medico & Partner: Vernetzung der Kritik

20.08.2004   Lesezeit: 16 min

Auf der Basis selbstbestimmter Gegenseitigkeit

Mit über 50 Organisationen weltweit bildet medico ein globales »Netzwerk«. Die Unterstützung unserer Partner im Süden hilft nicht nur Menschen in Not, sondern ist auch Widerstand gegen die entmenschlichte Zwangsläufigkeit eines globalisierten Marktes. Eine Ökonomie von unten – auch das sind Synergieeffekte unserer Partnernetze. Etwa in Palästina, wo die medico-Hilfe die medizinischen Teams von Mustafa Barghouti nicht nur mit Equipment und Medikamenten ausstattet, sondern zugleich auch Beschäftigungsverhältnisse für mehr als 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sichert. Maßstab für alle medico-Kooperationen bleibt die solidarische und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit eigenständigen Initiativen »vor Ort«, mit denen uns politische und soziale Ziele verbinden. Als quasi weltweites Netz einer »staatenlosen Demokratie«. Nur, wie gestalten sich diese Verbindungen? Wie bewegen wir uns darin? Wissen und Kommunikation begründen erst über die Gegenwehr neue Formen der Subjektivität. Vier Beispiele dafür folgen, die für unterschiedliche Formen dieses Netzes stehen. Dieter Müller lernt den medico-Partner Kabura in Afghanistan kennen und stößt dabei nicht nur auf sprachlichen Barrieren. Anne Jung reflektiert das Entstehen der Kampagne »Fatal Transactions«, in der »Nord-NGOs« versuchten, den Diamantenhandel zu unterwandern. Usche Merk zeigt eine Vernetzung der besonderen Art in Sierra Leone. Katja Maurer berichtet von einer traditionsreichen medico-Verbindung, dem People’s Health Movement, das sich – beinahe vergessen – wiederbelebt hat.


Afghanisches Reality-TV

Oder: Filmen als Voraussetzung für Demokratie

Kabul im Juni 2004. Ein extremer Kontrast nach vier Tagen bei den afghanischen Entminern von OMAR und MDC. Der erste Kontakt mit afghanischen Frauen. Eine sehr freundliche und offene Atmosphäre, aber zugleich eine große Anstrengung, weil die Englischkenntnisse so begrenzt sind, dass ein weitreichenderes Gespräch nur schwer zu führen ist.

Short Cuts in Kabul

Versammelt sind ca. 25 der 33 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Filmkurses bzw. der beiden Kurse, denn es gibt einen für Frauen und einen für Männer. Diese Kurse haben Ende Februar begonnen. Sie finden 3 mal pro Woche von 13:30 bis 15:30 statt. Sie dauern insgesamt sechs Monate. Die erste Hälfte umfasst Theorie und Praxis des Drehbuchschreibens, der Regie und des Filmschnitts usw. Anschließend wird an einem konkreten Filmprojekt gearbeitet. Aktuell ein Kurzfilm (20-25 Minuten) mit dem Titel »The son of the mother« (so lautet ihre Übersetzung). Es geht um einen ca. 10jährigen Jungen, der zur Schule geht, dort aber häufig einschläft, weil er zuvor noch auf dem Basar arbeitet. Er wäscht Autos. Seine Mutter ist krank und hat kein Geld. Einen Vater gibt es nicht. Sie zeigen mir die »cuts« einer Szene in der Schule. In einem Raum von Kabura wird gerade an einer weiteren Szene gearbeitet. Abends bei dem Jungen zu Hause. Die Mutter liegt krank auf einer Matratze. Neben ihr die Tochter. Der Junge liegt auf dem Boden und macht seine Schulaufgaben beim Licht einer kleinen Petroleumlampe. Die Mutter sagt ihm, er solle aufhören und die Lampe ausmachen, weil sie kein Geld haben, um Petroleum zu kaufen. In dem kleinen Raum sind 20 Leute, drei Ausbilder, die Schauspieler und Kursteilnehmerinnen. Zwei Frauen filmen, ein Jugendlicher bedient die Filmklappe. Geplant ist eine weitere Szene in der Schule und eine auf dem Basar. Im Juli und August sollen dann weitere Kurzfilme produziert werden.

