Messerangriff auf Menschenrechtler in Gaza

medico-Partner kritisiert Menschenrechtsverletzungen durch palästinensische Autoritäten

18.01.2012   Lesezeit: 4 min

Vergangenen Freitag, den 13. Januar wurde unser Kollege Mahmoud Abu Rahma von der Menschenrechtsorganisation Al Mezan von drei vermummten Angreifern im Flur seiner Wohnung überfallen. Er konnte den Angriff abwehren und kam mit mehreren Stichverletzungen davon. In den Tagen vor dem Angriff erhielt Abu Rahma mehrere Drohschreiben und –Anrufe. Wie die Angreifer bezogen sich diese auf einen von ihm verfassten Artikel mit dem Titel „Die Kluft zwischen Widerstand und Regierungshandeln“ und warfen ihm vor, die palästinensische Sache zu verraten.

Das Band zwischen Bevölkerung und Führung reißt

In dem an die palästinensische Öffentlichkeit gewandten Artikel stellt Abu Rahma fest, dass der ungeschriebene Vertrag zwischen der palästinensischen Bevölkerung und ihren Repräsentanten, sprich den Quasiregierungen von Hamas und Fatah sowie den verschiedenen militanten Gruppen, immer weiter ausgehöhlt wird: In der Vergangenheit nährte die Bevölkerung den Widerstand gegen die Besatzung, während die Regierung bzw. der Widerstand die Menschen verteidigte und respektierte. Doch gerade diese palästinensischen Autoritäten verletzten zunehmend die Rechte der eigenen Bevölkerung.

Die Beispiele aus dem Arbeitsalltag von Al Mezan sind erschreckend (medico berichtete wiederholt). Al Mezan vertritt und unterstützt Menschen, die regelmäßig durch die beiden Quasiregierungen festgenommen werden. Nicht weil sie illegal handelten, sondern weil sie anders denken oder mit der gegnerischen Partei assoziiert werden. Weil sie, ermutigt durch die ‚Arabellion’, gegen den kleinlichen Zwist zwischen Hamas und Fatah demonstrierten. Hunderte Fälle von Folter liegen vor, die in mehreren Fällen sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen mit dem Tod endeten. Informationen darüber halten die Quasiregierungen zurück, seriöse Untersuchungen finden nicht statt.

In dem Artikel kritisiert Abu Rahma offen, dass die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen billigend in Kauf nehmen, dass unschuldige Zivilisten zu Schaden kämen. So bauten sie ihre Übungsplätze und Zentralen nahe an ziviler Infrastruktur, darunter Schulen. Dabei komme es häufig vor, dass Zivilisten in die Schussbahn gerieten, Kinder nicht explodierte, selbstgebastelte Bomben fänden und sich beim Spielen verletzten. Noch häufiger würden Zivilisten verletzt und getötet durch israelische Gegenangriffe. Abu Rahma berichtet, dass sich ein Familienvater wiederholt über einen Übungsplatz in unmittelbarer Nähe zu seinem Haus im Gazaer Bezirk Al-Nasser beschwert habe. Er könne ja wegziehen, war die Antwort. Auf eigene Kosten. Bei einem israelischen Angriff am 9. Dezember 2011 kamen er und sein elfjähriger Sohn ums Leben. Er konnte sich den Umzug nicht leisten. Niemand entschuldigte sich, keiner untersuchte den Fall. Im Gegenteil. Ein junger Mann, der sich über einen ähnlichen Fall beschwerte, schossen Unbekannte ins Bein.

Wenn Regierung wie Widerstand – also die beiden Institutionen, deren Daseinsberechtigung eben das Einstehen für die Rechte der eigenen Gesellschaft ist - das Recht auf Meinungsfreiheit und auf physische Unversehrtheit mit Füßen treten, resümiert Abu Rahma, dann reiße das Band zwischen Gesellschaft und ihren Vertretern. Dann würden beide Institutionen untergehen. „Dann sind wir alle dem Untergang geweiht“, so Abu Rahma wörtlich.

Perfide Beschuldigungen

Der Angriff auf Mahmoud Abu Rahma ist ein weiteres Zeichen für diese selbst zerstörerische Entwicklung. Die Beschuldigung, er sei ein Verräter am palästinensischen Widerstand, ist besonders perfide. Mahmoud ist kein unbeschriebenes Blatt. Seit fünfzehn Jahren kämpft er für die Rechte der Menschen im Gazastreifen, und er ist Menschenrechtler geworden auch aufgrund eigener Erfahrungen. 1989 wurde er von israelischen Soldaten festgenommen und dabei angeschossen. Er verbrachte zweieinhalb Monate im Gefängnis und wurde beschuldigt Flyer gegen die Besatzung zu verteilen. Sechs Jahre später wurde er erneut festgenommen. Grund: Illegaler Aufenthalt in der Westbank. Nach Abschluss der Osloer Verträge begann die israelische Politik der Enklavenbildung. Bewohner des Gazastreifens durften den anderen Teil der Westbank nicht ohne Genehmigung betreten. Obwohl die Genfer Konventionen die Bewegungsfreiheit der besetzten Bevölkerung die Bewegungsfreiheit innerhalb des besetzten Gebiets ausdrücklich garantieren. Mahmoud bekam einen Studienplatz an der Universität in Nablus in der Westbank, doch seine wiederholten Anträge auf eine Genehmigung vorübergehend in Nablus zu wohnen, wurden von den israelischen Behörden abgelehnt. Er zog dennoch hin. Er wurde ertappt und wegen „illegalen“ Aufenthalts festgenommen. Fünf Tage verbrachte er im Gefängnis. Tage, die er nie vergessen wird. Mahmoud berichtet, dass sein Kopf durchgehend mit einem übel riechenden Sack verhüllt wurde, und während er in schmerzhaften Positionen ausharren musste, hörte er die Schreie seiner Mitgefangenen. Er wurde geschlagen, auch in die Genitalien, nur um dann vom Gericht freigesprochen zu werden. Auf eine Entschuldigung wartet er noch heute.

Während der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen um die Jahreswende 2008/09 berichtet Mahmoud glaubwürdig und wiederholt über israelische Menschenrechtsverletzungen. Er wird zu einem der formidabelsten palästinensischen Menschenrechtler. Mehrmals war er der Hauptsprecher von Menschenrechtsdelegationen von medico ins politische Berlin, ruhig und besonnen klagte er die Rechte der Palästinenser Rechte zu haben, sich frei und demokratisch selbst bestimmen zu können.

Für seinen Einsatz zahlen Mahmoud und seine Familie jetzt einen hohen Preis: Wie viele Bewohner des Gazastreifens litten auch die eigenen Kinder an Angstzuständen noch lange nach den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen 2008. Die drei ängstigten sich so sehr, dass die Familie beschloss ihre alte Wohnung zu verlassen, damit die Kinder in einer neuen Wohnung Zuversicht schöpfen. Letzten Freitag mussten sie erleben, dass die Gewalt auch vor der neuen eigenen Haustür nicht halt macht.


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