Von Thomas Seibert.
Sie sind an der Nordostküste Sri Lankas eingeschlossen, und das schon seit Monaten. In ihrem Rücken liegt die See, vor ihnen und um sie herum die näher rückenden, sie immer enger zusammendrängenden Frontlinien der Armee und der Rebellen. Sie harren aus, sind völlig verzweifelt, aber sie können nicht weg. Die Gegend um die kleine Küstenstadt Mullaithivu ist die letzte Bastion der tamilischen Rebellen, der Tamil Tigers. Und mit ihnen eingeschlossen sind über hunderttausend Flüchtlinge. Die Armee greift die Rebellen und die Zivilbevölkerung bei Tag und bei Nacht an, unaufhörlich wird geschossen, schlagen Granaten ein, fallen Bomben. Je kleiner der Kessel wird, in dem die Flüchtlinge gefangen sind, desto höher die "Trefferquote". Um sich zu schützen, heben die Menschen Erdlöcher aus. Während der Angriffe harren sie dort über Stunden aus, eng aneinander gepresst. Sie ernähren sich von Würmern und Wurzeln, nicht nur während des Beschusses: Seit Wochen gelangen nur gelegentlich Lebensmittel durch die Frontlinien, unter den Toten gibt es deshalb nicht nur Erschossene, Minen-, Granat- und Bombenopfer, sondern auch erste Hungertote, Anzahl steigend.
Allein und in Gruppen versuchen die verzweifelten Menschen immer wieder, dem Inferno zu entfliehen. Das gelingt nur, wenn sie an den Wachen der Rebellen vorbeikommen, die gezielt auf die Beine der Flüchtenden schießen. "Draußen" aber, jenseits der Kontrolle der Tamil Tigers, ist es kaum besser. Die Armee trennt zuerst die Männer von den Frauen und Kindern: Die Männer, das ist der Generalverdacht, sind sowieso Rebellen. Von den Frauen und Kindern gilt das allerdings auch, die Rebellen rekrutieren vom 12. Lebensjahr an, und sie fragen nicht lange, ob jemand überhaupt mitmachen will. Armee und "Sicherheitskräfte" bezeichnen ihre brutalen Verhöre als "Screening", Folter und Vergewaltigung sind inbegriffen, geschossen wird schnell und nahezu nach Belieben, die Opfer sind letztlich doch alle Tamilen, und tamilische Leben zählen nicht viel in Sri Lanka.
In den wenigen noch nicht zerstörten Gesundheitsstationen gibt es über Tage keine ärztliche Hilfe, keine Medikamente, kein Verbandszeug, oft nichts zu essen, nichts zu trinken. In den Gängen sind deshalb die Schreie derer zu hören, die noch nicht einmal mit Schmerzmitteln versorgt werden können. Ein dort helfender Pater schreibt uns geschockt, dass ihn die blutverschmierten Korridore eines Hospitals an ein Schlachthaus erinnerten. "Ich hatte das Gefühl, in eines der apokalyptischen Bilder von Bosch oder Brueghel geraten zu sein", sagte uns die Kollegin einer anderen Hilfsorganisation am Telefon. Mullaithivu haben wir beide das erste Mal wenige Wochen nach dem Tsunami gesehen. Auch damals war hier buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen. Doch unsere Partner leisteten Nothilfe, planten Wiederansiedlungsprojekte. Ich sah die Kollegin wieder, als ich den Ort das zweite Mal besuchte, anlässlich der Einweihung des Neubaus der Fischerkooperative. Natürlich sah man überall noch Spuren der Zerstörung, doch war das Leben in die Stadt zurückgekehrt, der Wiederaufbau weit vorangeschritten. Jetzt liegt alles wieder in Trümmern. Die Waffen dazu kommen aus der ganzen Welt, in seltsamer Einigkeit von den verschiedensten Absendern an die Regierung in Colombo geliefert, aus politischen Gründen und in freudiger Gewinnerwartung: aus Pakistan und Indien, aus China und den USA, aus Iran und Israel, aus Russland und der Ukraine.
Unsere Partner vor Ort machen sich gerade unsichtbar. Zu gefährlich ist eine Haltung, die sich weder mit den Militärs noch mit den Rebellen gemeinmachen will. Aber wir telefonieren, wenn es geht, um die Details und Fakten einer gemeinsamen Presseerklärung abzustimmen. Wir wollen hier sehr genau sein, der Krieg wird auch um jede einzelne Meldung geführt, beide Parteien bedienen die Nachrichtenagenturen mit ihren eigenen Versionen. Regierung und Armee führen einen "Krieg gegen den Terror", können sich auf all das berufen, was dazu weltweit in den Medien kursiert. Die Rebellen verweisen auf die jahrzehntelange Unterdrückung der tamilischen Minderheit durch den singhalesisch-buddistischen "Einheitsstaat". Wir hören auf das, was wir von unseren Partnern erfahren, von den Tsunami-Überlebenden, die vorher schon Kriegsflüchtlinge waren, die es jetzt wieder sind.
Doch Sri Lanka ist hier kaum eine Nachricht wert, gelegentlich eine kurze Meldung. Ein bisschen größer, wenn spektakuläre "Anschläge tamilischer Selbstmordattentäter" zu vermelden sind. Dafür finden sich andere Worte zu Sri Lanka, "Perle im indischen Ozean" heißt es, sogar von einem "Tropenparadies" ist die Rede. Schon Helmut Kohl liebte die berühmten Ayurveda Kuren auf der "Trauminsel". Mit der Situation in Mullaithivu hat das nichts zu tun.
Immerhin reagiert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf eine unserer Presseerklärungen, die Ministerin lässt noch am selben Tag verbreiten, dass sie, mit uns, eine sofortige Feuerpause fordert, den freien Zugang von Hilfsorganisationen, die Respektierung der Menschenrechte. Wir entschieden uns, in der tageszeitung eine ganzseitige Anzeige zu schalten. Menschen aus der tamilisch-singhalesischen Diaspora hier in Deutschland übersetzten den Anzeigentext in ihre Landessprachen und verbreiteten ihn per E-Mail und Internet. So gelangt er auch nach Sri Lanka, wird dort von Friedens- und Menschenrechtsaktivisten gelesen.
Denn für die Menschen im Norden Sri Lankas geht es ums Überleben aber auch um ihre Rechte als Menschen. Von denen muss öffentlich die Rede sein, weswegen auch vom Krieg die Rede sein muss. Denn nur in der Öffentlichkeit können Menschenrechte zu Bürgerrechten werden, zu etwas, in dem die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger zur Sprache kommt, "öffentliche Sache" wird, res publica.
Projektstichwort
Was wir tun? Die Menschenrechtsaktivisten, mit denen medico zusammenarbeitet, helfen im Verborgenen. Im Augenblick geht es um Nothilfe für die Kriegsflüchtlinge. Wir arbeiteten mit vertrauensvollen Partnern, die wir bereits bei der Tsunami-Hilfe kennenlernten. Ihre Namen können wir jetzt nicht nennen. Aber sie brauchen unsere Solidarität - und Ihre Unterstützung. Unser Spendenstichwort: Sri Lanka. Die im Text erwähnte Großanzeige finden Sie hier.