Um dem Sterben in Gaza Solidarität und die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand entgegenzusetzen kamen am 30. Juli in München mehr als 400 Menschen in der Sendlinger Himmelfahrtskirche zu einem klassischen Konzert von „Make Freedom Ring“ zusammen. Das Kollektiv „Make Freedom Ring“ versteht sich als loses Netzwerk vor allem von Musiker:innen, aber auch anderen Kunstschaffenden. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, auf die aktuelle humanitäre Katastrophe in Gaza hinzuweisen und mittels Benefizkonzerten für Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen Geld zu sammeln. In München gingen die Gelder dankenswerterweise an die Gaza-Nothilfepartner von medico. Professor:innen der Hochschule für Musik und Theater München, Preisträger:innen internationaler Musikwettbewerbe und Mitglieder Münchner Orchester gestalteten das Konzert gemeinsam mit einem stilistisch abwechslungsreichen Programm. Im Rahmen der Veranstaltung sprach auch medico-Geschäftsführer Tsafrir Cohen. Wir veröffentlichen hier seine Rede, die nicht zuletzt ein empathisches Plädoyer für einen universalistischen Menschenrechtsbegriffs ist.
Rede von Tsafrir Cohen, Geschäftsführer von medico international, auf der Veranstaltung „Make Freedom Ring“ am 30. Juli 2024 in München
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
vielen Dank, dass ich heute Abend auf der Veranstaltung zugunsten der Nothilfe für Gaza „Make Freedom Ring“ sprechen darf. Als Geschäftsführer von medico international gehört es selbstverständlich zu meinen Aufgaben, auf Benefizveranstaltungen für die Organisation, die ich vertrete, zu sprechen, Dankesworte zu formulieren und dann schnell wieder die Bühne zu verlassen. Heute Abend ist das anders.
Wir alle hier, Sie, die Zuhörer:innen und die Musiker:innen wie auch wir Redner:innen stehen vor einer gemeinsamen Aufgabe: Es geht darum, diesen mit Mut errungenen Raum der Solidarität, der Empathie und der Kunst, die einen eigenen Ort jenseits der Sprache schafft, zu verteidigen und zu gestalten. Wir sind hier, um mit der je eigenen individuellen Geschichte und Perspektive, dem unerträglichen Horror in Gaza mit unserer Anwesenheit zu widersprechen. Das Bombardieren von Krankenhäusern, das Aushungern von Menschen, die seit Monaten auf der Flucht vor dem Krieg sind, die gezielte Tötung von Kleinkindern durch Scharfschützen, die nachhaltige Zerstörung dieses schmalen Landstreifens und seine strategische Unbewohnbarmachung: All das sind unbestreitbar Kriegsverbrechen. Ebenso stellt der tödliche und menschenverachtende Hamas-Angriff vom 7. Oktober unbestreitbar ein Kriegsverbrechen dar, dessen Verantwortliche vor internationale Gerichte gehören.
Wir sind hier, um unsere Sorge und Solidarität mit den israelischen Geiseln in den Händen der Hamas auszudrücken. Wir denken an den Kampf der Angehörigen in Israel, die mit ihrer Losung Bring Them Home Now eine Massenbewegung für ein sofortiges Ende des Krieges gegründet haben. Wir sind hier, um an die dringend notwendige Behandlung palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen zu erinnern, deren Zahl seit dem 7. Oktober sprunghaft in die Höhe gestiegen ist und die offenkundig entsetzlichen Grausamkeiten und Folter ausgesetzt sind.
Wir sind hier, um an die Vorgänge in der Westbank zu erinnern, in der die Siedlerbewegung in Zusammenarbeit mit der israelischen Armee die Vertreibung von palästinensischen Bewohner:innen und Landnahme palästinensischen Besitzes in einem neuen Ausmaß betreibt. Wir sind hier, weil das Vorgehen der israelischen Armee angeblich in unserem Namen geschieht – als Verteidigung westlicher Werte – und die deutsche Regierung es mit Worten und Ausrüstung unterstützt. Eben diese Unterstützung durch die wichtigsten Regierungen der westlichen Welt unterscheidet den Krieg in Gaza von anderen Kriegen, die in ihrem Ausmaß genauso schrecklich und schrecklicher sein mögen als das, was gerade dort geschieht.
