Libanon: Nach dem Feuer

18.08.2006   Lesezeit: 15 min

Der Küstenhighway von Beirut bis zum Litani-Fluss, kurz vor Tyros, ist auch zwei Wochen nach dem vorläufigen "Ende der Feindseligkeiten", wie die UN-Resolution 1701 den Waffenstillstand im Libanon formuliert, nur abschnittsweise befahrbar. Der dichte Verkehr schlängelt sich noch immer an den zerstörten Brücken vorbei. Staub liegt in der Luft. Bulldozer tragen die von den Luftangriffen skelettierten Stützpfeiler und tonnenschwere Betonplatten ab. Über den Litani, kurz hinter der alten Kreuzfahrerfeste Tyros, ist bislang nur eine einspurige Pontonbrücke gespannt, die allein der libanesischen Armee vorbehalten ist. Alle anderen, auch die Lastwagen der internationalen Hilfswerke, müssen sich auf einer staubigen Feldpiste über einen behelfsmäßig aufgeschütteten Damm quälen. Der Litani markiert den geographischen Beginn des Dschebel Amil, des südlibanesischen Berglandes. Ich begleite Ali Sroufor in sein Heimatdorf Aita ech Chaab, ganz im Süden, in unmittelbarer Nähe zur israelischen Grenze. Der Student der Arab University in Beirut verlor vor vier Jahren sein linkes Bein, als er in einem bewaldeten Abhang nahe seines Elternhauses auf eine versteckte israelische Landmine trat. Dank diszipliniertem Training ist dem jungen Mann die Behinderung kaum anzumerken. Nur ein leichtes Schleifen seines Beines verrät die Prothese unter der Jeans. Die palästinensisch-libanesische Kulturinitiative ARCPA, ein langjähriger medico-Partner, drehte einen Film über sein Schicksal und die Gefahren der zurückgelassenen 300.000 israelischen Minen in den libanesischen Hügeln entlang der Grenze.

Das wüste Land

Kurz hinter Tyros fahren wir landeinwärts. Hier endete im 12. Jahrhundert mit dem Fall der Festung Beaufort, deren Ruinen noch immer auf einem Bergrücken oberhalb des Litani zu sehen sind, die Herrschaft der Kreuzritter. Von Kilometer zu Kilometer wird das Ausmaß der Verheerungen der vergangenen 34 Kriegstage offensichtlicher. Immer wieder öffnet sich hinter einzelnen Kehren ein bizarres Panorama: Jene Dörfer und Ortschaften, die Israel zur Bestrafung auswählte, sind eingebettet in eine der schönsten und unberührtesten Landschaften des Libanon. Hier ist das Herzland der Hisbollah. Verkohlte Tankstellen, zertrümmerte Häuserzeilen, abgeflämmte Flecken auf den Feldern - Spuren abgefeuerter Katjuscha-Raketen. Tiefe Furchen, die das Gelände durchschneiden, zeugen von den Versuchen der israelischen Merkawa-Panzer, vermuteten Sprengfallen entlang der Straße auszuweichen. In den Ortschaften ist kaum ein Gebäude unversehrt. Manche Häuserzeilen wirken, als wären sie wie mit einem einzigen Hammerschlag zertrümmert worden. Andere Apartmentblöcke wurden von den Bombardements förmlich gespalten, weggerissene Wände öffnen den Blick in zerstörte Wohnzimmer. Am Straßenrand stehen ausgebrannte und zerquetschte Fahrzeuge. Auch viele der zwei- bis dreistöckigen Country-Häuser, die sich an den Ortsrändern zwischen den Tabakpflanzungen an kleine Hügel schmiegen, und die von dem vorwiegend in Afrika erwirtschaften Wohlstand der schiitischen Auslandslibanesen zeugen, sind zerschossen. Unmittelbar am Ortsrand der Kleinstadt Kana, in der am 30. Juli bei einem israelischen Luftangriff 28 Zivilisten, unter ihnen Kinder und Jugendliche, ums Leben kamen: Weithin sichtbar ist auf der weißen, von Granatsplittern durchlöcherten Wand einen Wohnhauses mit roter Farbe der Schriftzug "Cluster MK-42" zu erkennen. Auch die angrenzenden Tabakfelder sind mit rotweißem Plastikband provisorisch abgesperrt. Schilder auf Arabisch warnen vor der todbringenden Streumunition, die die israelische Armee offenbar im Umkreis abwarf.