Emanzipation mit der Kamera

Ich werde aufgefordert, mit den Kursteilnehmern zu sprechen, die sich im »Klassenzimmer« eingefunden haben. Ich frage sie, zu welchen Themen sie gerne Filme drehen würden. Sie antworten schnell: über das Verhältnis zwischen Mann und Frau, über die afghanische Gesellschaft, über ihr Leben als Flüchtlinge. Die Übersetzung fällt meist deutlich knapper aus als die teilweise erheblich längeren Ausführungen in Dari. Sie alle wollen, dass Afghanistan wieder vorankommt und aufgebaut wird nach all der Zerstörung. Sie wollen einen eigenen Beitrag dazu leisten. Auch einzelne Frauen äußern sich, wenngleich die männlichen Teilnehmer dominieren. Die Familien der jungen Frauen haben sich ihrer Teilnahme nicht widersetzt. Ich frage, woher sie von dem Kurs erfahren haben. Die Information wurde über afghanische NGOs, die Universität, Schulen usw. gestreut; die Anwesenden kommen aus diesem Spektrum. Bemerkenswert finde ich auch, dass eine Frau und ein Mann aus dem Ministerium für Frauenangelegenheiten teilnehmen. Als die Ministerin von dem Kurs erfuhr, hat sie Khara, den Direktor von Kabura, gefragt, ob diese beiden Mitarbeiter teilnehmen könnten. Das Ministerium wolle für seine Anliegen auch Filme produzieren. Immer wieder wird medico für die Unterstützung gedankt. Ein Teilnehmer sagt, dass sie mehr Kameras bräuchten. Khara wirft ein, dass sie mittlerweile doch vier Kameras hätten. Am Ende wird deutlich, dass erhofft wurde, nach dem Kurs könne jeder Teilnehmer eine eigene Kamera erhalten. Ich erwidere, dass medico eine eher kleinere Organisation sei und nur begrenzte Mittel für ein solches Projekt zur Verfügung stellen könne. Ein anderer Teilnehmer (der Mann vom Frauen-Ministerium) sagt, wir sollten ihnen ermöglichen, zu einer Fortbildung nach Deutschland zu kommen. Später werde ich noch mehrfach darauf angesprochen, was denn ein Visum für Deutschland kosten würde.

Die ganze Zeit wird gefilmt. Jede Möglichkeit wird für das praktische Training genutzt. Ich empfinde den Umgang zwischen Kursleitern und Kabura-Staff und den Teilnehmern sehr angenehm und offen. Ein teilweise chaotisches Treiben, Leute kommen und gehen, sowohl während der Begrüßungsrunde, wie auch beim anschließenden Gespräch mit Khara. Manchmal reden mehrere Leute wild durcheinander. Unklar bleibt, was davon übersetzt wird, auch was von meinen Ausführungen zurückübersetzt wird. Khara versucht sich zwischendurch immer wieder in Englisch, was ihm jedoch sehr schwer fällt.

Probleme des Verstehens

In dieser unübersichtlichen Situation fällt es mir schwer, den Übergang zur Geldübergabe zu finden. Ich habe die zweite Rate, also USD 5.500 in bar dabei, worüber ich Khara vorab per E-Mail informiert hatte. Ich bin mir nicht sicher, wann der geeignete Anlass dafür gekommen ist. Denn ich will nicht einfach so das Geld zücken. Ich versuche den Übergang und frage nach der Abrechnung für die erste Rate. Khara sagt, er würde sie uns zuschicken. Ich erwidere, es sei doch einfacher, sie mir zu übergeben, solange ich in Kabul bin. Er wiederholt das »will send« und ich bin mir unsicher, ob er damit vielleicht meint, dass er sie mir hier in Kabul zukommen lassen wird. Ich sage ihm, wie lange ich noch hier sein werde, und dass er sie doch für mich bei unseren Entminern von OMAR abgeben könnte. Dann spreche ich meine E-Mail an und dass ich ja auch die 2. Rate für sie dabei hätte. Ich gebe ihm den Umschlag und die Empfangsbescheinigung, die er mir unterschreiben muss. Er hat verstanden und schickt den übersetzenden Teilnehmer und mich zu den Studenten nach draußen, da sie sich von mir verabschieden wollten. Als wir zurückkommen, ist die Bescheinigung unterschrieben.

