Von Ramona Lenz
Der 20jährige Malier Mody Boubou Coulibaly arbeitete als Bauarbeiter im Nachbarland Mauretanien. Am 9. Mai 2016 sprang er auf einer Baustelle aus dem dritten Stock und starb wenig später an den Folgen dieses Sprungs. Ein Pfahl hatte beim Aufprall auf dem Boden seine Hüften durchbohrt. Veranlasst zu dem verzweifelten Sprung hat ihn die Verfolgung durch einen Polizisten. Coulibalys Verbrechen? Er hielt sich illegal in Mauretanien auf, weil er sich die umgerechnet 85 Euro für eine Aufenthaltsgenehmigung nicht leisten konnte.
EU-Politik fördert Rassismus in Mauretanien
Mauretanien war vor rund zehn Jahren ein günstiger Ausgangspunkt für Boat-People mit dem Ziel Europa. Das ist schon lange nicht mehr so. Spanien und Frontex haben längst bewirkt, dass kein Boot mehr aus der Hafenstadt Nouadhibou nach Europa aufbricht. Die Europäer schickten sämtliche Boote zurück nach Mauretanien und sorgten dann dafür, dass die mauretanische Regierung selbst die Abschottung ihrer Grenzen gewährleistete, sowohl der Seegrenzen als auch der zuvor durchlässigen Grenzen zu den Nachbarländern Senegal und Mali.
Wo vorher die Reise von einem Land ins andere ohne jegliche Bürokratie möglich war, sind seit 2012 Aufenthaltsgenehmigungen nötig. Außerdem wirkt die Europäische Union auf lokale zivilgesellschaftliche Akteure ein, Sensibilisierungsprogramme für die Gefahren der Migration umzusetzen, damit sich niemand mehr traut, die Reise Richtung Europa fortzusetzen.
So wurde Mauretanien von einem Transitland für Migranten und Migrantinnen auf dem Weg nach Europa zu einem blockierten Land, in dem Menschen aus vielen afrikanischen Ländern festsitzen. Zunehmend sind sie mit Rassismus konfrontiert und werden von der Polizei wie Kriminelle verfolgt. „Es sind vor allem Entwicklungshilfezahlungen, mit denen die Abwehr von Migranten erkauft wurde“, erklärt Amadou M‘Bow von der medico-Partnerorganisation AMDH, einer mauretanischen Menschenrechtsorganisation.
Mauretanien hat von der EU enorme Geldsummen erhalten, wovon mehr als die Hälfte in die Sicherung der Grenzen geflossen ist: Ausbildung der Polizei, Ausstattung des Flughafens, Aufbau von Grenzschutzanlagen etc. Grenzen, die zuvor keine Bedeutung hatten, weil innerhalb Westafrikas Freizügigkeit herrschte, wurden aufgerüstet. Nutznießerin der Entwicklungshilfegelder ist also nicht die Bevölkerung, sondern die Polizei und das Militär – der ganze Repressionsapparat, der dazu dient, Mauretanien abzuschotten.
Von Nouadhibou bis Asmara
Die Abschottung der EU durch Vorverlagerung ihrer Grenzen nach Westafrika ist Teil des im Juli 2006 initiierten Rabat-Prozesses, der als Blaupause für den im November 2014 initiierten Khartoum-Prozess sowie für den EU-Türkei-Deal von 2015 betrachtet werden kann. Mit zahlreichen Aktionsplänen, Programmen und Projekten versucht die EU unter aktiver Beteiligung der Bundesregierung und der staatlichen Entwicklungshilfeagentur GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) sowie der Internationalen Organisation für Migration, Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen möglichst noch vor Erreichen der europäischen Außengrenzen aufzuhalten.
Libyen: Stabilisierung des Landes zur Stabilisierung der EU-Außengrenzen
Nachdem die Kooperation mit westafrikanischen Staaten in Sachen Grenzschutz schon recht fortgeschritten ist, wird derzeit vor allem die Zusammenarbeit mit nord- und ostafrikanischen Herkunfts- und Transitländern ausgebaut. Die kürzlichen Besuche des deutschen Außenministers in Libyen und Niger sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Nachdem Gaddafi als williger Vollstrecker der europäischen Abschottungspolitik weggefallen ist, soll nun die neue von den Vereinten Nationen installierte Einheitsregierung dafür sorgen, dass die geschätzt 200.000 Flüchtlinge im Land nicht nach Europa ausreisen. Deutschland ist bereit, zu diesem Zweck zehn Millionen Euro in einen Hilfsfonds für Libyen einzuzahlen.
