Die weltweite Aufmerksamkeit richtet sich auf die aktuelle, verheerende US-Politik im Irak. Doch nicht davon ist hier die Rede, sondern von den traumatischen Hinterlassenschaften des Saddam-Hussein-Regimes, erzählt am Beispiel des kurdischen Dorfes Koreme
Das Dorf Koreme liegt in einem Seitental des Zagrosgebirges, im Nordwesten der irakischen Provinz Dohuk. Noch im Sommer 1988 lebten hier 150 Familien. In dem fruchtbaren Tal gab es Wasser, auf den Feldern wuchsen Getreide und Gemüse. In den Obstgärten standen Apfel-, Granat- und Pflaumenbäume. Die Bewohner hielten Schafe, Ziegen, Kühe und Hühner. Vor seiner Vernichtung war Koreme ein wohlhabendes kurdisches Dorf.
Die Flucht
Seit dem Sommer 1987 wurde das Tal von Koreme immer wieder aus der Luft angegriffen. Die Dorfbewohner hörten von Granaten, die ein gelbliches Gas freisetzen würden. Im Sommer 1988 entschieden sich die Bewohner zur Flucht in Richtung der Grenze zur Türkei. Nach nur wenigen Kilometern trafen sie auf Menschen aus anderen Dörfern, die ihnen von der Wirkung der Gasangriffe erzählten. Flugzeuge hatten über ihrem Dorf gekreist. Die Menschen waren entsetzt geflohen. Zu Anfang wäre der Rauch weiß und schwarz gewesen. Dann hätte er sich gelb verfärbt und über das Tal herabgesenkt. Erst in dem Moment wäre das Gas zu riechen gewesen. Es hatte einen süßlichen Geruch, wie nach Äpfeln. Dann wurde es bitter. Augen und Haut wurden schlagartig angegriffen. Die Lungen konnten keine Luft mehr aufnehmen. Die Überlebenden versuchten, ihre brennende Haut an der Dorfquelle zu reinigen. Viele von ihnen konnten nicht mehr schlucken. Einige erblindeten binnen Stunden. Bei anderen flatterten unablässig die Muskeln, wie Insektenflügel.
Die Exekution
Die Flüchtenden verstanden den Gasangriff als Vorspiel zu etwas gänzlich Neuem. Unablässig wurden ihre Dörfer von der Artillerie beschossen. Als die Bewohner von Koreme von den Berghängen ins Tal schauten, sahen sie große Menschengruppen, die ebenfalls zu fliehen versuchten. In den folgenden Tagen trafen sie immer wieder auf andere Flüchtende, die ohne Erfolg versucht hatten, die Grenze zur Türkei zu überqueren.
Als sich Gerüchte über eine mögliche Amnestie verbreiteten, entschieden sich die Familien von Koreme zur Umkehr. In einer der letzten Augustnächte erreichten sie ihr Dorf. Beim Anblick der ersten Soldaten hoben sie sofort die Arme. Die Soldaten teilten die ca. 250 Menschen in drei Gruppen – Frauen und Kinder, alte Männer, junge und erwachsene Männer. 33 Männer unterschiedlichen Alters wurden ausgesondert. Sie mussten sich hinsetzen. Die Soldaten schritten die Reihe der in der Hocke sitzenden Männer ab. Ein Junge, der seine Schwester, ein Baby, im Arm hielt, durfte gehen. Die 33 Männer begannen zu weinen, sie flehten um ihr Leben. Unterdessen bezogen 15-20 Soldaten ihnen gegenüber Position. Aus einer Distanz von 10 Metern eröffneten sie das Feuer. Einige Männer starben sofort, Verwundete wurden mit Genickschüssen getötet. Danach verließ das Militär den Ort der Hinrichtung. Sechs Männer überlebten das Massaker, weil sie unter den Körpern der Toten unentdeckt geblieben waren. Die Leichen blieben unbegraben liegen. Einige Zeit später beschwerten sich Soldaten auf einem nahegelegenen Hügel über den Gestank. Erst da wurden die Opfer des Massakers in zwei Gruben verscharrt.
