Im kurdischen Südosten der Türkei kämpft eine neue Initiative gegen die versteckte Allgegenwart des Krieges. Von Nevin Sungur und Martin Glasenapp
Frühlingsblumen und Gräser hatten das Feld überwuchert. Die Schar Jungen lief los. Einer von ihnen war Mehmet Nesim Öner. Vor kurzem war er zwölf Jahre alt geworden. Jetzt, wo der Schnee endlich geschmolzen war, wollte Nesim nur hinaus. Fußball war seine große Leidenschaft. Wenige Tage zuvor hatte "ihr Klub" Diyarbakirspor zum Saisonauftakt in der türkischen Süper Lig das erste Heimspiel gewonnen. Die Kleinen glühten – zudem liegt ihr Dorf nur wenige Kilometer von der kurdischen Großstadt entfernt. Früher, in der Zeit der Gefechte, als sich die Armee in den nahegelegenen Hügeln erbitterte Schusswechsel mit der kurdischen PKK lieferte, durfte niemand abends auf die Straße. Zu gefährlich. Auch die nahen Wiesen waren tabu. Landminen. Jetzt schien alles besser. Die PKK hatte sich zurückgezogen, der Ausnahmezustand war aufgehoben. Frieden. Auch das Spielfeld schien sicher. Keine Warnschilder, kein Zaun. Nesim war einer der ersten. Kaum war er losgelaufen, schleuderte eine dumpfe Detonation den schmächtigen Jungen durch die Luft. Die Sprengladung riss ihm eine Hand ab, seine Füße wurden schwer verletzt, in sein Gesicht bohrten sich umherfliegende Metallteile.
Inzwischen ist Mehmet Nesim Öner 14 Jahre alt. Er wird rund um die Uhr von seiner Mutter betreut. "Ich wünschte, ich könnte mir das Gesicht waschen oder ohne die Hilfe von anderen essen. Ich wünschte, ich könnte arbeiten", sagt er. Nesim bleibt zu Hause, wenn seine Freunde auf der Straße spielen. Er kann nicht zur Schule gehen, weil es keine Transportmöglichkeiten für ihn gibt. Er erhält keinerlei psychologische Hilfe. Seine Familie ist bettelarm, es reicht gerade zum Essen – niemand kann dem behinderten Jungen eine angemessene Behandlung bezahlen. Manchmal sitzt Nesim auf dem Hof und blickt vor sich hin. "Mein Leben ist zu Ende", sagt er und klingt dabei sehr verzweifelt.
Der unbewältigte Krieg
Mehmet Nesim ist nicht das einzige Minenopfer in der Türkei. Dutzende von Kindern, Alte, Frauen und Männer, haben ein ähnliches Schicksal. Die einen traf es auf einer Hochweide, andere beim Holzsammeln. Die Tatorte: die ländlichen Regionen im kurdischen Südosten. Natürlich ist auch die türkische Regierung durch ihre Unterzeichnung der Ottawa-Konvention verpflichtet, den Minenopfern im eigenen Land zu helfen. Aber es geschieht wenig. Die Opfer leben in ihren Familien: ob im Dorf, in der Stadt, oder bei den wenigen noch umherziehenden Nomadensippen – und die meisten haben noch nicht einmal eine funktionsfähige Prothese.
Auch die Zahl der Opfer ist unklar. Immer wieder wird von Dutzenden von Verletzten berichtet, aber es gibt keine bestätigten und genaueren Angaben. Der Informationsmangel begünstigt, durchaus gewollt, das gesellschaftliche Schweigen. Denn hinter den Minenopfern – gerade im Südosten der Türkei - verbirgt sich mehr als nur individuelles Leiden. Wer hat die Minen gelegt? Und, fast noch bedeutsamer, warum wurden sie nicht entfernt? Es gibt Landminen, die keineswegs an abgelegenen Berghängen ihre Opfer forderten, sondern in fußläufiger Nähe zu Polizei- und Militärstationen. Nicht alle können von der PKK verlegt worden sein. Haben die staatlichen Sicherheitskräfte keine Karten über die landwirtschaftlich genutzten Flächen und Hochweiden angelegt, die sie verminten, um den militärischen Gegner auszuschalten? Hunderte von Dörfern entvölkerten sich in den letzten 15 Jahren. Die Dorfbewohner drängten in die städtischen Elendsviertel von Diyarbakir, Van und Kars. Noch heute ist ihre Rückkehr unmöglich. Ein Grund, neben der Armut, ist die Verminung ihrer verlassenen Lebenswelten. Aber welche Gendarmerie-Einheiten verfügen noch über die Kartographie der unzähligen noch immer unbegehbaren Gehöfte und Ansiedlungen? Und wer kontrollierte die paramilitärischen Korucu-Milizen, sogenannte "Dorfschützer", die Ankara zusätzlich gegen die PKK in Stellung brachte? Hinter der Minenfrage liegt die Allgegenwärtigkeit des vergangenen und erneut drohenden Krieges, und die Minenopfer bezeugen, dass nicht alles Leid den dämonisierten "PKK-Terroristen" zugewiesen werden kann.