Ich weiß, dass es schwierig ist, in einer vereinzelten fragmentierten Gesellschaft dieses „Wir“ anzurufen. In einer Zeit aber, in der wir alle zunehmend in einer Art Kriegsregime leben, in dem die Welt in Freund und Feind eingeteilt wird, soll mein Wir das „Dritte“ markieren. Damit meine ich eine Haltung, die sich nicht mit einer von außen auferlegten, im Zweifel national konnotierten Gemeinschaft verbindet. Das Dritte fühlt sich der Solidarität und dem universalistischen, sprich: dem für alle geltenden Menschenrecht verpflichtet.
Wir stehen hier und heute nicht nur vor der Frage, wie die Palästinenser:innen überleben werden – und es geht um ihr Überleben. Wir stehen auch vor der Frage, wie dieser Planet überleben wird. Deshalb weist das Schweigen über die Verbrechen in Gaza auch über diesen Krieg hinaus: Wir werden, so fürchte ich, eingeübt, Kommendes, also kommendes Leid, hinzunehmen und stillschweigend zu ertragen. Insofern besteht das Dritte, das ich hier stark machen möchte, in etwas, was ich planetarisches Bewusstsein nennen möchte. Es geht um ein alltägliches Verständnis des eigenen Daseins, das sich bewusst in Beziehung zur Welt setzt und nicht nur zur je eigenen partikularen Geschichte und Nation. Hier kann Martin Luther King ein Vorbild sein. Im Kampf um die Bürgerrechte in den USA verweigerte er eine Verabredung mit dem damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson, solange dieser Krieg in Vietnam führt. Sinngemäß sagte King: Was nützen mir Bürgerrechte in den USA, wenn sie den Vietnamesen verweigert werden?
Medico international ist eine sozialmedizinische Hilfs- und Menschenrechtsorganisation. Die Frage des Rechts steht für uns im Mittelpunkt allen Handelns. Aus einer sozialmedizinischen Sicht ist für uns Gesundheit die Frage nach dem gleichen und gerechten Zugang zu bestmöglicher Gesundheit für alle. Auch Hilfe ist in unserem Verständnis nicht nur eine Frage der Humanität oder der Barmherzigkeit. Sie ist ein Rechtsanspruch, den jeder Mensch hat, der in Not geraten ist. Medico unterstützt in diesem Sinne seit über 50 Jahren Partner:innen weltweit. So unterstützen wir auch Organisationen, die sich auf den Fluchtrouten dieser gespaltenen Welt wie wir für das „Recht zu gehen und das Recht zu bleiben“ einsetzen.
Seit Jahrzehnten arbeitet medico mit israelischen und palästinensischen Organisationen zusammen. In Israel kooperieren wir unter anderem mit den Physicians for Human Rights, den Ärzt:innen für Menschenrechte, einer israelischen Organisation, in der sowohl Jüdinnen und Juden als auch Palästinenserinnen und Palästinenser arbeiten. Sie wenden sich zum Beispiel gegen die Menschrechtsverletzungen und Misshandlungen in israelischen Gefängnissen. Sie waren auch bei der Versorgung der Überlebenden des Hamas-Angriffs tätig. Und sie sind in Verbindung mit palästinensischen Gesundheits-Organisationen. Unter normaleren Umständen würden sie Medikamente liefern und versuchen Kranke, die in Gaza nicht versorgt werden können, herauszuholen. Das verunmöglicht die israelische Regierung derzeit. Ihre Arbeit ist nur ein Beispiel für eine vielfältige menschenrechtliche Arbeit, die unsere Kolleg:innen in Israel unter schwierigsten politischen Bedingungen leisten.
