Israel und Palästina: Der verlorene Kompaß

01.11.2003   Lesezeit: 8 min

Das nichtregierungsamtliche »Genfer Abkommen« zwischen dem israelischen Friedenslager und Repräsentanten der PLO will erreicht haben, wohin die offizielle »Road Map« offenbar nicht zu führen vermag: zum Ausstieg aus dem tödlichen Zirkel von Gewalt und Gegengewalt und dem Einstieg in die Lösung aller »großen Fragen« zwischen Israel und den Palästinensern: Sicherheit, Grenzen, Siedlungen, Jerusalem, die Flüchtlinge. Für Ministerpräsident Scharon und seine nationale Koalition ist das Abkommen schlichtweg ein »historischer Fehler«. Und die Palästinenser? Der Filmemacher und Journalist Sobhi Al Zubaidi lebt in Ramallah. Im Sommer dieses Jahres hatten wir ihn bei einem Besuch in der Region als einen hellsichtigen und unabhängigen Beobachter der palästinensischen Verhältnisse kennen- und schätzen gelernt. Wir baten ihn um seine Meinung.

Am ersten Novembersonntag ging ich hier in Ramallah auf eine Diskussionsveranstaltung über das Genfer-Abkommen. Einige Unterhändler, die das Abkommen mit ausgearbeitet hatten, hatten dazu eingeladen. Auf dem Podium erkannte ich Yasir Abed Rabbo, ein früherer Minister und Mitglied des PLO-Komitees, und Nabil Qassis, ebenfalls ein Ex-Minister. Auch unter den Besuchern waren bekannte Gesichter. Ein paar Akademiker, Schriftsteller, Medienleute, einige politische Aktivisten, frühere Unterhändler, Verwaltungsangestellte, zwei oder drei Künstler und Frauenrechtlerinnen. Es war keine Diskussion zwischen politischen Fraktionen oder Institutionen. Eher wirkte es wie Ansammlung von wortgewandten Menschen, die betroffen und frustriert sind. Nicht einmal ausländische oder einheimische Medienleute waren vertreten. Man könnte es also getrost als eine lokale Angelegenheit bezeichnen. Abed Rabbo beschrieb in einer 15-minütigen Rede die Vereinbarung. Er stellte sie in einen politischen Kontext, der einerseits vom Aufstieg und der Herrschaft rechter Ideologien in Israel gekennzeichnet und dem wachsenden politischen Einfluß der Religiösen in Palästina geprägt ist. Demgegenüber stehe, so Rabbo, das Scheitern des israelischen und des palästinensischen Friedenslagers. Er befürchtete, daß die gemeinsame Initiative ohne öffentliche Unterstützung nicht überleben könne. Der erste Redner aus dem Publikum begrüßte die Initiative. Er sagte, die palästinensische demokratische Bewegung müsse wiederbelebt werden und benötige einen Adressaten und einen politischen Diskurs. Nach seinen Worten könne das Genfer Abkommen eine Art Kleid sein, das die demokratische Bewegung tragen könne. Sein einziger Einwand richtete sich gegen die Flüchtlingspassage, da sie die israelische Verantwortung für die Flüchtlinge nicht benenne. Nach ihm sprach Dr. Mamdoh al-Akir, ein Politiker, der an den Oslo-Vorverhandlungen beteiligt war. Auch er warnte vor der Ausklammerung der israelischen Verantwortung für das Flüchtlingsproblem. Dennoch wären für ihn die Road Map und das Genfer Abkommen in Teilen durchaus miteinander vereinbar. Diese Verbindungen müßten unbedingt verdeutlicht werden, um es der lokalen und internationalen Öffentlichkeit schmackhaft zu machen. Abed Rabbo stimmte ihm zu und erwähnte, daß Tony Blair einer der Politiker sei, die darauf bereits aufmerksam gemacht hätten. Auch die Franzosen hätten das getan und die Konferenz der Sozialistischen Internationale in São Paulo ebenfalls. Abed Rabbo wirkte angesichts dieser Fakten zunehmend enthusiastisch und erbaut.

