Kultur der Schamlosigkeit - Über die Zerstörung und Verteidigung von Würde

20.08.2004   Lesezeit: 6 min

I.

Das Entsetzen über die Bilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib ist groß. Schreckliche Akte von Folter und Entmenschlichung sind zu sehen, und doch liegt das Bestürzende gerade darin, dass diese Bilder überhaupt gemacht wurden. Nicht die Folter ist neu, sondern die mit dem Grinsen der Täter in alle Öffentlichkeit ausgesandte Botschaft, dass es völlig normal ist, fremde Menschen zu quälen. Brutalität als Unterhaltung von Soldaten, die wie Touristen vor Kameras posieren. Soldaten in einer Wirklichkeit, die kaum noch von der Phantasiewelt industriell gefertigter Gewaltpornos und Kriegsfilme zu unterscheiden ist.

Auch die Hildesheimer Schüler haben die Demütigungen, die sie ihrem hilflosen Opfer über Monate hinweg angetan haben, im Video festgehalten. Auch sie wurden zu Akteuren im privaten Video-Clip, von keinen Gewissensnöten geplagt. Auch für sie war es Unterhaltung, einen nicht zur eigenen Clique gehörenden Menschen systematisch zu quälen. Es ist die Kälte der post-sozialen Welt, die Ressentiments, Gewaltphantasien und die dahinter liegenden narzißtischen Selbstwertstörungen wuchern läßt. Seit der Markt bis in das Innere der Menschen vorgedrungen ist und an alles und jeden ein Preisschild geheftet hat, stehen auch Einfühlungsvermögen, Sensibilität, Liebesfähigkeit und die anderen menschlichen Eigenschaften unter Druck. Die »Deregulierung« innerer Instanzen, die Auslöschung eigener Träume und Wertvorstellungen in einer um sich greifenden »Kultur der Schamlosigkeit« ist das psychische Gegenstück zur wirtschaftlichen Globalisierung.

II.

Da nimmt es nicht wunder, dass sich in das Entsetzen über die Folterbilder auch klammheimliches, mitunter offenes Einverständnis mischt. Nicht nur in den USA, auch in Deutschland. Obwohl das Folterverbot absolut gilt und Folter zu keiner Zeit und unter keinen Umständen angewendet werden darf, ist auch hierzulande die Debatte über eine mögliche Rechtmäßigkeit von Folter in vollem Gange. Die schlimmen Äußerungen von Politikern wie Lafontaine oder Koch bilden dabei nur die Spitze des Eisberges. Geht es den populistischen Brandstiftern noch darum, sich die »Kultur der Schamlosigkeit« politisch zunutze zu machen, wollen andere mehr. Beispielsweise die beiden Bonner Juristen Jakobs und Herdegen, die sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit daran gemacht haben, die Erosion des Rechtsstaates normativ zu begründen und dabei Undenkbares zu denken, Unantastbares anzutasten.

Der Jurist Jakobs greift weit in die Geschichte der Rechtsphilosophie zurück, bemüht Rousseau und Kant und kommt über selbstgefällige Gedankengebilde, die alles, das dem westlichen Wertekanon fremd ist, als potentielle Gefahr begreifen, zum Ergebnis, dass das geltende Strafrecht in ein Bürger- und ein Feindesstrafrecht aufgegliedert werden müsse. Wer seinen Onkel umbringt, um schneller ans Erbe zu kommen, begeht zwar ein Kapitalverbrechen, bewegt sich aber innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, bestätigt diese sogar mit seiner Tat und sollte deshalb auch weiterhin als eine kompetente Person betrachtet werden. Wer dagegen nicht gewillt ist, den Kapitalismus als das Ende der Geschichte zu begreifen, und so zu einer prinzipiellen Gefahr der herrschenden Verhältnisse zu werden droht, gilt als Feind, als Terrorist, der sich selbst außerhalb der Zivilisation stellt und damit seine Personalität verwirkt. »Gefährliche Individuen« aber könnten nicht erwarten, noch als Personen behandelt zu werden. Der Staat dürfe sie nicht einmal mehr als Personen behandeln, sondern müsse ihnen, statt mit rechtsstaatliche Strafverfahren, mit präventiver Sicherheitsverwahrung, mit »gebändigtem Krieg«, eben mit einem vom Bürgerstrafrecht gesonderten Feindesstrafrecht begegnen.

Auch der Jurist Herdegen beschäftigt sich mit der Frage, wie rechtsstaatliche Grundfeste aufzuweichen seien. In einem Kommentar zum Grundgesetz schlägt er allen Ernstes vor, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu relativieren. Dazu unterscheidet Herdegen zwischen einem »Würdekern«, der weiterhin absolut gelten soll, und »einem peripheren, abwegungsoffenen Schutzbereich«, in den unter bestimmten Umständen eingegriffen werden kann. Denkbar seien solche Eingriffe etwa zur die Verfolgung »präventiver Zwecke«, wobei selbst »körperliche und seelische Eingriffe« zulässig seien. Im Klartext: weil Würde nicht mehr länger Würde ist, darf auch die Folter wieder sein; der Zweck heiligt die Mittel.

