Kampagne gegen Minen: Der Preis des Lebens

19.08.2005   Lesezeit: 10 min

**Die Mine, die Würde und der Schutz vor dem Angriff auf ein Krankenhaus. Ralf Syring arbeitete als Arzt im salvadorianischen Bürgerkrieg. Die klandestinen Kliniken, in denen er tätig war, wurden vor Übergriffen von einem Minengürtel geschützt. Jahre später baute er in Angola mit medico ein Rehabilitationsprojekt für Minenopfer auf **

Aníbal hatten wir am Vormittag operiert. Ein Projektil hatte ihm die linke Lunge durchschlagen. Zum Glück war mein Kollege Fernando nur wenige Stunden entfernt gewesen. Alleine hätte ich Aníbal nicht operieren können. Ich hatte überhaupt noch nie am offenen Thorax operiert. Fernando war knapp sieben Stunden auf den schmalen Pfaden durch die Berge von Chalatenango gegangen, um in unser Hospital im nördlichen Salvador zu gelangen. Die Nachricht hatte er von Lucio bekommen, einem unserer zuverlässigsten Boten. Lucio war elf Jahre alt. Ein Kindersoldat. Die Soldaten des Regimes hatten seine Eltern und seine Geschwister ermordet. Er hatte entkommen können und sich zu einer unserer Positionen in den Bergen durchgeschlagen. War kaum Kind mehr danach. Er wollte mithelfen.

Fernando und ich waren zusammen mit einer Helferin, die uns die Instrumente reichte, konzentriert einige Stunden bei der Arbeit gewesen. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange es gedauert hatte. Aníbal lag nun auf seinem Tapesco, einem Bettgestell aus Bambus. Die Operation war gut verlaufen. Wir hatten Hoffnung, dass Aníbal es schaffen würde. – Er hat es geschafft.

Ich saß am Rande unseres Hospitals: Wenige notdürftig errichtete Hütten aus Bambus und Gras standen unter hohen Bäumen zum Schutz gegen Einblick aus der Luft. Das gelegentliche Stöhnen der Patienten, das zu mir drang, wurde meistens durch das Zirpen der Zikaden übertönt. Ich war mit dem Wachdienst an der Reihe, der nur zwei Stunden dauerte. Dann gab ich das Gewehr weiter. Die Kolleginnen und Kollegen waren überwiegend junge Frauen und Männer aus den Dörfern der Umgebung, die eine kurze, aber intensive Ausbildung in Krankenpflege bekommen hatten. Wir hielten den Wachdienst für wichtig. Immer bestand die Gefahr, dass kleine Kommandos der Regierungsarmee ein Hospital angriffen. Und wir konnten nicht sicher sein, dass unsere wechselnden Standorte nicht auch dem Regime bekannt waren. Schließlich handelte es sich nicht um reine Militärhospitäler, vielmehr standen sie der ganzen Bevölkerung offen, die über sonst keinerlei medizinische Versorgung verfügte. Es kamen sogar Menschen aus dem benachbarten Honduras, um sich hier behandeln zu lassen.

Ich hatte keine allzu große Angst vor einem Kommando-Überfall: Um das Hospital lag ein Minengürtel. In den Dörfern der Umgebung gab es Leute, die die Wege kannten, über die man zu uns gelangen konnte. Ich ging also auf meinem nächtlichen Posten davon aus, dass mich kein Regierungssoldat überraschen würde, sondern dass es erst einmal eine Minenexplosion gäbe, die uns alle warnen würde. Erlebt habe ich eine solche Situation nicht. Erlebt habe ich einige jener gezielten Mörsergranaten-Angriffe auf unsere Hospitäler. Die kamen aus weiter Entfernung. Doch ich weiß, dass ich mich, dass wir uns durch die Minen geschützt fühlten, besonders auch mit Blick auf unsere Patienten, die ja nicht fliehen und sich nicht wehren konnten.