Wo alles anfing

Wenige Autominuten hinter Kana beginnen die Anhöhen des bis zu 900 Meter hohen Jabal Aamel, des letzten Gebirgszuges vor der israelischen Grenze. Nur die wenigen Entitäten der christlichen und drusischen Gemeinschaften sind noch intakt. Alle schiitischen Dörfer sind zerstört. An den Ortseingängen wird mit riesigen Plakatwänden der gefallenen "Shahids", den Märtyrern der "Partei Gottes" gedacht, die während der Zeit der Besetzung des Südlibanon gegen Israel kämpften. Immer wieder sind überlebensgroße Bilder des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah, des 1978 in Libyen verschwundenen schiitischen Imams al Sadr und von Ajatollah Khomeini zu sehen. Der libanesische Journalist Samir Kassir, der im Juni 2005 durch eine Autobombe ermordet wurde, bezeichnete in seinem letzten, soeben auf Deutsch erschienen Buch "Das arabische Unglück", diese totalitäre Propagandakultur als "Totemisierung des Widerstands". Auf einer kleinen Straße erreichen wir Aita ech Schaab, den Ort, wo der Krieg seinen Ausgang nahm. Die 8.000 Einwohner zählende Ortschaft liegt in unmittelbarer Nähe zur israelischen Grenze. Am Ortsrand angekommen, deutet Ali auf einen etwa 500 Meter entfernt gelegen Feldstreifen. "Hier ist es passiert", sagt er mir. "Am Morgen des 12. Juli haben meine Eltern Gefechtslärm gehört. Kurz darauf flogen Hubschrauber durchs Tal. Später erfuhren wir über den Fernsehsender Al-Manar, dass die Hisbollah zwei israelische Soldaten gefangen und acht weitere getötet hatte." Dann begann der Feuersturm. Tag und Nacht wurde das Dorf beschossen. Am Anfang, als die Straßen noch passierbar waren, flohen fast alle nach Tyros, Saida oder Beirut. Später, als die Hubschrauberangriffe auf Flüchtende zunahmen, wagten sich andere nur noch in die nahe Kirche des christlichen Rmaysh. Sie verdanken dem hilfsbereiten Pfarrer und seiner Gemeinde alles. Nur drei Bewohner des Dorfes kamen in den Kriegstagen ums Leben.

Verschüttete Erinnerungen

Aita ech Schaab muss einmal ein idyllischer Ort gewesen sein. Trotz der massiven Zerstörungen fast aller Häuser, sieht man noch die Überreste von zahlreichen kleinen Obst- und Blumengärten. Die vielen Brunnen decken, jetzt wo alle Leitungen zerstört sind, den Wasserbedarf der bislang zurückgekehrten 500 Einwohner. Überall Schutt, verbogener Baustahl und geborstene Betonplatten. Ein Geruch von Moder, Mörtel und Staub liegt in der Luft. In einer Kuhle gräbt eine alte Frau mit bloßen Händen. Auch ihr Sohn hilft. Beide suchen das Familienalbum, Fotos von Vater und Mutter, den Großeltern. Hundert Meter weiter, wo einmal der Dorfrand gewesen sein muss, liegt ein unförmiger Klumpen Metall, davor eine Panzerkette. Das Wrack eines israelischen Merkawa-Panzers, den eine Granate der Hisbollah förmlich aufschlitzte. Fünf israelische Soldaten seien hier gestorben, erklärt mir Ali. Jetzt hängt an der zerborstenen Tankwand mit Steinen beschwert die gelbe Fahne der Hisbollah, daneben die libanesische Flagge. Am Himmel ist ein Summen zu vernehmen. Unbemannte Drohnen, die mit Kameras jede Bewegung am Boden verfolgen.