Zivile Feldforschung
Die Initiative "Mayinsiz Bir Türkiye" (Für eine Türkei ohne Minen) hat mit Hilfe von medico international begonnen, das gesellschaftliche Schweigen zu brechen. Sie sammelt Daten und Fakten über die Überlebenden und ihre Bedürfnisse. In diesem Sommer beginnt eine großflächige Untersuchung. Jurastudenten reisen dafür in den Semesterferien in ihre kurdischen Heimatdörfer und führen Befragungen durch. Aus den Ergebnissen wird eine erste Datenbank entstehen, die die Basis für weitere Forderungen und einen ersten Überblick über den Bedarf medizinsicher Versorgung bilden soll.
Auch die Versorgungslage für Minenverletzte ist nur wenig entwickelt. Im kurdischen Südosten bietet allein das Dicle-Rehabilitationszentrum der Universität von Diyarbakir den Amputierten eine kostenlose Prothese. Die dort hergestellten künstlichen Arme und Beine sind zum Teil aus Holz, und aus Geldmangel schlecht verarbeitet. Aber es ist eine erste und kostenlose Hilfe für die Bedürftigen. Eine psychosoziale Rehabilitation dagegen, eine Ausbildungsförderung und Zugang zu Bildung gibt es nicht.
In der Türkei werden seit den 50erJahren Antipersonen-Minen eingesetzt, zu Anfang an den südöstlichen Grenzen, aber vor allem auch an der Westgrenze zu Griechenland. Seit Mitte der 80er Jahre setzten fernab der Staatsgrenze sowohl die Armee wie auch, in geringerem Umfang, die PKK Landminen ein. Auf Nachfrage schätzten türkische Militärs unlängst die Gesamtzahl der eingesetzten Landminen auf circa 1 Million. Etwas weniger als die Hälfte, laut Generalstab exakt 450.652 Minen, sind in einem streng markierten und eingezäunten Grenzstreifen zu Syrien vergraben. Nach Angaben der Initiative "Eine Türkei ohne Minen" starben allein im Jahr 2005 mindestens 68 Menschen durch Minenexplosionen, darunter 40 Zivilisten. Hinzu kommen 152 Verletzte. Die Landbewohner in den südöstlichen Provinzen wie Dogubeyazit, Van, Bingöl oder Mardin erklärten auf Nachfragen immer wieder, dass viele der verminten Berghänge, Hochweiden und Wälder weder markiert oder gar eingezäunt sind. Hirten wüssten vielfach nicht, wo die Minen liegen, und so käme es regelmäßig zu Unfällen mit Todesfolge, da in den abgelegenen Gegenden auch keinerlei Gesundheitsversorgung existieren würde.
Gegenöffentlichkeiten
"In jeder Familie kann man eine Minengeschichte erfahren. Fährt man in die kurdischen Dörfer, so sieht man Kinder ohne Arme oder Beine", sagte der Fotograf Ahmet Shik anlässlich der Eröffnung einer Fotoausstellung im März 2006 in der engagierten Galerie "Karsi Sanat" (Gegenkunst) im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. Der Kontrast könnte nicht größer sein: Unten die Istiklal Caddesi, die Hauptflaniermeile Istanbuls mit unzähligen Bars und den Flagshops der internationalen Markenartikel, oben im dritten Stock, in einer frisch renovierten Altbauwohnung, die Opfer-Porträts des unerbittlichen Krieges gegen das arm gehaltene Dogu Anadolu (Ostanatolien): Durch Schrapnelle erblindete Augen; Fußstümpfe, die durch Abszesse abnorm geschwollen sind; verkrüppelte Hände und wundgelegene Körper. Zu jedem Foto gibt es einen Namen, Alter, Ort und Geschichte. Nesim Öner ist dreimal zu sehen.
Ahmed Sikh hat die Region mehrfach bereist und jedes Mal war er mit der Verzweiflung der Betroffenen konfrontiert. "In den meisten Fällen musste ich die Opfer regelrecht suchen", sagte der Fotograf anlässlich der Ausstellungseröffnung, "denn voll Scham über ihre entstellten Körper wollten sie mit niemandem sprechen".
Das Fotoprojekt wurde von der Anwaltskammer Diyarbakir unterstützt. Die engagierten Rechtsanwälte wollen jetzt versuchen, jedem Minenopfer eine kostenlose Rechtsberatung zukommen zu lassen. Denn nach türkischem Recht haben die Opfer durchaus einen Anspruch auf Entschädigung, nur wissen die wenigsten davon oder haben Angst vor der staatlichen Repression. Sezgin Tanrikulu, der Vorsitzende der Anwaltskammer, sagt: "Die Region ist schwer traumatisiert worden. Die Minen bedrohen weiterhin das zivile Leben und verhindern das ökonomische Wachstum." Der Anwalt betont, dass es keinerlei Minenaufklärung in der Region gibt – weder in den Schulen, noch durch die Behörden.
Der Anti-Minen-Vertrag wurde in der Türkei am 1. März 2004 wirksam. Der Beitritt zu dem Vertrag, am gleichen Tag als Griechenland die Konvention ratifizierte, war ein für türkische Verhältnisse bemerkenswerter Schritt. Jetzt ist die Zeit gekommen, um die entsprechenden Maßnahmen der Konvention umzusetzen – in allen Regionen des Landes, so auch im kurdischen Südosten. Die lebensrettende Aufklärung und ein Mindestmaß an Opferhilfe müssen folgen. Auch dies sind Vorraussetzungen eines friedlichen Wandels.