Von der Ampulle zum Projektil

Die Minen wurden überwiegend in unseren eigenen Werkstätten hergestellt. Wir waren alle daran beteiligt. Die Technikerinnen und Techniker der Waffenwerkstatt zogen öfter durch das von uns kontrollierte Gebiet und sammelten Material ein. Wir hatten zum Beispiel die Anweisung, die leeren Ampullen, die nach der Gabe von Injektionen übrig blieben, nicht wegzuwerfen. Sie wurden zum Herstellen von Minen verwendet. Die selbst gebauten Minen waren kleine Holzkästen. Sie enthielten außer dem kleinen Sprengsatz irgendwelches anderes Material, das nach einer Explosion zum gefährlichen Projektil wurde. So auch die Glassplitter aus den zerbrochenen Ampullen. Wir wussten alle sehr genau, was wir da taten; denn es kam vor, dass Menschen diese Minen auslösten und dann als Patienten zu uns kamen. Ich habe noch manche dieser Glassplitter-Verletzten vor Augen: die Körper über und über gesprenkelt mit kleinen Verletzungen, aus denen Blut getreten war. Der Druck der Explosion schleuderte die Splitter durch die Haut und tief in das Gewebe hinein. Ich kenne keinen Fall, in dem eine solche Mine einen Menschen getötet hätte.

Die meisten der Verletzten waren aus der Umgebung, Leute vom Land, die sich nicht an die Warnungen und Informationen über die Verminung gehalten hatten oder diese nicht kannten. Gelegentlich war einmal einer unserer Guerilleros darunter, selten ein Soldat der Regierungsarmee. Alle wurden sie dann in unseren Hospitälern behandelt. Doch bei den Verletzungen durch Glassplitter gab es nicht viele Behandlungsmöglichkeiten. Wir hatten keine Röntgengeräte und selbst wenn wir sie gehabt hätten, wären sie gegen die Glassplitterminen nutzlos gewesen. Das Glas ist nicht röntgendicht und im Gewebe nicht zu finden. Und selbstverständlich hat es auch keinen Sinn, das Gewebe nach Glassplittern zu durchsuchen.

Jahre später habe ich in Angola an der Ausbildung für Minenaufklärerinnen und -aufklärer mitgewirkt, habe mich als Vertreter von medico international für das Verbot der Landminen eingesetzt. Die Organisation begründete 1991 gemeinsam mit der Vietnam Veterans of America Foundation (VVAF) diesbezüglich eine Internationale Kampagne zum Verbot von Landminen. Als diese 1997 den Friedensnobelpreis erhielt, haben wir in Luena im Osten von Angola zusammen mit den Entminern und Minenaufklärerinnen und -aufklärern gefeiert, weil wir der Meinung waren, dass ein Teil davon auch uns zukam. Unter den Ausbildern unserer britischen Partnerorganisation Mines Advisory Group (MAG) in Luena, die ebenfalls an der Kampagne beteiligt war, waren damals auch Männer, die früher im Auftrag der britischen Königin Minen gelegt hatten. Und medico international gehörte vorher zu den Organisationen, die unter anderem die Befreiungsbewegung in El Salvador unterstützten, wissend, dass dort auch Minen eingesetzt wurden.

Methoden des Feindes

Der Befreiungskampf in El Salvador war wohl einer der letzten seines Typs. Zu diesen Befreiungskämpfen gehörten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Kämpfe um die Entkolonialisierung afrikanischer Kolonien und einige andere in Amerika. Viele von uns haben damals zwischen gerechten und ungerechten Kriegen unterschieden. Wenige von uns haben die Gelegenheit gehabt oder sie genutzt, diese Haltung zur Gerechtigkeit in der Praxis jener Kämpfe zu überprüfen. Inzwischen wissen wir – und einige von uns wissen das auch aus eigener Anschauung –, dass aus keinem dieser Kämpfe eine Gesellschaft hervorgegangen ist, die den während der Kämpfe proklamierten Zielen entspräche. Es ist dennoch nicht angemessen, im Rückblick zu behaupten, es sei falsch gewesen, diese Kämpfe zu führen. Viele derjenigen, die mit den bewaffneten Kämpfen angefangen und bis heute überlebt haben, sagen auch jetzt noch, dass sie vor der Wahl standen, sich zu unterwerfen oder sich zu wehren. Sie empfanden sich durch die Kolonialregime oder andere repressive Regierungen in ihrer Würde verletzt und versuchten, sie durch den Widerstand wiederherzustellen. Jenen alten Kämpfern bereitete der Kampf keine Freude. Sie töteten nicht, auch nicht ihre Feinde, weil ihnen das Genugtuung bereitete, sondern weil sie darin den einzigen Weg sahen, ihre eigene menschliche Würde und die ihrer Mitmenschen zu bewahren. Immer waren sie denen, gegen die sie sich erhoben, technisch zunächst unterlegen. Sie mussten daher erfinderisch sein. Dabei haben sie nur selten wirklich Neues entwickelt. Vielmehr haben sie sich oft die Methoden des Feindes angeeignet und diese gegen ihn gewandt. Dazu gehörten auch die Minen.