Zu keinem Zeitpunkt wurde mir gesagt, wie sich Kabura den Verlauf meines Besuchs vorstellt. Da ich weiß, dass in der Regel um 16 Uhr überall Schluss gemacht wird, übernehme ich die Initiative und leite die Verabschiedungsrunde ein. Es ist doch schwer, wenn man weder mit der Sprache noch den Gewohnheiten vertraut ist. Wie auch bei anderen Anlässen bleibt der Zweifel, ob man vielleicht unhöflich war, jemanden düpiert hat.

Zuvor hatte ich noch nachgefragt, ob sie nun auch von anderen NGOs unterstützt werden. Sie haben einen Antrag eingereicht aber noch keine Rückmeldung bekommen. Auch den Studenten hatte ich gesagt, dass es wichtig sei, weitere mögliche Hilfsorganisationen zu kontaktieren und sie auf ihr Projekt aufmerksam zu machen. Es sei immer besser, mehrere Unterstützer zu haben. Wenngleich ich nur zwei Stunden bei Kabura war, bin ich erschöpft, denn das Sprechen und Zuhören ist sehr anstrengend, wenn die sprachliche Kommunikation so schwierig ist. Der Kontrast zu unseren Partnern OMAR und MDC ist auffällig. Sie sind den Umgang mit westlichen NGOs und Gebern gewohnt. Bei Kabura habe ich plötzlich den Eindruck, inmitten des vorsichtig tastenden, seine Sprache suchenden intellektuellen Milieus Afghanistans angekommen zu sein. Im Denken hat die Taliban-Herschaft eine Wüste aus Verboten hinterlassen. Da sind vier medico-Kameras, ein Video-Gerät und die wenige Hilfe, die wir leisten können, mehr als ich für möglich gehalten hätte.

Dieter Müller


Diamantenboykott

Fatal Transactions – Der Erfolg eines internationalen Netzwerkes

Der Kampf um das tägliche Überleben im afrikanischen Kriegsalltag ist kein »sexy issue«. Nur selten werden die Geschehnisse in Angola oder in der Demokratischen Republik Kongo zu einer Meldung in deutschen Medien. Die Folge: Die Erkenntnisse über die Ursachen und Auswirkungen bewaffneter afrikanischer Konflikte haben regelrecht den Status einer Geheimwissenschaft. Der einzige positive Effekt dabei ist, dass die wenigen, die trotz der medialen Ignoranz an dem Thema festhalten, eng zusammenarbeiten und sich im regelmäßigen Austausch befinden. Angola ist eines jener vergessenen Länder. In der angolanischen Provinzhauptstadt Luena fördert medico seit 1999 ein integratives Rehabilitationsprojekt für Minenopfer. Dieses Projekt wurde in enger Kooperation mit anderen Hilfsorganisationen realisiert und die Arbeit vor Ort stand von Beginn an im Kontext der internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen. Hilfe zu leisten und dabei immer auch die Ursachen von Krieg und Gewalt zu benennen ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Die Projekt- und Kampagnenarbeit sind eng verbunden und ein Beitrag zur Parteinahme für die Opfer.

