toilette, ein Waschbecken, keine Dusche und es riecht bestialisch nach menschlichen Absonderungen. In dieser von Migranten besetzten Notunterkunft unterhalte ich mich mit einem 20-Jährigen, der sich Abraham nennt. Er flüchtete zu Fuß aus Eritrea und per Bus bis nach Ägypten. Von dort aus lief er Hunderte Kilometer zur israelischen Grenze, unterwegs wurde er von ägyptischen Soldaten schwer misshandelt. In Israel angekommen, verhaftete ihn die Armee. Später wurde er einfach vor einer Polizeistation im südlichen Beer Sheva abgesetzt. Von dort aus fand er den Weg nach Tel Aviv. Seit Mitte 2006 sind mehrere Tausend Asylbewerber nach Israel gekommen, fast alle Afrikaner, die illegal mehrere Grenzen passierten und schließlich durch die Wüste von Ägypten nach Israel kamen. Sie sind dem Grauen von Darfur entkommen, dem Elend und den Krisen in der Elfenbeinküste, in Sierra Leone oder Eritrea entflohen.
Internierung in der Negev-Wüste
Israel kannte bislang keine Flüchtlingsströme, und aktuell sind nur etwa 150 Menschen gemäß der UN-Flüchtlingskonvention anerkannt. Die anderen leben in einer legalen Grauzone. Die israelischen Gesetze schließen all jene Asylsuchenden aus, die aus "verfeindeten Staaten" kommen. Diese gelten als Sicherheitsgefahr, wie etwa die größte Gruppe der Dafur-Flüchtlinge. Anstatt sie in Rehabilitationsprogramme aufzunehmen, blieben viele dieser traumatisierten Überlebenden für Monate ohne Gerichtsverfahren und Anwälte inhaftiert. Hunderte von ihnen wurden in Militärbasen in der Negevwüste festgehalten. Als israelische und internationale Menschenrechtsorganisationen dies aufdeckten und veröffentlichten, erwiderte das Büro des Premierministers: "Auch das ist Zionismus: Wenn wir Eindringlingen erlauben, sich in Israel niederzulassen, schaden wir den Lebensgewohnheiten des Landes".
Die israelische Regierung kümmerte sich nicht um die eskalierende Situation, sprich: die überfüllten Gefängnisse und Militärlager, den rechtsfreien Raum, in dem die Flüchtlinge leben. Premier Olmert forderte bei einem Gespräch mit Ägyptens Präsidenten lediglich, dass Ägypten den Flüchtlingsstrom nach Israel unterbinden solle. Daraufhin begannen ägyptische Soldaten entlang der Wüstengrenze zu Israel auf Flüchtlinge zu schießen und töteten mehrere von ihnen.
Versorgung der Entrechteten
In die offene Klinik der "Ärzte für Menschenrechte" (PHR) im südlichen Tel Aviv kamen bis 2006 vor allem Menschen, die sich illegal in Israel aufhielten oder deren legaler Status sie trotzdem von der öffentlichen Gesundheitsversorgung ausschloss, wie z.B. "Fremdarbeiter" aus Thailand oder den Philippinen. Im Verlauf der letzten eineinhalb Jahre wurden jedoch Flüchtlinge die Hauptnutznießer und in kurzer Zeit überstieg ihre Zahl – immerhin etwa 8.000 – die vorhandenen Klinikkapazitäten. Der medico-Partner entschied daraufhin, den Gesundheitsdienst zu unterbrechen und mit einer Kampagne öffentlichen Druck auf die Regierung auszuüben, den Zugang zu Gesundheit für alle in Israel lebenden Menschen zu garantieren. Sie starteten eine Online-Kampagne. Ende März, nachdem die Klinik geschlossen war, forderte ein Blogger im Internet andere User auf, die Kampagne "Kümmert Euch um Flüchtlinge" zu unterstützen. Am Ende forderten 100 Blogger von der Regierung, ihre Politik zu überdenken und für Flüchtlinge, die häufig unter lebensbedrohlichen Krankheiten wie HIV oder Tuberkulose leiden, eine angemessene staatliche Gesundheitsversorgung. Die Vorstellung, Menschen, die gerade einem Völkermord wie in Dafur entkamen, die Hilfe zu verweigern, erregte die Gemüter in einem Land, das sein Selbstverständnis doch auch aus der Shoah herleitet. Die Internet-Kampagne fand eine praktische Entsprechung: Die Klinik war zwar geschlossen, doch die Ärzte für Menschenrechte leisteten Überstunden, indem sie – oft zusammen mit Journalisten – die Patienten in die Nothilfeabteilungen verschiedener Krankenhäuser begleiteten. Die Krankenhäuser, die bei Notfällen Patienten unabhängig von ihrem legalen Status annehmen müssen, blieben auf unbezahlten Rechnungen sitzen und erhöhten ihrerseits den Druck auf die Regierung.
Ein erster Erfolg
Nachdem der Name des Gesundheitsministers im Internet fast nur noch in diesem Zusammenhang auftauchte, kapitulierte die Regierung. Nach zwei Parlamentssitzungen wurde ein Zuschuss in Höhe von circa acht Millionen Euro genehmigt. In Kürze sollen auch die Gesetze zum Besseren geändert werden. Damit erkennt der Staat zum ersten Mal seine Verantwortung auch für das Wohl von Menschen an, die keinen legalen Status besitzen.
Die Ärzte für Menschenrechte feiern diesen Erfolg, auch wenn sie noch nicht sicher sind, dass die Regierung ihre Versprechen einhält. Seit Jahren beobachten sie – aller Friedensrhetorik zum Trotz – eine ethnozentrische Politik, die immer rigoroser wird: "Jüdische Israelis werden wohlhabender, Palästinenser ärmer; Israelis haben jede Möglichkeit, sich frei zu bewegen, Palästinenser leben in Freiluftgefängnissen; Palästinenser bekommen auf eigenem Land keine Hausbaugenehmigung, für Israelis wird Land mitten in arabischen Gebieten konfisziert; Palästinenser zahlen höhere Stromrechnungen als ihre unmittelbaren jüdischen Nachbarn", so Ran Cohen, Projektleiter der PHR für Migranten und statuslose Personen in Israel: "Die Menschen im Land und die politische Klasse haben gelernt, dass man den ‚Anderen' verdrängen, enteignen, wegsperren und neulich – siehe Gaza – auch kollektiv bestrafen kann". Das werfe Israel um Jahrzehnte zurück und erzeuge Fremdenhass auch innerhalb des Landes. Die "Migrant Worker Clinic" wird wieder öffnen.
Nachtrag: Kürzlich forderte eine Gruppe nationalistischer Knessetmitglieder eine erneute Gesetzesänderung: Flüchtlinge aus verfeindeten Ländern sollen ohne Ansehen der Person mit sieben Jahren Gefängnis bestraft werden. Sie gewannen die erste Abstimmung mit nur einer Gegenstimme. Die Kampagne "Kümmert euch um die Flüchtlinge" ist offenkundig noch nicht zu Ende.
Projektstichwort
Die Ärzte für Menschenrechte in Tel Aviv setzen darauf, dass durch das wachsende Verständnis für Dafur-Flüchtlinge die israelische Öffentlichkeit beginnt, die Angst gegenüber dem "eigentlichen" Feind, dem palästinensischen Nachbarn, zu hinterfragen. medico wird die mutigen Menschenrechtler weiter unterstützen. Wir zählen dabei auf Ihre Mithilfe. Das Spendenstichwort lautet: Israel-Palästina.