Erinnern und Verarbeiten im Nachkriegs-Beirut. Wie medico mit einem neuen Partner im Libanon versucht, Abgrenzung und Stigmatisierung überwinden zu helfen. Von Martin Glasenapp
Anhaltende Konfessionalisierung, Tribalisierung, Ethnisierung und 90.000 Tote, 115.000 Verletzte, 20.000 "Verschwundene" gehören zum Erbe des fünfzehnjährigen libanesischen Bürgerkriegs. Die Opfer und Täter: Sunniten, maronitische Christen, Katholiken, Drusen, Schiiten – und Palästinenser. 800.000 Libanesen flohen ins Ausland. Doch im Alltag wird vom Bürgerkrieg kaum gesprochen, allenfalls codiert von den "Ereignissen" oder vom "Krieg der anderen": Schuld sind die Palästinenser, Syrer oder auch die Israelis. Säkulare Parteien haben bis heute keine Chance im Libanon, die alten konfessionellen Clans behielten in wechselnden Koalitionen ihre Dominanz. Jede libanesische Regierung bedurfte bislang der Zustimmung aus Damaskus. Diese Machtkonstellation, zu der auch das Verschweigen der Kriegsgreuel gehörte, hielt seit dem kalten Friedensschluss 1989 im saudischen Ta'if 15 Jahre. Bis zum Valentinstag diesen Jahres. Am 14. Februar wurde der ehemalige libanesische Premierminister Rafik Hariri im Stadtzentrum von Beirut durch eine Autobombe ermordet. Sein Tod veränderte vieles, fast alles.
Der Anschlag löste am Vorabend des 30. Jahrestages des Ausbruchs des Bürgerkrieges den "Frühling der Zedern" aus: Hunderttausende Libanesen forderten den Abzug der syrischen Armee, deren Geheimdienst sie für den Mord verantwortlich machten. Hariri war Sunnit, hatte offen den Einfluss des syrischen Regimes kritisiert und war deshalb aus der Regierung ausgestiegen. Die US-Amerikaner setzten auf ihn, den milliardenschweren Bauunternehmer und Architekten des neuen, neoliberalen Nachkriegs-Libanon. Die wochenlangen Proteste wurden nicht nur von antisyrischen Machtgruppen der Christen, Drusen und Sunniten getragen. Auch eine neue, junge Generation von Libanesen meldete sich zu Wort, die die blutigen Bürgerkriegsjahre nur als Kinder und – wenn überhaupt – aus den Erzählungen ihrer Eltern kannte. Die Folge von eineinhalb Jahrzehnten staatlich geförderter Amnesie ist, dass libanesische Schüler mehr über den Zweiten Weltkrieg lernen, als über den Krieg, der ihr eigenes Land zerstört hat. In den Schulbüchern endet der Geschichtsunterricht in den 1960er Jahren. Die Kriegsgeschichte bleibt ausgeklammert: Ginge es doch dann nicht nur um die konfessionellen Trennungen, sondern um die sozialen Ursachen der Gewalt, und müsste nicht nur über die Opfer, sondern auch über die politischen Verantwortlichen für die Verbrechen gesprochen werden.
Wider das Vergessen
Auf libanesisch heißt Versöhnung: Das Kapitel Bürgerkrieg soll endgültig abgeschlossen werden. Nachfragen sind unerwünscht. Es sind daher allein zivilgesellschaftliche Initiativen wie Umam D&R, die gegen das von oben verordnete Stillschweigen ankämpfen. "Die Erinnerung wachzurufen, ist wie ein Urteilsspruch und seine Vollstreckung", sagt ein ehemaliger Milizionär der rechtsextremen Christenmiliz Forces Libanaises in dem auf der Berlinale 2005 prämierten Film "Massaker" von Monika Borgmann und Lokman Slim. Der Film thematisiert die Ereignisse in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila aus der Sicht der Täter. Sechs Milizionäre erzählen in alptraumhaften Passagen vom Töten und Verstümmeln palästinensischer Zivilisten im Jahre 1982. Monika Borgman war es gelungen, nicht nur die Täter aufzuspüren, sondern sie auch zum Sprechen zu bringen. Lokman Slim lebte zur Zeit des Massakers nur 1 km von den Camps entfernt im schiitischen Stadtteil Harat Hraik im Süden Beiruts. Auch deshalb ist es ihm heute wichtig, nachzuspüren, was Menschen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft veranlasste, in einen förmlichen Blutrausch zu verfallen. Monika Borgman ist Journalistin, Lokman Slim, ihr Partner, ist zusätzlich Verleger und kommt aus einer notablen schiitischen Familie. "Es ist offensichtlich, dass eine Strategie der Amnesie versagen muss", sagt Slim, "ohne die Wirkung der Erinnerungsarbeit auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse überschätzen zu wollen." Beide gründeten im Sommer 2004 die libanesische Initiative Umam D&R, die sich der Aufarbeitung des Krieges verschrieben hat. Der Projektname Umam ist programmatisch: Im Arabischen bedeutet Umam "Nations", das D steht für Documentation, das R für Research. Lokman Slim stellte auch schon früher mit seinen Publikationen unbequeme Fragen: Mitte der 1990er Jahre gab er mit "Kurdnameh" ein kurdisches Magazin heraus, eine Novität im Libanon, später veröffentlichte er die arabische Erstübersetzung der Schriften Mohammed Chatamis – bevor dieser iranischer Staatspräsident wurde, wie er betont.