Subversive Informationen

In Angola wurde der lange Krieg und damit auch die Verlegung von Landminen aus dem Erlös des Öl- und Diamantenhandels finanziert. Das ist schon länger bekannt. Weniger bekannt waren die internationalen Akteure, die mit den kriegszerrütteten Ländern Afrikas Handel treiben und damit dazu beitragen, dass der Nachschub an Waffen sichergestellt wird. Als die britische Researcher-Organisation global witness 1999 einen Report über die Verflechtung des internationalen Diamantenhandels mit der Kriegsfinanzierung Afrikas veröffentlichte, verbreitete sich das Papier in der beschriebenen »Geheimgesellschaft« wie ein Lauffeuer. Die Studie wies nach, dass internationale Diamantenkonzerne, allen voran der Diamantenmonopolist De Beers, mit der angolanischen Rebellenorganisation UNITA Geschäfte gemacht haben. Wir beschlossen, mit den Autoren der Studie und weiteren europäischen Organisationen wie dem Netherland Institute on Southern Africa (NIZA) und dem belgischen IPIS-Institut über die Gründung einer Kampagne nachzudenken. Die Notwendigkeit des Handelns lag auf der Hand. In der europäischen Öffentlichkeit war kaum etwas bekannt über Konfliktdiamanten und ohne öffentlichen Druck bestand keine Chance, dass die Industrie das bereits 1998 in Kraft getretene UN-Embargo gegen den Diamantenhandel einhalten würde. Fatal Transactions tauften wir die Kampagne, die über die politischen und ökonomischen Hintergründe von Kriegen in Afrika und die illegale Ressourcenausbeutung informieren sollte. Ziel war es, ein effektives Kontrollsystem zu implementieren, dass dazu beiträgt, dass Kriege nicht mehr über den Handel mit Rohstoffen finanziert werden und die Reichtümer der Länder gerechter verteilt werden.

Soweit die Planung. Als die Kampagne Fatal Transactions im Herbst 1999 europaweit lanciert wurde, war die Aufregung bei der Diamantenindustrie groß. Die Pressesprecherin von De Beers rief umgehend bei medico an und versicherte, dass der Konzern sich aus Angola und weiteren Kriegsregionen zurückziehen würde. Nie zuvor hatte die Industrie so schnell das Gespräch gesucht. In der Branche breitete sich Panik aus. Diamanten sind das Symbol für ewige Liebe. An diesem Bild hatte die Industrie jahrelang mit aufwendigen Werbekampagnen gefeilt. Nun drohten Negativ-Schlagzeilen ungeahnten Ausmaßes. Börsenspezialisten rieten wegen der drohenden Kampagne sogar zum Verkauf von De Beers-Aktien!

Öffentlichkeit sichert Handlungsräume

Durch öffentliche Aktionen in vielen europäischen Städten und Lobbyarbeit übte Fatal Transactions Druck auf die Diamantenindustrie und die am Handel beteiligten Regierungen aus. Mehrere tausend Menschen forderten auf dem Kirchentag 2000 ein Verbot des Handels mit Konfliktdiamanten. Bücher, Filme und Ausstellungen entstanden in verschiedenen europäischen und afrikanischen Ländern. In England wurden flächendeckend konfliktfreie Klunker an Juweliere und die Presse verschickt. Mutige afrikanische Journalisten und Aktivisten wie Mario Paiva aus Angola und Abu Brima aus Sierra Leone versorgten uns in Europa mit Infos über die Diamantenkriege, über Kinderarbeit in den Minen und Vertreibungen. In den Diamantenregionen Sierra Leones unterstützt Abu Brima nach dem Ende des Krieges die Minenarbeiter in ihrem Kampf um die Einführung arbeitsrechtlicher Standards und von Mindestlöhnen. Sein Überleben verdankt Abu Brima nach eigenen Angaben auch den zahlreichen Interviews, die er westlichen Medien über die Fron in den Diamantenclaims gab – kritische Öffentlichkeit in Europa kann auch direkt »vor Ort« wirken. Nach vier Jahren hat sich die Diamantenindustrie im sog. »Kimberley-Abkommen« verpflichtet, in Zukunft keine Konfliktdiamanten mehr zu handeln. In Angola hat der Rückgang des Handels mit Konfliktdiamanten maßgeblich zum Ende des Krieges im Jahr 2002 beigetragen.

Auch wenn wichtige Ziele der Kampagne noch nicht erreicht werden konnten – solange den Händlern, die weiterhin mit Konfliktdiamanten Handel treiben, keine ernstzunehmenden Strafen drohen, bleibt die Selbstregulierung ein zahnloser Tiger und auch die Eigentumsverhältnisse haben sich nicht entscheidend verbessert – ist mit der Kampagne Fatal Transactions ein Netzwerk entstanden, dass erst durch die internationale Dimension handlungsfähig werden konnte und so vieles erreichen konnte. Und weitere Rohstoffe warten: Öl, Coltan und Tropenholz.