Am Ende des Areals beginnt eine kleine Böschung. Ali zeigt mir vorsichtig den Weg. Hier und da kleine gelbe und blaue Plastikstücke, wie verschmortes Spielzeug. Bei genauerem Hinschauen erkennt man längsgeriffelte Kugeln, die an kleine Apfelsinen erinnern. Andere haben die Form eines Zylinders, wie eine Taschenlampenbatterie, an dem eine Schlaufe aus einem weichen Material befestigt ist. Ali bedeutet mir vorsichtig zu sein, er tippt mehrmals mit seiner Hand auf seine Beinprothese. Erst jetzt erkenne ich, dass die harmlos wirkenden Metallstücke hochgefährliche Bomblets sind, freigesetzt von Clusterbomben, die sich in tödliche kleine Sprengkörper verwandelt haben. Jede Berührung kann sie zur Explosion bringen. Bereits drei Kinder wurden verletzt. Ich bekomme ein mulmiges Gefühl und achte genau darauf in der Fußspur zu bleiben. Nach wenigen Metern kommen wir zu einem Gebüsch. Ein Armeeschlafsack, leere Obstkonserven und eine halbvolle Wasserflasche sind zu sehen. Ich verstehe nicht. Ali reicht mir eine Dose und ich erkenne die hebräische Beschriftung. Ein verlassener israelischer Vorposten. "Bis hier hin sind sie gekommen", sagt Ali. Dann hätte der "Widerstand" die Soldaten in die Flucht geschlagen. Woher er das wisse, er sei doch zu Kriegsbeginn in Beirut gewesen? Ali lächelt. Er holt aus der Hosentasche ein kleines Plakat und faltet es vorsichtig auseinander. Auf ihm sind neun Männer in Kampfanzügen zu sehen, am Bildrand der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah. Der Märtyrertod, der Gang ins Jenseits, sei wie das Durchschreiten einer Tür in ein anderes Zimmer, in dem ein angenehmes Klima herrsche, hatte Hasan Nasrallah einmal auf die Frage geantwortet, warum es ihm keine Gewissensnöte bereite, zahllose junge Männer auf "Allahs Weg" zu schicken. Die Neun seien bei der Verteidigung des Dorfes gefallen, erklärt Ali. Normale Leute, einer habe ein Elektrogeschäft betrieben, andere seien in ihrem zivilen Leben Mechaniker oder Bäcker gewesen. Er ist sich sicher, dass alle jetzt im Paradies seien.

Der 57-jährige Hani Sroufor , Geschichtslehrer am Ort und Vater von Ali, steht bekümmert auf der Terrasse seines Hauses und zeigt auf einen Bombentrichter inmitten seines Rosengartens. In der Gartenmauer steckt noch ein Artilleriegeschoss. Auch sein Haus ist fast vollständig zerstört. Das alles, so sagt er nachdenklich, sei doch nur ein "tränenreicher Krieg" gewesen. "Wir sind die Opfer beider Seiten geworden". Warum nur habe Israel einen solchen Krieg geführt, fragt er mit bedächtiger Stimme. Selbst die Vögel würden nicht mehr singen. Der Widerstand hätte sich doch in Tunneln und Höhlen entlang der Berghänge verschanzt, warum seien dann ihre Häuser, Gärten und Felder verwüstet worden. Alle vier Schulen des Dorfes wären ausgebombt. Nein, niemand habe hier gewonnen, und widerspricht damit der Propaganda vom "Nasr min Allah" - dem "göttlichen Sieg", wie die Hisbollah in Anlehnung an den Namen ihres Chefs auf landesweiten Plakaten das Kriegsende feiert. Ein lebenswertes Leben, so der Lehrer, sei doch von zwei Dingen bestimmt: Sicherheit und Frieden. "Wir aber haben beides verloren".