Grenzübertritte
Neben den Filmvorführungen ist für Umam die Arbeit mit Jugendlichen bedeutsam. Wie in dem Projekt "Confronting Memories", wo anlässlich der offiziellen Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag auch in Workshops mit Jugendlichen die Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Zentrum stand. Hier werden Begegnungen initiiert, die in der konfessionell getrennten libanesischen Gesellschaft ansonsten undenkbar wären. Außergewöhnlich ist auch der Ort der Gespräche, das Haus von Lokman Slim, eine alte Villa im schiitischen Vorort Harat Hraik. Am Eingang des Viertels, neben einem Spielplatz und unweit der Moschee, grüßt ein überdimensional großes Standbild des Ayatollah Khomeini den Besucher: Zeichen der Herrschaft der Hizbullah-Partei. Umam zeigt seine Filme bewusst hier, in der schiitischen Banlieue, und nicht in den Kinos im westlich geprägten Downtown Beirut – auch wenn dort vielleicht mehr Zuschauer zu gewinnen wären. Geht es doch auch darum, die unsichtbaren konfessionellen Grenzen zwischen den städtischen Quartieren zu durchbrechen. Viele der libanesischen Gäste der Filmvorführungen betreten dieses für sie so andere Beirut zum ersten Mal. Und sie genießen nach den Vorführungen bei einem Glas Wein den ausufernden Garten des Hauses, in den auch der lokale schiitische Geistliche regelmäßig zu Gesprächen und Diskussionen bei Umam kommt. Dass im Zuge der öffentlichen Filmabende erstmals seit fast dreißig Jahren in Harat Hraik auch alkoholische Getränke angeboten werden, ist nur den wenigsten bewusst. Gastgeber Lokman Slim weiß das. Ein Glas Rotwein in der Hand, beobachtet er zusammen mit Monika Borgman die Szenerie. Die beiden freuen sich. Nicht nur über die publizistische Resonanz auf ihre Filme und Workshops, sondern auch über diesen weiteren kulturellen Sieg über die tradierten religiösen Verbote. Ihrer Zufriedenheit ist anzumerken, wie wichtig ihnen dieser gelebte Alltagswiderstand ist.
Partner und Vernetzung medico hat in dem Verleger und der Filmemacherin gute Freunde gefunden. Wir haben die Filmabende, aber vor allem auch die Jugendworkshops mit 13.000 Euro unterstützt. In Zukunft bemühen wir uns darum, Umam mit anderen medico-Partnern in Kontakt zu bringen. So versuchen wir im Herbst die Vorführung des preisgekrönten Filmes "Schildkröten können fliegen" von Bahman Ghobadi zu ermöglichen. Ein Film über die Leidensgeschichte der irakischen Kurden, von einem iranischen Kurden am Vorabend der US-Invasion im Irak gedreht: Auch das wäre eine besondere Premiere in Beirut.
Ps.: Natürlich ist Lokman Slim wie wir der Meinung, dass den palästinensischen Flüchtlingen im Libanon die vollen Bürgerrechte zustehen. Dafür hat seiner Einschätzung nach in erster Linie die libanesische Gesellschaft die bestehenden Berufsverbote und Ausgrenzungen aufzubrechen. Aber auch die Palästinenser müssen, so gibt Slim zu bedenken, ihre verinnerlichten Barrieren, geschaffen in Jahrzehnten andauernder Diskriminierung und Lagerexistenz, überwinden und selbst den Schritt ins Offene wagen.