Anne Jung


Psychosoziale Vernetzung

Innerafrikanisches empowerment

Ich fühle mich geehrt, die Eröffnungsrede für ein so besonderes Ereignis wie den Beginn des einjährigen Trainingsprogramms für psychosoziale Gemeindearbeit in Sierra Leone halten zu dürfen. Wie kam dieses Ereignis zustande? Es begann 2002, als wir zwei sierraleonische Besucher auf Empfehlung langjähriger südafrikanischer Partner in unserem Büro in Frankfurt trafen. Sie luden uns nach Sierra Leone ein. Nicht zuletzt durch unsere Kampagne gegen den Handel mit Kriegsdiamanten hatten wir eine leise Vorstellung von den Gräueln, die sich in Ihrem Land zugetragen haben. Im Gespräch mit unseren Gästen entstand damals die Idee, unseren langjährigen südafrikanischen Partner Sinani um Rat zu bitten. Sinani leistet psychosoziale Arbeit in KwaZulu Natal, einer der gewalttätigsten und zerstörtesten Regionen in Südafrika. Gemeinsam mit Zandile Nhlengetwa, der Leiterin von Sinani, kamen wir vergangenes Jahr zum Erfahrungsaustausch mit sierraleonischen NGOs hierher. Zandile, du hast damals eine Brücke zwischen allen Teilnehmern geschlagen. Es entstand zwischen uns allen ein freier Austausch von Erfahrungen. Für mich war das eine unglaubliche Erfahrung, denn dank deiner Hilfe, habe ich Menschen wie John Caulcker und Bondu Manyeh kennengelernt, die diese Fortbildung vor Ort organisieren.

Wenn ich also von einem besonderen Ereignis spreche, dann meine ich dieses Netzwerk aus unterschiedlichsten Anteilen, das in einem Prozess respektvoller Zusammenarbeit und kreativen Suchens entstanden ist. Unser Anteil bestand u.a. darin Ressourcen zu organisieren. Und so hat nach einer Anschubfinanzierung von medico, nun das deutsche Auswärtige Amt Unterstützung für unsere gemeinsame Arbeit zugesagt. Gemeinsam mit Sinani und unseren Freunden aus Sierra Leone entstand das Programm für diese Fortbildung, die maßgeblich von Zandile und ihren Kollegen durchgeführt wird. Das kann man mit Fug und Recht als innerafrikanisches Empowerment bezeichnen. Ihnen dabei viel Erfolg.

Aus einer Rede von medico-Projektkoordinatorin Usche Merk in Freetown im Juli 2004


Lobby in den Vorhöfen

Maria Zuniga und das unverdrossene People’s Health Movement

Vom Konferenzgebäude der Weltgesundheitsorganisation WHO aus hat man einen grandiosen Blick auf den Genfer See. Hier weiß man, warum sich – wie an vielen anderen Orten der Welt auch – die Mieten in Genf an der Höhe der Wohnungslage messen. Einfach sitzen, Kaffee trinken, von den schwarzen Ledersesseln aufs Blau und Gletscherweiß schauen – das wär’s. Wir sind mit den Vertretern vom People’s Health Movement verabredet.

Es ist ein Treffen unter alten Bekannten. Maria Hamlin Zuniga erscheint. Ihr hennagefärbtes Haar ist schon ein bisschen licht. Aber ihre freundliche Ausstrahlung hatte sie sicher schon vor 30 Jahren, als sie als »peace corps«-Aktivistin aus den USA nach Mittelamerika ging, um »Aufstandsbekämpfung« durch Wohltätigkeit zu betreiben. Maria blieb in Mittelamerika hängen und gründete mit anderen ein Netzwerk mittelamerikanischer Basisgesundheitsinitiativen, das zu den wirksamsten Basis-Gesundheitskooperationen weltweit zählt. Auch die guatemaltekischen »Barfußzahnärzte« vom ACCSS, ein langjähriger medico-Partner, gehören dazu. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt, dass man über Gesundheit nicht reden kann, ohne über die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen der Menschen zu sprechen, ist in Zeiten des technischen Lösungs-Pragmatismus von geradezu umwälzend politischem Charakter.

