Israel/Palästina: Dies war der Tag

19.08.2005   Lesezeit: 6 min

Der achtzehnte August im Jahre Zweitausendfünf. Uri Avnery über die Räumung der jüdischen Siedler im Gazastreifen und die Konsequenzen für die israelische Gesellschaft

Dies war der Tag, an dem das Siedlungsunternehmen zum ersten Mal einen Rückzieher machte. Es stimmt, der Siedlungsausbau in der Westbank expandiert mit voller Geschwindigkeit. Ariel Sharon hat die kleinen Siedlungen im Gazastreifen aufgegeben, um die großen Blöcke in der Westbank zu sichern. Dennoch ist etwas Großes geschehen: Das Siedlungsgeschäft, das immer – in offener oder verdeckter Weise - vorwärts ging, immer vorwärts ging, wurde zum ersten Mal im "Lande der Vorväter" zurückversetzt.

Eine Botschaft für die Zukunft

Dies war der Tag, an dem die Botschaft der israelischen Friedensbewegung den Sieg errungen hat. Ein großer Sieg, den alle sehen können. Nun, es stimmt, nicht wir waren es, die ihn vollzogen. Er wurde von einem Mann durchgeführt, der weit entfernt von uns steht. Aber es gibt ein hebräisches Sprichwort: "Das Werk der Gerechten wird von anderen getan." Wenn ich heute zornig, zutiefst traurig und frustriert bin, dann ist es aufgrund des Preises, den wir für das monströse Unterfangen der Siedlungen haben zahlen müssen. Die tausende Getöteten, Israelis und Palästinenser, die hunderte von Milliarden Shekel, die schleichende Brutalisierung, der Aufschub des Friedens um Jahrzehnte. Ich bin zornig auf die Demagogen aller Richtungen, die die jüngsten Märsche der Törichten begannen – aus Dummheit, wegen Blindheit, Gier und Machtrausch oder reinem Zynismus. Ich bin zornig über das Leiden und die Zerstörung, die über die Palästinenser im Gazastreifen gebracht wurden, deren Land und Wasser gestohlen wurde, deren Häuser zerstört und deren Bäume ausgerissen wurden, allein um der "Sicherheit" dieser Siedlungen wegen.

Ich habe auch Mitgefühl für die Not der Bewohner von Gush Kativ, die von der Siedlerführung und allen israelischen Regierungen verführt wurden, ihr Leben dort aufzubauen - verführt, entweder durch messianische Demagogie - "Es ist Gottes Wille" - oder durch wirtschaftliche Versprechungen. Viele Leute entlegener Ortschaften im Negev, die mit Armut und Arbeitslosigkeit geschlagen waren, erlegen der Versuchung "einer Luxusvilla von Rasen umgeben". Aber der süße Traum hat sich in nichts aufgelöst, sie müssen ihr Leben neu beginnen – allerdings mit großzügigen Entschädigungen. Das Fernsehen hat uns einen großen Dienst erwiesen, als es zwischen den Szenen der Evakuierung die alten Reportagen aus der Gründungsphase der Siedlungen einblendete. Wir hörten noch einmal die Reden von Ariel Sharon, Joseph Burg, Yitzhak Rabin (ja, auch von ihm) und anderen – die ganze Litanei von Unsinn, Täuschung und Lügen.

Während der letzten Jahre war das Friedenslager von Verzweiflung, Mutlosigkeit und Depression erfasst worden. Ich wiederhole: Es gibt keinen Grund dafür. Auf die Dauer werden wir Recht behalten. Die israelische Gesellschaft hätte diese Operation nicht unterstützt und Sharon hätte sie nicht durchführen können, wenn wir nicht seit Jahren die öffentliche Meinung vorbereitet hätten, indem wir unablässig wiederholten, was keineswegs dem nationalen Konsens entsprach.

Dies war der Tag, an dem die Ideologie der Siedler in sich zusammenbrach. Wenn es einen Gott im Himmel gäbe, so kam er nicht, um sie zu retten. Der Messias kam nicht. Viele der Siedler waren sich so sicher, im letzten Augenblick werde noch ein Wunder geschehen, dass sie sich nicht die Mühe machten, ihre Sachen zu packen. Im Fernsehen sahen wir die Wohnungen, wo das Essen unberührt auf dem Tisch stand und die Familienfotos noch an der Wand hingen - Anblicke, die mich sehr an den Krieg von 1948 erinnerten.

