Israel: Wider die Lüge und den Selbstbetrug

01.04.2008   Lesezeit: 8 min

Die Psychotherapeutin Ruchama Marton hat vor 20 Jahren die "Ärzte für Menschenrechte - Israel" gegründet und beharrt auf ihrem Standpunkt, dass die israelische Besatzung die entscheidende Ursache für die Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern darstellt. Von Tsafrir Cohen.

 

Exodus im Heiligen Land

Wie kann man an einem Ort und in einem Konflikt politisch handeln, der eigentlich keinen Raum für freies, selbstbestimmtes und kritisches Denken lässt, das doch dem Tun vorausgeht? Wie will man die "Themen der Emanzipation ausarbeiten und ihre Kraft bewahren", wenn das "kollektive Wir", die Bipolarität des Konfliktes alles einzuebnen droht? Solche Bedingungen für eigenes politisches Handeln kennen die israelische Psychotherapeutin Ruchama Marton und der palästinensische Arzt Moustafa Barghouti. Ihre Weigerung, sich dem politisch Opportunen zu beugen, führte vor 20 bzw. 30 Jahren zur Gründung zweier sozialmedizinischer Menschenrechtsorganisationen, mit denen medico seit vielen Jahren verbunden ist: die Pysicians for Human Rights – Israel und die Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Die "Perspektive des Auszugs, der Trennung, des Exodus", von der Toni Negri im vorangegangenen Text schreibt, findet sich in der Zusammenarbeit beider Organisationen, die seit über 15 Jahren gemeinsame mobile Kliniken in der Westbank durchführen, palästinensische Kranke zur Behandlung nach Israel holen und Menschenrechtsverstöße im gesundheitlichen Bereich in die Öffentlichkeit und vor Gericht bringen. Welche emotionale und intellektuelle Haltung dahinter steht, wird aus dem Interview mit Moustafa Barghouti und dem Porträt von Ruchama Marton deutlich.

Den warmen Schoß der Konsensgesellschaft fürchtet sie. Als Psychiaterin und Therapeutin weiß sie, dass wir alle geliebt werden wollen und uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen möchten. Doch Ruchama Marton hat sich anders entschieden: Sie hat die Einsamkeit bevorzugt. Nicht dass sie keine Freunde hätte. Wir sitzen vor einem unscheinbaren Café im wohlhabenden Stadtteil Tel Avivs. Die Nachmittagssonne ist gerade noch zu sehen, und drinnen warten einige ihrer alten Weggefährten, Uri Avneri und andere linke Aktivisten jenseits des Pensionsalters, zu denen sie sich gleich setzen wird. Sie treffen sich gern freitags am späten Nachmittag, während sich die meisten in den Häusern rundherum auf den traditionellen Familienabend vorbereiten.

Bei einer dieser Runden vor fast zwanzig Jahren sprach man davon, dass Aufrufe und Unterschriften keinen Sinn mehr machten. Damals kam es in Gaza zu Zusammenstößen ungeahnten Ausmaßes zwischen der palästinensischen Bevölkerung und der israelischen Besatzungsarmee. Verteidigungsminister Rabin befand sich gerade im Ausland und weigerte sich, für so eine Lappalie zurückzukehren: Brecht ihnen Arme und Beine, hatte er zur Niederschlagung des Aufstands empfohlen. Das brachte ihm traurige Berühmtheit ein. In der Oppositionellen-Runde im Café gab es – wie üblich – viele Vorschläge über mögliche Vorgehensweisen gegen diese Brutalität. Keiner fand die Zustimmung aller. Der Regisseur Sinai Peter hatte es schließlich satt: Anstelle der stetigen Streitereien zwischen Aktivisten solle doch jeder Einzelne Menschen aus seiner Berufssparte zusammenrufen und konkrete Aktionen planen. Ruchama tat sich daraufhin mit einigen Ärztekollegen zusammen. Sie telefonierte mit Gaza und fragte, wie sich die Situation dort entwickle. Komm und schau dir das selber an, wurde ihr entgegnet. Elf Ärzte fuhren hin und kehrten schockiert zurück. Das schmutzige Krankenhaus, in dessen Korridoren zahlreiche Familien ihre Mahlzeiten zu sich nahmen und Katzen frei herumliefen, war voller Verletzter. Israelische Soldaten hatten Rabins Vorschlag tatsächlich in die Tat umgesetzt und vielen Menschen Beine und Arme gebrochen. Außerdem gab es noch Menschen mit durch Knüppelschläge verursachten Kopfverletzungen. Die israelischen Ärzte erfuhren, dass die israelische Armee ihre palästinensischen Kollegen schikanierte und erniedrigte. Schnell war klar, dass man diesen Kollegen solidarischen Beistand leisten wollte. Die Wut über die Zustände fand so auch eine Handlungsmöglichkeit.

Wenn Ruchama heute an diese Zeit zurückdenkt, lächelt sie wehmütig. Sie waren damals unendlich schockiert gewesen. Dabei wirken diese Ereignisse vom Dezember 1987, die als der Beginn der ersten Intifada in die Geschichtsbücher eingingen, von heute aus gesehen wie Szenen aus einem Jugenderholungsheim. Damals sei die Besatzung noch verhältnismäßig "aufgeklärt" gewesen. Wer Ruchama Marton nicht kennt, könnte ihre Ironie mit Zynismus verwechseln.

Ruchama erzählt dies alles in ruhigem und analytischem Ton. Der kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie seit 20 Jahren wütend ist. Aus dieser Wut schöpft sie ihre Energie, ihre bewusste Entscheidung, sich außerhalb des israelischen "Wir" und des israelischen Konsenses zu stellen. Ruchama bezeichnet das als ihre Entscheidung für die "Einsamkeit". Vor 20 Jahren hat sie die Physicians for Human Rights - Israel gegründet. Sie ist deren Präsidentin, ein Ehrenamt. Immer hat sie als Psychoanalytikerin gearbeitet. Noch heute empfängt sie regelmäßig Patienten.