Versäumte Stimmen

Zu diesem Zeitpunkt konnte man eine Stimmung in dem Raum spüren, die sich etwa so ausdrückte: »Wir müssen zusammenarbeiten. Palästinenser und Israelis sind verpflichtet diese Arbeit zu machen und nur gemeinsam wird sie gelingen.« Samih Shbib, ein Kommentator, den ich sehr gerne höre und lese, schlug vor ein »Podium« oder eine »Stimme« für diese »Koalition« des Friedens einzurichten. Während er diesen Punkt ansprach, bemerkte er nebenbei, daß der Begriff »Friedenslager« bisher nur als israelische Währung zirkuliere, nicht aber als palästinensische. »Uns ist es hier nicht gelungen ein ›Friedenslager‹ aufzubauen. Wir sollten uns fragen, was wir bislang dafür unternommen haben.« Die Sprecherin nach ihm betonte die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen allen politischen Strömungen und Mächten, um eine Art nationale Übereinkunft zu erreichen. Abed Rabbo antwortete mit einem Lächeln und einer Spur Zynismus: »Darauf, daß sich alle auf eine Sache einigen, können wir ewig warten.«

Ein Gefühl von Verzweiflung lag während dieser Diskussion im Raum. Eine existentielle Verzweiflung, die jedes Licht am Ende des Tunnels bereitwillig akzeptiert. Fast jeder, der sprach, betonte das Gefühl, daß wir am Rande des Abgrunds leben und unseren Kompaß verloren haben. Einer drückte es noch freundlich aus. Er wandte sich an Abed Rabbo (und meinte mit ihm die Führungsspitze der PLO): »Als ihr in Beirut wart, hatten wir eine Führung, als ihr in Tunis wart, ebenfalls. Aber seit ihr hier seid, haben wir keine Führung mehr.«

Who is talking to whom?

Nachdem ich die Versammlung verlassen hatte, hielt ich an einer Tankstelle. Der junge Tankwart sah müde und verschlafen aus. In meinem Kopf schwirrten noch die Stimmen der Versammlung umher, und ich fragte ihn sehr ernsthaft, so als würde ich jemanden für das Fernsehen interviewen, was er vom Genfer Abkommen halte. »Genfer- was? Ich kann schon nicht mehr mitzählen. Ist das neuer als die Road Map? Das ist alles Scheißdreck.« Plötzlich wirkte der Junge wach, nüchtern und fast einschüchternd. »Es gibt so viele Abkommen und Pläne«, setzte er fort, »und was ist damit geschehen? Warum soll dieses Ding, das sich Genfer Abkommen nennt, anders sein?«

Von der Tankstelle fuhr ich zum Supermarkt, um mir eine Zeitung zu kaufen. Wie immer blätterte ich direkt zu den Mittelseiten, wo die Kommentare veröffentlicht werden. Es gab zwei Artikel mit ins Auge springenden Überschriften gegen das Genfer Abkommen. Einer davon war von Nayif Hawatmeh, dem Chef der DFLP, der nach wie vor im Exil lebt. Der Titel lautet ungefähr: »Die wiederholte Klonung des Oslo-Abkommens«. Er verurteilte das Ganze von Grund auf und brachte es mit Oslo in Verbindung, was er – wie wir wissen – ebenfalls verurteilt hatte. Besonders betonte er, daß dieses Abkommen alle bisherigen internationalen Vereinbarungen ersetzen solle und damit die internationale Gemeinschaft aus einer Lösung ausschließe.