Die Stunde der Wahrheit

All die Großtuerei und Prahlerei vom Siedlerführerpaar Wallerstein und Liebermann (die mich immer an Rosencrantz und Gildenstern, die beiden Bösewichte in Hamlet, erinnerten) zerrann. Die Massen strömten nicht auf die Straßen des Landes. Sie blieben, einschließlich der Abzugsgegner, zu Hause vor ihren Fernsehern. Die von den Rabbis versprochene und angestiftete Massenverweigerung der Soldaten, den Befehlen zu gehorchen, blieb aus. Im entscheidenden Augenblick wurde die Realität, die wir schon immer kannten, für alle deutlich: Die messianisch-nationalistische Sekte, die Führung der Siedler, ist isoliert. In ihrem Benehmen und Lebensstil sind sie der israelischen Geisteshaltung fremd. Die vielen Siedler, die man vor kurzem auf den Bildschirmen sehen konnte, alle diese Männer, die Kippas trugen, alle diese Frauen mit langen Röcken, ihren endlosen Tänzen und den ständig wiederholten zehn Slogans, wirkten so, als gehörten sie zu einer geschlossenen Sekte von einem andern Stern.

"Es sieht so aus, als wären wir nicht ein, sondern zwei Völker: ein Volk der Siedler und ein Volk, das die Siedler hasst", stöhnte einer der Rabbis während der Räumung seiner Siedlung. Genauso ist es. In der Konfrontation zwischen den Soldaten, die aus allen Schichten der Gesellschaft eingezogen werden, und den Siedlern, sind es die Soldaten, die bei dieser einzigartigen Situation das israelische Volk vertreten, während die Siedler die negativen Seiten des jüdischen Gettos verkörpern. Die nicht enden wollenden, kollektiven Weinanfälle, die peinlich genau inszenierten Szenen, die Bilder an Pogrome oder Todesmärsche wach rufen sollten, die monströse Nachahmung des erschrockenen Jungen mit den erhobenen Armen aus dem berühmten Holocaustfoto – all dies erinnerte an eine Welt, von der wir dachten, wir hätten sie bei der Gründung des Staates Israel abgeschüttelt.

In der Stunde der Wahrheit erkannten die Führer der Siedlungsräte, dass sich die israelische Gesellschaft nicht mit ihnen erhob – außer den Gangs von jungen Leuten aus den religiösen Seminaren, die sie nach Gush Kativ gesandt hatten. Aber schon vorher hatten sie die Schlacht um die öffentliche Meinung verloren, als ihr wirkliches Ziel aufgedeckt wurde: mit Gewalt ein auf dem Glauben gegründetes, messianisches und rassistisches Regime zu errichten.

Was aber am wichtigsten ist: dies war der Tag, in dem eine neue Chance liegt, Frieden für ein gequältes Land zu erreichen. Es ist eine günstige Gelegenheit, weil die israelische Demokratie einen überragenden Sieg errang; weil bewiesen wurde, dass Siedlungen aufgelöst werden können, ohne dass der Himmel zusammenstürzt; weil die Palästinenser eine Führung haben, die Frieden wünscht und weil sogar die radikalen palästinensischen Organisationen das Feuer einstellen, wenn die palästinensische Öffentlichkeit es verlangt.

Aber der Rückzug birgt eine große Gefahr in sich: Wenn wir mitten im Sprung über dem Abgrund stoppen, fallen wir hinein. Wenn wir nicht schnell mit dem palästinensischen Volk eine Übereinkunft treffen, dann wird sich der Gazastreifen tatsächlich in eine Abschussrampe für Raketen verwandeln. In den Augen der Palästinenser ist der Rückzug vor allem eine Folge des bewaffneten palästinensischen Widerstandes. Wenn wir in der nächsten Zeit keine Fortschritte bei verhandelten Abkommen machen, wird eine dritte Intifada ausbrechen, und das ganze Land droht in Flammen aufzugehen.

Wir müssen sofort mit ernsthaften Verhandlungen beginnen und klar und deutlich sagen, wann die Besatzung endet und Palästina unabhängig sein wird. Alle wichtigen Elemente einer solchen Abmachung sind längst bekannt: eine Lösung für Jerusalem entsprechend dem alten Clinton-Vorschlag (was den Arabern gehört, ist Palästina, was jüdisch ist, gehört zu Israel), Rückzug zur Grünen Linie mit einem ausgehandelten Austausch von Land, Lösung des Flüchtlingsproblems in gegenseitiger Absprache.

Dies war der Tag, der in die Geschichte eingehen wird, weil er große Hoffnung mit sich brachte. Es ist nicht der Anfang des Endes im Kampf um Frieden, aber sicher das Ende des Anfangs. Ein kleiner Schritt in Richtung Frieden – und ein Riesenschritt für den Staat Israel.


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