Ruchamas Sätze sind trocken und scharf: "Die sogenannte Kultur des Dialogs liegt mir fern: Sie geht davon aus, dass man mit Worten und symbolischen Akten über dem Abgrund, den die Besatzung darstellt, einfach schweben kann. Ich beteilige mich prinzipiell nicht an Dialogen, die nicht klar und für alle deutlich die Besatzung bekämpfen. Alles andere nützt nur der Besatzung, weil es die Realität schönredet." Palästinensische Freunde hat sie viele, obwohl einige mittlerweile eines natürlichen Todes gestorben sind. Zu den Freunden in Gaza ist es nicht mehr möglich, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Seit dem Hamas-Putsch im Sommer 2007 steht der Gazastreifen unter Quarantäne, doch schon seit über fünf Jahren dürfen sich Israelis und Gaza- Bewohner nicht mehr treffen. "Wir leben hier in einer Mittelmeerkultur: Beziehungen über das Telefon am Leben zu erhalten, ohne gemeinsame Mahlzeiten und Besuche zu Hause, ist kaum möglich."

Gibt es bei allem berechtigten Pessimismus, der ihre Wut nährt, nicht doch Chancen, frage ich sie: die Idee eines Palästinenserstaats wird heute auch vom israelischen Establishment und Teilen der Rechten akzeptiert? Ja, sagt Ruchama, aber sie verfolgen damit ganz andere, langfristige Ziele. Innerhalb des Besatzungssystems seien die Palästinenser jahrelang immer weiter systematisch enteignet und unterdrückt worden. Der Anschein von Staatlichkeit, den das israelische Establishment den Palästinensern nun zubilligen möchte, wolle nichts weiter als diesen Prozess legalisieren. Zugleich entledige man sich so geschickt einer drohenden palästinensischen Mehrheit, die bei anhaltender Besatzung sehr bald kommen würde. Unterdessen verbreiteten die rechten Kräfte in Israel offener denn je rassistisches Gedankengut. Ruchama hat dafür einen medizinischen Begriff: akute Machtvergiftung, die chronisch geworden ist. Auch die Mitte – inklusive Teile des Friedenslagers – belüge sich selbst über die tatsächlichen Verhältnisse in den besetzten Gebieten. So gelinge es ihr, ihre moderaten, aber tief verwurzelten Vorurteile weiter zu kultivieren. Diese nähmen die Besatzung nicht als historischen und sozioökonomischen Prozess wahr, sondern erklärten die Situation mit einzelnen, in das Bild passenden Ereignissen, bei denen der Andere die eigenen Vorurteile und Selbstgerechtigkeiten zu bestätigen scheint. Dadurch gelten die Palästinenser als ewige Friedensverweigerer, ihre Führung als gewalttätige kriminelle Banden, ihre Religion als unüberwindbares Hindernis für eine gemeinsame Zukunft. So rechtfertigt die israelische Mitte die Verdrängung des Volks, dessen Land sie beerben möchte und dem gegenüber weder Gerechtigkeit, noch Mitgefühl möglich sein können.

Als Psychotherapeutin kann sie in der Lüge und dem Selbstbetrug immerhin noch das Schamgefühl erkennen, das ihnen vorausgeht. Es gibt, das wissen die meisten tief in ihrem Inneren, einen Grund, sich zu schämen. Diese kleine, nicht mehr junge Frau mit der markanten, grau melierten Kurzhaarfrisur und der schnittigen Hornbrille setzt auch in Zukunft auf dieses Schamgefühl. Denn gerade die Physicians for Human Rights sind es, die den in Israel verbreiteten Selbstbetrug und die Schönfärberei mit ihrer Arbeit bloßstellen. Ihre mobilen Kliniken in der Westbank, ihre unausgesetzten juristischen Eingaben zugunsten palästinensischer Patienten, die öffentlich gemacht werden, halten der israelischen Gesellschaft einen unerbittlichen Spiegel vor.

 

Projektstichwort

"Während wir und unsere Partner in Ramallah noch beratschlagen, wie wir dennoch unseren Auftrag erfüllen und die Schwächsten im ohnehin verarmten Gazastreifen versorgen können, bombardiert Israel momentan den Gazastreifen unaufhörlich fort", schreibt der medico-Repräsentant für Israel-Palästina, Tsafrir Cohen in seinem Blog auf der medico-Website. Täglich kommen neue Meldungen über die sich ständig verschärfende Situation im Gaza-Streifen. Medico unterstützt die palästinensischen Kollegen vom PMRS mit dem nötigsten medizinischen Material. Die israelischen Kollegen der Physicians for Human Rights schaffen es zwischendurch, dass wenigstens die israelisch-palästinensischen Kollegen in den Gaza-Streifen dürfen, um dem PMRS Medikamente und anderes zu liefern. Gemeinsam versuchen beide, Schwerstkranke, die aufgrund des Boykotts durch Israel nicht medizinisch versorgt werden können, aus dem verschlossenen Gaza-Streifen zu bringen. Mit Ihrer Spende können Sie diese Arbeit genauso unterstützen, wie die politischen Initiativen, die wir gemeinsam mit unseren Kollegen vor Ort und internationalen NGOs gestartet haben, um dieser kriegerischen Eskalation Einhalt zu gebieten. Weitere Informationen dazu unter: www.medico.de in dem Jerusalem-Blog von Tsafrir Cohen und den aktuellen Pressemitteilungen. Das Spendenstichwort lautet: Nahost.

 


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