Sieg im Baukampf?

Bislang sind in Aita ech Schaab weder die libanesische Armee, noch die Unifil-Truppe aufgetaucht. Die israelische Armee patrouilliert weiter nachts durch das Tal. Von den militärischen Einheiten der Hisbollah ist seit Beginn der Waffenruhe nichts mehr zu sehen. Aber auch in Aita ech Schaab hat der "Dschihad al-Binaa" (Baukampf), die Wiederaufbauorganisation der Gottespartei seine Arbeit aufgenommen. Männer mit Funkgeräten dirigieren ankommendes schweres Räumgerät über den Marktplatz. Auch hier gibt es ein provisorisches Büro, werden Schadenslisten erstellt. Mohammed, der seinen Nachnamen nicht nennen will, ist Verantwortlicher im Baukampf. Zuerst möchte er nicht sprechen. Erst später erzählt er, wie die Geldsummen des Wiederaufbaus zusammenkommen. Dass es auch eine iranische Finanzhilfe gegeben hat, bestreitet er nicht. Aber das sei nur schnelles Überbrückungsgeld. Viel bedeutsamer wäre die Wirtschaftskraft der im Ausland arbeitenden Südlibanesen. "Viele von ihnen werden in den nächsten Wochen mit ihren mitgebrachten DigiCams herkommen und ihre zerstörten Heimatdörfer filmen." Die Aufnahmen würden dann für Spendenabende in der schiitischen Diaspora genutzt. Mohammed schätzt die notwendige Zeit für den Wiederaufbau von Aita ech Schaab auf ca. zwei bis drei Jahre.

Hilfe von Schwulen und Lesben

Aber nicht nur die Hisbollah ist präsent. Zwischen arabischen Hilfsorganisationen, die Medikamente und Fertigessen verteilen, laufen zwei junge Frauen umher. Die 22-jährige Raisha arbeitet eigentlich beim medico-Partner ARCPA. Jetzt hat sie sich frei genommen, um mit anderen in Samedoun zu arbeiten. In der unlängst gegründeten Solidaritätsinitiative haben sich Umweltgruppen, undogmatische Linke, Anarchisten, aber auch Aktivisten aus Schwulen- und Lesbengruppen zusammengefunden. Raisha, in einem geblümten Hippiehemd, Jeans und Turnschuhen, versucht die Kinder des Ortes zu einem improvisierten Minenworkshop zusammenzutrommeln. Das gelingt ihr nur mit Orangensäften und Keksen. Dann aber sitzen ca. 50 Mädchen und Jungen auf Plastikstühlen in der ausgebombten Hochzeitshalle des Dorfes und brüllen erregt durcheinander. Kurz zuvor hatte Raisha kleine Flugblätter mit den gängigen Clusterbomben-Typen verteilen lassen. Jetzt will sie wissen, ob die Kinder bereits welche gefunden hätten. Gut die Hälfte von ihnen reckt die Arme. Einige treten vor und deuten auch auf die Abbildung der apfelsinenförmigen Bomblets. Raisha sagt, sie seien von dem Grundwissen der Kinder überrascht worden. "Wir kamen aus Beirut und dachten, wir müssten hier aufklären". Aber das Gegenteil sei der Fall. Seit Jahren schon leben die Kinder mit der Gefahr, beim Laufen durch die Felder getötet zu werden. Jetzt aber, wo die Streumunition erneut in Vorgärten zu finden wäre, sei es notwendig, die Erinnerung wieder aufzufrischen. Auf die Hisbollah angesprochen, meint die junge Linke, dass sie deren autoritäre Gesellschaftsideen ablehne. Auch ein schwuler Freund, der hier anpacke, würde seine Ansichten nicht verbergen. Dennoch gehe es jetzt erst einmal darum den Leuten über die kommenden kalten Wintermonate zu helfen. "Wenn es uns gelingt Vertrauen aufzubauen, dann werden wir auch über politische Fragen streiten".