In Gaza sind wir ebenfalls seit vielen Jahren tätig. Unsere Partnerinnen und Partner, die gemeinsam mit allen Bewohnern ständig auf der Flucht vor den israelischen Angriffen sind, versuchen in dieser Hölle das zu tun, was sie zuvor in ihren nun weitgehend zerstörten Einrichtungen taten. Die Kolleg:innen vom Palestinian Medical Relief Society, dem palästinensischen Gesundheitsdienst, deren Zentrum in Jabalia vollständig zerstört wurde, fahren Ambulanzen zu Verwundeten. Sie tun dies, während sie unter israelischem Beschuss stehen, also unter Lebensgefahr. Die Kolleginnen des feministischen Center for Free Thought and Culture Association aus Khan Younis leisten unter widrigsten Bedingungen Nothilfe in den Flüchtlingslagern. Die Anwält:innen und Rechtshelfer:innen der Menschenrechtsorganisation al Mezan – auch ihr Sitz in Gaza ist zerstört worden –, dokumentieren Menschenrechtsverletzungen, damit die Verantwortlichen eines Tages vor Gericht gestellt werden können. Dasselbe tun unsere israelischen und palästinensischen Partner:innen in der Westbank, die jedes Tötungsdelikt und jede Landvertreibung, aber auch Folter – egal, ob durch israelische oder eine der beiden palästinensischen Behörden begangen –, öffentlich machen und versuchen vor Gericht zu bringen. Es ist ein mühsamer Kampf gegen systematische Straflosigkeit.
Ich selber bin beruflich wie persönlich mit der Region tief verbunden. Ich habe viele Jahre in Ramallah, Jerusalem und Tel Aviv gelebt. Mein Einsatz und der meiner Freunde und Kolleginnen für das Recht auf Rechte aller Bewohnerinnen dieses Landstriches erscheint heute so aussichtslos wie nie zuvor. Zugleich aber wird vor aller Welt endlich deutlich – eben das unterstreicht das gerade gefällte Urteil des Internationalen Gerichtshofes –, dass die gesamte seit 1967 andauernde Besatzung der palästinensischen Gebiete inklusive des Gaza-Streifens dem Völkerrecht fundamental widerspricht. Dieses Urteil zeigt auch, dass wir hier nicht von einem Konflikt zwischen zwei gleich starken Parteien reden. Die militärische und politische Kontrolle Israels ist übermächtig und auf Dauer angelegt. Begründet wird sie mit israelischen Sicherheitsinteressen. Selten zuvor aber war die Kluft zwischen den proklamierten Sicherheitsinteressen eines Staates und dem seiner einzelnen Bürger so groß wie seit dem 7. Oktober.
Wir müssen feststellen, dass auch in Deutschland eine Kluft unbekannte Ausmaße angenommen hat: die Kluft zwischen dem offiziellen Diskurs einer deutschen Staatsräson, die das „Nie-Wieder“ an die Sicherheitsdefinition einer Rechtsaußen-Regierung in Israel koppelt, und dem Wunsch vieler nach Waffenstillstand, Frieden und Gerechtigkeit. Gegen eine diverse Erinnerungskultur versucht der deutsche Staat von oben die Menschen auf eine Denkungsart im Sinne dieser Staatsraison zu verpflichten. Staatsräson ist ein zutiefst obrigkeitshöriger Begriff. Sein Kern besteht darin, den Herrschenden zu ermöglichen, im Namen des Nationalinteresses geltendes Recht zu missachten. Haben wir dies verstanden, so bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, diesem reaktionären Begriff eine radikale Demokratie entgegenzusetzen.