Hawatmehs Sicht wird von vielen Palästinensern geteilt – insbesondere denjenigen, die sich als Opposition verstehen. Sie sind gegen jede Lösung, die Kompromisse beim Rückkehrrecht oder in der Jerusalemfrage einschließt. Beide strittigen Fragen wurden seit den Oslo-Abkommen in allen Diskussionen, Verhandlungen und Formulierungen vermieden. Hawatmeh wirft erneut eine wichtige Frage auf, mit der wir Palästinenser – unter diesen Umständen oder generell – scheinbar nicht umgehen können. Sein Punkt ist sehr einfach: »Wie kann es zu einer historischen Lösung zwischen den Palästinensern und Israelis kommen, ohne daß alle Palästinenser daran beteiligt werden? Wer unter uns hat das Recht zu verhandeln, ohne ein Mandat von allen zu besitzen?« Mir scheint, daß die meisten Palästinenser die Lektion von Oslo gelernt haben. Um zu einem wirklichen Frieden mit den Israelis zu kommen, müssen wir Palästinenser Frieden untereinander haben. Wir brauchen einen nationalen Dialog. Wir müssen gefragt werden und beteiligt sein. Die palästinensische Autonomie-Behörde ist hauptsächlich eine Ein-Parteien-Regierung der Fatah. Sie hat es nicht verstanden, sich selbst zu einer Institution aller Bürger zu machen. Im Gegenteil, sie wurde mehr und mehr zu einer Einrichtung einer Partei. Zur Zeit hat die Fatah einen höheren Status als die Regierung und entscheidet anstelle der Regierung über die Besetzung der Posten. Die Regierung wird als Propaganda-Apparat der Partei mißbraucht.

Neben dem Enthusiasmus für ein Abkommen, das den Alptraum beenden könnte, muß man auch die Verdächtigungen, das Mißtrauen und die Ängste hinsichtlich der Genfer Vereinbarung zur Kenntnis nehmen und respektieren. Die verschiedenen palästinensischen Strömungen und Schichten müssen in die Ausarbeitung eines Friedensvertrages einbezogen werden, wenn er wirklich funktionieren soll. Das trifft auf die Flüchtlinge ebenso zu wie auf die palästinensischen Israelis. Auch Hamas und Jihad wie die anderen religiösen Gruppen müssen die Chance erhalten sich zu beteiligen und Verantwortung in einer politischen Größenordnung zu übernehmen.


Westliche Lügen

Gegen den Terror der Gemeinde. Arabische Frauenhäuser in Israel.

Aida Touma Suliman, Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft, ist Mitbegründerin der Women Against Violence (WAV) in Nazareth. 1993 eröffnete die Gruppe das erste arabische Frauenhaus im Nahen Osten überhaupt.

Sie sehen sich als Feministin. Ist das eine Ausnahme im Nahen Osten?

Auch im Nahen Osten gibt es Frauen, die sich ihrer Situation bewußt sind. Sie kennen die Gewalt und wissen, daß das nicht sein muß. Ungewöhnlich aber ist, daß sich Frauen aktiv zur Wehr setzen. Noch immer herrscht in unseren Gesellschaften eine sehr scharfes Rollenverständnis. Frauen, die damit brechen, zahlen einen hohen Preis. Es gibt deshalb Leute, die hassen mich wie die Pest. Sie behaupten, ich wäre von »westlichen Lügen« beeinflußt und der Feminismus würde unsere Kultur zerstören. Aber das ändert sich langsam. Heute kommen Männer in unserer Büro und müssen akzeptieren, daß ihre Geschäftspartner Frauen sind.

Ist es ein Vorteil, daß WAV in Israel arbeitet?

Natürlich ist es leichter. Wenn etwa in Jordanien ein Mann einen »Ehrenmord« an einer Frau begeht, droht ihm nur eine relativ leichte Strafe. Die israelische Zivilgesetzgebung bietet einen ganz anderen Schutz, auch wenn sie nicht für uns, sondern für die jüdische Mehrheit gemacht wurde. Als arabische Frauen haben wir dennoch sehr spezifische Schwierigkeiten, auch und gerade mit der israelischen Polizei. Während die uns gegenüber nicht zimperlich ist, reagiert sie plötzlich »kulturell sensibel«, wenn wir von unseren Männern geschlagen werden. Sie verweigert uns jede Hilfe und begründet das mit »Eigenarten der arabischen Kultur«. Die Tatsache, daß wir Palästinenserinnen sind, macht es uns besonders schwer, denn sobald wir über uns reden, halten uns die Nationalisten vor, daß sei jetzt noch nicht an der Zeit. Zuerst käme die nationale Frage.

medico international unterstützt das Halfway-Haus der WAV. Denn die Regierung Scharon hält Frauenhäuser ebenso für überflüssig, wie Roland Koch das in Hessen tut. Das bekommen auch die Women Against Violence zu spüren. Unser Spendenstichwort für sie lautet: »ISRAEL – PALÄSTINA«


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