Wohlgemerkt: es sind nicht amerikanische, sondern deutsche Juristen, die zur Rechtfertigung der in aller Welt anwachsenden rechtsfreien Räume beitragen. In unseliger Tradition erfährt die »Kultur der Schamlosigkeit«, die nichts mit Kant, aber umsomehr mit Arroganz, Dummheit und pathologischen Wahngebilden zu tun hat, ihre universitären Weihen. Das politische Personal in Washington mag es gerne hören, wenn Zivilisation mit dem schonungslosen Profitstreben des Kapitalismus eins gesetzt wird; für die Hörsäle der juristischen Fakultäten, für das öffentliche Rechtsbewusstsein und das Völkerrecht bedeutet solche selbstgefällige Geschichtslosigkeit schlicht weg eine Katastrophe.

III.

Ende April 2004 veröffentliche das »Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen« (UNDP) eine aufwendig durchgeführte Studie über die »Demokratie in Lateinamerika«. Die böse Überraschung: nach Jahrzehnten autoritärer Regime, nach all den bitteren Erfahrungen von Diktatur und Folter, für die Lateinamerika lange Zeit fast schon ein Synonym gewesen ist, erklären sich heute wieder über die Hälfte aller Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner bereit, autoritäre Regime zu unterstützen, wenn diese nur die wirtschaftlichen Schwierigkeiten lösen können. So bedrückend die Ergebnisse solcher Untersuchungen sind, so beredt ihre Aussage. Zwar ist in Lateinamerika der »Electoral Democracy Index« von nahezu 0,0 in den 70 er Jahren auf heute 0,92 (Maximum 1,0) angestiegen, doch gab es im gleichen Zeitraum keinerlei Verbesserung des Pro-Kopf-Einkommens. Im Gegenteil: nirgendwo auf der Welt ist der gesellschaftliche Reichtum ungerechter verteilt als in Lateinamerika. 225 Millionen Menschen, das ist bald die Hälfte der lateinamerikanischen Bevölkerung, leben heute unterhalb der Armutsgrenze.

Entsprechend weitverbreitet ist die Enttäuschung. Ganz offenbar hat das Versprechen auf Freiheit nicht den Menschen die Freiheit gebracht, sondern nur dem internationalen Handel, den Kapitalströmen und dem Profit. Und so ist Lateinamerika trotz »Democracy Index«, trotz Präsidentenwahlen und der subtiler gewordenen Kontrolle durch internationaler Kooperationsabkommen von politischer Stabilität weit entfernt. In Chile, wo das neoliberale Wirtschaftsmodell in den 80 er Jahren sein erstes viel beachtetes Laboratorium hatte, lebt laut dem UNDP-Bericht die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Und in Nicaragua, wo die Menschen mit der Hoffnung auf das Ende des Contrakrieges die Revolution abgewählt haben, weiß man, dass das Land wieder weit am Ende der weltweiten Armutsstatistik rangiert. Nichts mehr vom einstigen Modellland der »Weltgesundheitsorganisation« (WHO), nichts mehr von der »Gefahr des guten Beispiels«, das in die Region ausstrahlen könnte.

Auf den ersten Blick scheint der 25. Jahrestag der Vertreibung Somozas nur noch von nostalgischem Interesse. Viele, gerade auch in Europa und Deutschland werden sich mit Wehmut an die Aufbruchstimmung erinnern, die 1979 in Nicaragua geherrscht hat. Der von außen aufgezwungene Krieg, die immer starrer gewordenen Revolutionskonzepte der Sandinisten und schließlich die aus Miami zurückgekehrten »Nicas« haben nicht viel vom emanzipatorischen Impuls des Umsturzes übrig gelassen. Nur wer genauer hinschaut, wird Hinweise auf die Befreiung entdecken. Dort nämlich, wo sie nicht so leicht rückgängig gemacht werden konnten: in den Vorstellungen der Menschen von einem anderen Leben in Würde und Souveränität.

Das gilt für Nicaragua, wie auch für Brasilien, Venezuela, Peru oder Argentinien. Wo die Menschen die Dinge selbst in die Hand genommen haben, wo sie noch heute mit der Entfaltung einer eigenständigen Kultur beschäftigt sind und für die Aneignung öffentlicher Räume, die Aneignung von Land und menschenwürdigen Lebensgrundlagen streiten, da lebt auch die Idee der Befreiung und das empathische Miteinander weiter. Entwicklung braucht den bewussten und initialen Akt der Aneignung, ohne den auch Freiheit nicht möglich ist. Nicht die von außen verordnete Demokratie schafft Entwicklung, sondern die Verteidigung der Menschlichkeit gegen eine fortschreitende »Kultur der Schamlosigkeit«. Das ist die Lehre von Nicaragua.

Thomas Gebauer


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