Ist die Mine etwas anderes in den Händen eines technisch schlecht ausgestatteten Kämpfers, der sich für die eigene Würde einsetzt, als in den Händen einer hochgerüsteten Armee zur Durchsetzung imperialer Interessen? Für das Kind, das auf die Mine tritt und sie auslöst, gibt es keinen Unterschied.

Recht und Irrtum

Die Kriege, auch jene, die mit dem Ziel einer Befreiung begannen, haben sich in ihrem Verlauf von den ursprünglichen Motiven gelöst. Es wäre sonst kaum zu erklären, dass die Siege, die Befreiungskämpferinnen und -kämpfer vielerorts errungen haben, nicht gerechtere Gesellschaften hervorgebracht haben. Zu fragen ist also, an welcher Stelle und wie die Brüche entstanden, die vom Widerstand mit dem Ziel, die eigene Würde zu bewahren, wegführten. Meine Hypothese ist, dass zumindest zwei Elemente einen Beitrag zu diesen Brüchen geleistet haben: Die Führung wurde in den Kämpfen meistens schnell von Menschen übernommen, deren Motiv keineswegs die Verletzung der eigenen Würde und der Widerstand dagegen waren. Unter ihnen waren solche, die – durchaus mit hehren Absichten – Konzepte von Freiheit und einer bestimmten Art gesellschaftlicher Entwicklung über das Leben von Menschen stellten, die in Theorie und Praxis vertraten, dass es etwas gebe, für das es sich zu sterben lohne und für das es sogar erlaubt sei, nicht nur das eigene, sondern auch das Leben anderer Menschen einzusetzen. Das war etwas anderes als der Entschluss zum Widerstand gegen die würdelose Unterwerfung. Erinnern wir uns an Kants Äußerungen zur Würde in der Metaphysik der Sitten: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.” Ein lebendiger Mensch hat kein Äquivalent, kein gleichwertiges Anderes. Ein Menschenleben kann nicht der Preis für etwas anderes sein. Die praktische Verneinung dieser Erkenntnis war der fundamentale Irrtum der Befreiungskämpfe.

Das zweite Element bezieht sich auf den Zusammenhang von Inhalten und Methoden. Es hat sich gezeigt, dass es eine Illusion ist anzunehmen, mit den Methoden eines Feindes könne man grundsätzlich andere Verhältnisse herstellen als die, die der Feind vertritt. Wir haben uns im Zusammenhang der Achtundsechziger-Bewegung oftmals gegen Machthaber gewehrt, die uns – zum Beispiel in den Universitäten – sagten: Ich stimme mit Ihnen überein, aber nicht mit Ihren Methoden. Wir haben dem die Übereinstimmung von Inhalt und Methode entgegengehalten. Im Befreiungskampf wurde die Umkehrung dieses Satzes praktiziert. Es wurde gleichsam dem Feind gesagt: Wir verwenden Ihre Methoden, aber wir stimmen nicht mit Ihren Inhalten überein. Wir haben uns damit selbst widersprochen. Nun sind dies alles theoretische Überlegungen ex posteriori. Ich glaube, dass diese notwendig sind und dass wir eine Auseinandersetzung über diese Thematik brauchen. Jedoch werden auch sie unangemessen, wenn sie zu rigiden Richtlinien gerinnen. Bei Widerstand und Kampf, auch bei dem Entschluss dazu, handelt es sich um Prozesse, in denen Menschen jeweils Entscheidungen treffen und treffen müssen. In diesen Prozessen gibt es nicht einfach die richtigen und die falschen Entschlüsse. Oft gibt es – wenn man denn die Kategorien von „richtig” und „falsch” verwenden will – nur falsche Wege, weil alle vorhandenen Möglichkeiten einem Prinzip von Menschenwürde widersprechen. Ich werde mich, wenn immer ich kann, für die Ächtung der Minen einsetzen. Dennoch glaube ich, dass ich, säße ich heute wieder am Rande unseres Hospitals in Chalatenango, weiter die Minen um uns herum als Schutz für mich und die Patientinnen und Patienten betrachten würde.

Der gekürzte Beitrag ist dem Buch „One Step Beyond - Wiederbegegnung mit der Mine” des Fotografen Lukas Einsele entnommen. Dieses Projekt einer künstlerischen Annäherung und Auseinandersetzung mit dem Thema Mine ist von medico international maßgeblich mitunterstützt worden. Das Buch ist gerade erschienen und für 29,80 Euro im Buchhandel erhältlich. Von jedem verkauften Exemplar gehen zwei Euro als Spende an medico international.


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