Einst war dieses Selbstverständnis Grund, sich mit den Befreiungsbewegungen Mittelamerikas zu solidarisieren. Damals begann auch die Zusammenarbeit zwischen medico und Maria. Die Befreiungsbewegungen gibt es mittlerweile nicht mehr. Viele ihrer einstigen Galionsfiguren sind Teil des Establishments, das sie einst bekämpften. Aber die Gesundheitsarbeiter sind geblieben – oftmals bei den Gemeinden, die im Rahmen der Bürgerkriege in die Flucht getrieben und grausam verfolgt wurden, so wie unsere Kollegen von ACCSS.

Die Autonomie der Gesundheit

Maria ist eine Vorreiterin. Als sie 1968 nach Mittelamerika ging, verstand sie sehr schnell, dass der Aufstand berechtigt war, und beschloss, sich ihm anzuschließen statt ihn zu bekämpfen. Sie war eine der ersten, die Anfang der 80er Jahre begann, im sandinistisch regierten Nicaragua eine unabhängige Gesundheits-NGO zu gründen. Schneller als andere hatte sie sich aus dem staatlichen Gesundheitsministerium verabschiedet. Die Rechte und Interessen der Menschen auf ein höchstmögliches Maß an Gesundheit waren über diese Institution nicht mehr zu verwirklichen. Maria ging.

Heute gehört sie zu den führenden Vertreterinnen des People’s Health Movement, das sich im Jahr 2000 in Bangladesch bei der »Weltgesundheitsversammlung von unten« gründete. Dieser Grassroots-Ansatz des PHM bestimmt auch unser Treffen am Genfer See. Maria Zuniga und Thelma Narajan, Repräsentantin der beeindruckend starken indischen Basisgesundheitsbewegung, sitzen mit uns zusammen, um über die geplante Konferenz im Dezember in Berlin zu debattieren. Der rasende Pressesprecher des PHM kommt dazu, packt seinen Laptop aus und diskutiert die jüngste kritische Presseerklärung zur AIDS-Politik der WHO. Wir werden aufgefordert auch unsere Meinung dazu zu sagen. Schließlich gehört auch medico zum People’s Heath Movement. Unverdrossen bringen seine Sprecher auf der WHO-Versammlung den eigenen radikalen Standpunkt zu Gehör. Diese soziale Anwaltschaft für diejenigen, deren Stimmen nicht gehört werden, ist wie ein steter Tropfen. Es gibt in den Gremien der WHO Ansprechpartner und manche sind auch Partner im Geist. Das ist nicht zu unterschätzen. So schwerfällig die surpranationale Gesundheitsbehörde auch sein mag, wo, wenn nicht dort, können Gegenstandpunkte zur neoliberalen Ausgrenzungspolitik wirksam werden? So betreibt das PHM Lobby-Arbeit bei der WHO und integriert sich zugleich in die Bewegung der internationalen Sozialforen. Das PHM verfügt dabei nicht nur über die Stärke der Kritik, sondern auch über den Vorteil der kritischen Praxis.

Im PHM sind viele alte medico-Kooperationspartner versammelt: nicht nur Maria Zuniga, auch David Sanders aus Südafrika ist dabei. Unter seiner Federführung entsteht eine Reihe von gemeinwesenorientierten AIDS-Projekten in Südafrika. Oder Mustafa Barghouthi und seine Palestinian Medical Relief Society, die mit Unterstützung von medico ihren gemeindeorientierten Gesundheitsansatz gegenüber einer anhaltenden israelischen Besatzung verteidigt, um sich zugleich auch gegen die korrupte palästinensische Führung zu wenden.

Angesichts dieser Refundation der globalen Gesundheitsbewegung auch von ihrer Repolitisierung zu sprechen, ist nicht vermessen. Wie viel sich davon mit gesundheits- und sozialpolitischen Debatten in Deutschland verbinden lässt, wird man auf der Konferenz »Armut und Gesundheit« im Dezember in Berlin ausloten. Hier hat medico die Vertreter des PHM eingeladen, um das Netz zwischen dort und hier enger zu knüpfen. Auch wenn man in Berlin nicht die schöne Aussicht auf den Genfer See genießen kann.

Katja Maurer


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