Kollektiv der Minderheiten

Auch im ca. 50 Kilometer nördlich gelegenen Khiam hat der Aufbau begonnen. Hier rissen die Luftangriffe tiefe Schneisen in die Wohngebiete. Im Stadtzentrum, gleich neben dem Bürgermeisteramt, wo die Schäden der Anwohner registriert werden und der Hisbollah-Bürgermeister Überbrückungsgelder auszahlt, steht das medizinische Zentrum des medico-Partners AMEL. Das Gebäude wurde bis zum Jahr 2000 von der israelischen Militärverwaltung als Offizierskasino genutzt, heute beherbergt das Erdgeschoss des hellen zweistöckigen Baus mehrere Behandlungszimmer, eine Röntgeneinrichtung, einen Raum für Physiotherapie. Das obere Stockwerk wurde für Workshops und Weiterbildungen ausgebaut. Zwar zerbarsten am AMEL-Gebäude alle Scheiben und ein Querschläger zerstörte den Röntgenraum, aber dennoch können die Schäden behoben werden. Zwischen den freiwilligen Bauhelfern werden bereits wieder Rezepte ausgestellt und Kranke behandelt. Für Dr. Süleiman, seit sechs Jahren Leiter der Einrichtung, ist die vollständige Wiedereröffnung entscheidend. "Wir sind das einzige noch funktionierende medizinische Zentrum in der Region", erklärt er. So schnell wie mögliche müsse der sichtbare Ausnahmezustand des Krieges überwunden werden, meint der gelernte Rheumatologe. Auch AMEL kümmere sich jetzt um den Wiederaufbau. Vor wenigen Tagen habe man 100 Zisternen angeschafft. Erst später könnte man sich den etwaigen traumatischen Erlebnissen zuwenden, die vor allem die Kinder während der Bombardements durchlebten. Dabei erinnert er an die psychotherapeutischen Workshops, die AMEL in der Vergangenheit mit ehemaligen Gefangenen des nahe gelegenen Gefängnisses von Khiam durchführte. Aber der Ort, an dem früher die berüchtigte SLA-Miliz zahllose Insassen, unter ihnen auch viele Kommunisten, folterte, existiert nicht mehr. Das in ein Museum umgewandelte Gefängnisareal wurde in einer einzigen Bombennacht vollständig zerstört. "So will man den Leuten auch ihr Gedenken rauben", meint Dr. Süleiman.

AMEL verbindet seine Arbeit mit keiner offenen politischen Äußerung. "Wir sind nur strikt säkular und überkonfessionell". Das sei politisch genug in einem Land, das aus 18 (!) registrierten religiösen Gruppen bestehe, und in der auch die Gesundheitsversorgung nach dem Prinzip der konfessionellen Segregation betrieben werde. "Wir bieten als einzige Gesundheitsorganisation im ganzen Libanon unsere Dienste an". Die Arbeit im Süden ist eines der Kerngebiete. Hier wird auch eine agrarwissenschaftliche Beratung angeboten. AMEL gründete sich im 1980 als ambulante Notversorgung. Ihre ersten Ambulanzen boten damals, mit finanzieller Unterstützung von medico, medizinische Notversorgung in allen umkämpften konfessionellen Quartieren des blutigen Beiruter Häuserkrieges sowie in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila an. "Wir waren da, bevor es die Hisbollah überhaupt gab", erklärt der AMEL-Vorsitzende Kamel Mohanna, ein ehemaliger linker Studentenführer im Pariser Mai 68 und späterer Träger des Ordre National de la Légion d'Honneur, die Besonderheit der Organisation. Für ihn ist AMEL auch nach 25 Jahren und mit heute gut 200 Festangestellten und unzähligen Freiwilligen immer noch ein "Phänomen". Christen, Drusen, Schiiten, Sunniten arbeiteten zusammen. "Wir sind ein Kollektiv von Minderheiten". Nach der politischen Zukunft des Landes gefragt, reagiert der Grandseigneur der libanesischen Zivilgesellschaft gelassen. Nein, eine Rückkehr zum Bürgerkrieg werde es nicht geben. Israel sei es nicht gelungen, den Libanon "durch Bomben zu spalten".