Entwicklungshilfeminister Müller schwebt die Ausbildung von Polizei und der Ausbau der Küstenwache vor. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Hoffnungen, die auf die neue Regierung in Tripolis gesetzt werden, weniger auf die Stabilisierung Libyens gerichtet sind als auf die Stabilisierung der EU-Außengrenzen.
Drehkreuz Niger: Willkommenszentren zur Migrationsbekämpfung
Mehr Geld aus der EU, vor allem aus Deutschland und Frankreich, soll auch in den südlich an Libyen grenzenden Niger fließen, der inzwischen zum wichtigsten Transitland für subsaharische Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen geworden ist. Als Gegenleistung soll das Land die „illegale Migration“ über seine Nordgrenzen kontrollieren. In von der EU finanzierten und von der IOM betriebenen sogenannten „Willkommenszentren“ in der Wüstenstadt Agadez werden Flüchtlinge bereits mit anschaulichen Erlebnisberichten von Gescheiterten über Gefahren der Mittelmeerüberquerung und die schlechten Lebensbedingungen in Europa von der Weiterreise abgeschreckt.
Eritrea und Sudan: Überwachungstechnologie für Despoten
Auch mit den Regierungen von ostafrikanischen Ländern wie Eritrea oder Sudan, die sich schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben und die häufig selbst der Grund sind, warum Menschen fliehen, wird über den Aufbau eines effektiven Migrations- und Grenzmanagements verhandelt. Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, setzt die staatliche deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ ein EU-finanziertes Projekt um, mit dem Eritrea und der Sudan dabei unterstützt werden, Grenzwächterinnen und -wächter auszubilden und Aufnahmelager inklusive Hafträumen für Flüchtlingen zu errichten. Außerdem wird Überwachungstechnologie geliefert, um eine biometrische Datenbank zur Kontrolle von Flüchtlingen aufzubauen. Es ist weder auszuschließen, dass die Regierungen dieser Länder die Technologie zur Unterdrückung ihrer eigenen Zivilbevölkerung einsetzen, noch dass sie Entwicklungshilfegelder annehmen, ohne den mit verstärktem Grenzschutz noch lukrativeren Menschenhandel zu unterbinden, von dem sie selbst profitieren.
Stellungnahme der afrikanischen Zivilgesellschaft
Die medico-Partner von der Menschenrechtsorganisation AMDH aus Mauretanien und der Abgeschobenen-Selbstorganisation AME in Mali haben den Tod von Mody Boubou Coulibaly zum Anlass genommen, um gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Stellungnahme zu veröffentlichen:
„Die afrikanische Zivilgesellschaft verurteilt die Jagd auf Migrantinnen und Migranten, die sich überall auf dem afrikanischen Kontinent mit der Unterstützung der europäischen Institutionen unter dem Vorwand des Kampfes gegen ,irreguläre‘ Migration ausbreitet. … Die Europäische Union lagert schamlos und auf Kosten ihrer humanistischen Werte ihre Sicherheits- und Migrationspolitik nach Afrika aus. Die afrikanische Zivilgesellschaft fordert, dass die Kommission der Afrikanischen Union, die Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten (ECOWAS) und alle afrikanischen Staats- und Regierungschefs auf die Stimme ihrer Bevölkerungen hören und sich entschlossen in einem echten regionalen Integrationsprozess engagieren. Nur eine echte afrikanische Integration kann verhindern, dass unsere Länder dauerhaft zu Werkzeugen der europäischen Politik degradiert werden und dass mutige junge Hoffnungsträgerinnen und -träger des zukünftigen Afrika in anderen Ländern getötet werden, nur weil sie dort ihr Brot verdienen.“
Wird Entwicklungshilfe weiterhin für den vorgelagerten Schutz der EU-Außengrenzen und die Verfolgung von Migranten und Migrantinnen innerhalb Afrikas zweckentfremdet, werden Schicksale wie das von Mody Boubou Coulibaly sich weiter mehren. Was bleibt, sind Familienangehörige wie die Mutter von Coulibaly, die in einem armen malischen Dorf lebt und nun nicht nur den Tod ihres Sohnes zu betrauern hat, sondern auch auf das überlebenswichtige Geld verzichten muss, das er ihr geschickt hat.
Angesichts sinkender Flüchtlingszahlen in Deutschland bilanzierte der deutsche Innenminister Anfang April ganz richtig:.„Die von uns ergriffenen Maßnahmen wirken.“