Die von unten erkämpfte Erinnerungskultur bezüglich der Nazi-Verbrechen und der NS-Zeit war und ist von enormer Bedeutung für die demokratische Entwicklung und Erneuerung in Deutschland. Unsere Auseinandersetzung mit deutschen Verbrechen darf uns aber nicht dazu verleiten, von allgemeingültigen Grundsätzen abzurücken und in unserem Fall Israel ein Recht auf Straflosigkeit zuzugestehen. Erinnern ist nämlich, so die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Allein die Gegenwart ist der Ort, von dem aus etwas Vergangenes aufgerufen werden kann. In diesem Sinne greift die erinnerte Vergangenheit in die Gegenwart über und ein. Sie kann uns etwa dabei helfen, Entscheidungen zu treffen, Identitäten zu konstruieren oder Einstellungen zu schärfen. Beim Erinnern geht es also immer auch darum, Orientierung für die Zukunft zu gewinnen. Folglich frage ich, wie wir über die Nazi-Verbrechen sprechen können, ohne dabei ein Bekenntnis zur Unteilbarkeit der Menschenrechte abzulegen? Bekennen wir uns aber zur Unteilbarkeit der Menschenrechte, dann dürfen wir nicht schweigen, wenn die Palästinenser:innen rechtlos bleiben. Sie sind allesamt davon betroffen, dass ihr „Recht auf Rechte“ – die Basis für die Realisierung aller anderen Rechte – nicht verwirklicht ist und nicht zu gelten scheint.
Mit dem Begriff Recht auf Rechte beziehe ich mich auf einen Ansatz der deutsch-jüdischen-US-amerikanischen Philosophin Hannah Arendt. Arendt und ihre Zeitgenossen waren in der Folge des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit damit konfrontiert, dass Millionen von Geflüchteten plötzlich staatenlos waren. Aus dieser Situation heraus entwickelt Arendt das Konzept „Das Recht, Rechte zu haben“. Es bedeutet nichts anderes als das Recht auf Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft, in der dem Individuum die weiteren Rechte garantiert werden können.
In unserer Welt, wie sie jetzt verfasst ist, gilt: Die Basis für Rechte des Individuums ist die Staatsbürgerschaft. Die Lage der Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten (und übrigens auch den Flüchtlingslagern) ist hingegen seit vielen Jahrzehnten von Staatenlosigkeit geprägt. Denn Israel verweigert ihnen bekanntlich die Staatsbürgerschaft in einem eigenen Staat und gleichzeitig die israelische Staatsbürgerschaft. Im Sinne Arendts verfügen sie also nicht über das grundlegende Recht, das alle anderen Rechte erst möglich macht, denn die Rechte des Individuums werden innerhalb des jeweiligen Staats verhandelt und im Idealfall auch garantiert. So tut es auch die bundesdeutsche Verfassung.
Ohne das „Recht auf Rechte“ bleibt also der Anspruch auf den wunderbaren Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte unerfüllt, der uns allen die „volle“ Verwirklichung aller Rechte in einer dazu geeigneten „sozialen und internationalen Ordnung“ zugleich verspricht und vorschreibt. Deshalb ist die Weltgemeinschaft vor allem zu einem verpflichtet: Sie muss dafür sorgen, dass alle Menschen dieses eine Recht besitzen, das Recht Rechte zu haben, sprich zu einer politischen Gemeinschaft zu gehören, in der dem Individuum die weiteren Rechte garantiert werden können. Arendt verpflichtet uns also dazu, das Recht aller Menschen auf Rechte – überall und zu jeder Zeit – einzufordern, also auch uns, die wir hier in München, der Bundesrepublik oder anderswo leben.
Nicht die vermeintlichen Sicherheitsinteressen einzelner Staaten können den Frieden sichern. Das kann nur die allseitige Verpflichtung auf die Unteilbarkeit des Menschenrechts, also auf das Recht auf Rechte auch für die Palästinenserinnen und Palästinenser. Das hier geltend zu machen ist mein Anliegen und – so nehme ich an – auch Ihres.