Im Vorhof der Partei

Aber es gibt auch warnende Stimmen. Im Süden Beiruts, im schiitischen Stadtteil Haret Hreik, steht das Eltern- und Arbeitshaus von Lokman Slim, einem Verleger aus einer schiitischen Familie, der zusammen mit seiner Partnerin Monika Borgman die Kulturinitiative UMAM - Documentation and Research betreibt, die seit zwei Jahren auch von medico gefördert wird. Unmittelbar in der Nachbarschaft wohnen hochrangige Funktionäre der Hisbollah. Auch der Fernsehsender Al-Manar ist in der Nähe. Der Stadtteil war von Anbeginn so schweren Luftangriffen ausgesetzt, dass sich ein Kolumnist der Tageszeitung As-Safir nach einem Rundgang an Bilder aus der tschetschenischen Stadt Grozny erinnert fühlte. Das Haus von UMAM wurde von einer Fliegerbombe auf ein nahes Apartmenthaus schwer in Mitleidenschaft gezogen. Das Dach wurde abgedeckt, die Türen zersprangen, Granatsplitter rissen faustgroße Löcher in die Außenwände. Der Hangar, ein Ausstellungsraum neben dem Haus, wurde ebenfalls beschädigt. Jetzt gibt dort, im Einverständnis mit UMAM, ein lokaler Scheich Lebensmittel an ausgebombte Viertelbewohner aus. Lokman Slim verurteilt das zerstörerische Ausmaß der israelischen Kriegsführung, doch er schont auch die Hisbollah nicht. Sie habe nicht nur zwei Geiseln genommen, sondern eine dritte dazu: die libanesische Gesellschaft. Auch das immer wieder kehrende "nationale Gefangenenargument" lässt ihn nur bitter lachen. Sicher, es gäbe noch immer drei Gefangene in Israel, aber niemals hätte die Hisbollah auch nur ein Wort über die unzähligen Libanesen verloren, die der syrische Geheimdienst Muhabarat jahrelang nach Damaskus verschleppte. Auch habe in Beirut niemand offen dagegen protestiert, dass Nasrallahs Katjuscha-Raketen während der Kriegswochen 41 israelische Zivilisten, 18 davon israelische Araber, getötet hätten. Für den säkularen Verleger hält das in allen sozialen Bereichen verästelte Wohlfahrts- und Kontrollregime des politischen Islam die schiitische Gesellschaft in einem Zustand der "geistigen Immobilität" gefangen. Lokman Slim ist in diesen ersten Nachkriegstagen anzumerken, wie er sich vor der möglichen Wiederkehr innerschiitischer Auseinandersetzungen fürchtet. Zu Zeiten des Bürgerkriegs Mitte der 1980er Jahre, hatte die aufkommende Hisbollah nicht nur die in Haret Hreik lebenden Christen vertrieben, sondern auch ihre politischen Gegner getötet. Ihre ersten Opfer waren kommunistische Schiiten. Viele von ihnen waren Gefährten Lokmans. Er aber will nicht weichen, auch wenn er jüngst in islamistischen Internetforen als "zionistischer Verräter" denunziert wurde. Sein Zukunftstraum bleibt ein freier, entkonfessionalisierter Libanon.


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