Die Lager
Die übrigen Bewohner von Koreme wurden von der Armee auf verschiedene Lager verteilt. Im Lager von Dohuk verfrachtete der irakische Geheimdienst 26 Männer aus Koreme auf Armeelastwagen. Sie wurden nie wieder gesehen. Die Frauen und Mädchen kamen in ein Lager in der Nähe von Erbil. Kurdische Ärzte, die im Winter 1988 das Lager heimlich besuchen konnten, stellten Typhus-, Gelbsucht- und Choleraepidemien fest. Es fällt schwer, die windigen Ebenen ohne Gebäude als »Lager« zu bezeichnen. Tausende von bereits geschwächten Menschen wurden hier ohne Nahrungsmittel, Wasser, sanitäre Anlagen, Gesundheitsversorgung, Decken oder Hütten zusammengepfercht. Baten sie um das Nötigste, antworteten die Soldaten oft: »Saddam hat euch hierher geschickt zum Sterben.«
In den »Anfal«-Operationen erlitten insgesamt über 4.500 Dörfer das Schicksal von Koreme. 180.000 Menschen wurden verschleppt oder ermordet. Der Unterschied zu allen vorangegangenen Grausamkeiten lag darin, dass das irakische Oberkommando die überlebenden Kurden nie wieder in ihre Siedlungsorte zurückkehren lassen wollte. Die verlassenen Dörfer wurden von Spezialkommandos in akribischer Kleinarbeit vollständig dem Erdboden gleichgemacht. In Koreme waren nach Anfal die Häuser verschwunden, die Felder und Obstgärten verbrannt. Die Wasserquellen hatte man zubetoniert. Als 1992 einige wenige Familien nach Koreme zurückkehrten, wuchsen Senfblumen und Löwenzahn dort, wo einst Häuser standen.
Die Aufarbeitung
Die Geschichte von Koreme ist eine unter Hunderten. Besonders ist sie, weil sie nach dem 2. Golfkrieg rekonstruiert werden konnte. Nach dem kurdischen Aufstand im März 1991 entstand die kurdische Schutzzone »Safe Haven«. Forensische Teams der US-amerikanischen Physicians for Human Rights begannen die Massengräber der Anfal-Toten zu öffnen. Menschenrechtler befragten die Überlebenden und versuchten aus den Dokumenten, die die irakischen Truppen nach ihrer Flucht in den Süden hinterlassen hatten, die tödlichen Befehlsketten zu rekonstruieren. Die Verbrechen sollten erfasst und die Toten ein Begräbnis in Würde erhalten. So auch in Koreme. 1992 konnten in den zwei Massengräbern 27 Skelette identifiziert und danach würdevoll auf dem alten Dorffriedhof bestattet werden.
Erst im Jahre 2003 konnten die 1988 geflüchteten Kurden ihre Dörfer in der Gegend von Mosul und Kirkuk besuchen. Auch das ist ein Ergebnis des Krieges. Unzählige Überlebende der Anfal-Operationen haben nun erstmals die Möglichkeit zu sprechen. Sie warten auf Gerechtigkeit, Anerkennung – und Entschädigung. Zum Beispiel von jenen, auch deutschen Firmen, die das technische Gerät für die Chemiewaffeneinsätze der irakischen Truppen lieferten, bei denen die Opfer im Todeskampf »wie Insekten« zuckten.
Zur Stabilisierung der Gegenwart und Zukunft Kurdistans im Irak ist die Aufarbeitung der Vergangenheit unerlässlich. Seit diesem Jahr unterstützt medico daher auch die Arbeit von Beratungsstellen für die Opfer politischer Gewalt. Wir fördern ein lokales Dokumentationsteam zur Aufzeichnung von Zeitzeugenberichten in Bild und Ton: für spätere Entschädigungsverfahren, aber auch um die Zivilgesellschaft zu stärken. Ein langer Weg angesichts der fortwährenden Gewaltverhältnisse nicht nur in Kurdistan, sondern überall im Irak. Helfen Sie uns dabei! Unser Stichwort dafür lautet »Kurdistan«.
Martin Glasenapp