Mir geht es um die Werte des Judentums

18.08.2006   Lesezeit: 6 min

Für eine offene Debatte über die israelische Politik. Ein Interview mit Prof. Dr. Rolf Verleger

In einem Brief an die Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, forderte Prof. Dr. Rolf Verleger, dass das Gremium zur Kenntnis nehmen müsse, dass nicht alle Juden dessen Stellungnahmen zum israelischen Militäreinsatz im Libanon teilten. Heutzutage dächten viele Juden, "man sei ein um so besserer Jude, je entschiedener man für Israels Gewaltpolitik eintritt", schreibt Rolf Verleger, der ebenfalls Mitglied des Zentralrates ist. Er stellt die Frage: "Ist das noch das gleiche Judentum, dessen Wesen unser einflussreichster Lehrer Hillel so definierte: 'Was Dir verhasst ist, tu Deinem Nächsten nicht an'? Ist das noch das gleiche Judentum, als dessen wichtigstes Gebot unser Rabbi Akiba benannte: 'Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst'?" Wenn er dies als das "eigentliche" Judentum bezeichne, dann würde ihm das keiner mehr glauben "in einer Zeit, in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert, für jeden getöteten Landsmann zehn Libanesen umbringen lässt und ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legt." Rolf Verleger hat aufgrund seines öffentlichen Auftretens seine Funktion als Vorsitzender des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden Schleswig-Holstein verloren, ist aber nach wie vor Delegierter für den Zentralrat. Er ist Psychologe und Professor für Neurophysiologie an der Universitätsklinik in Lübeck.

Katja Maurer: Herr Verleger, Sie haben in Ihrem Brief an den Zentralrat der Juden eine scharfe Kritik am israelischen Vorgehen im Südlibanon geäußert. Generalsekretär Kramer wies ihre Kritik als "abstrus und Mindermeinung" zurück. Ist Ihr Versuch, die Tür für eine differenziertere öffentliche Debatte innerhalb der jüdischen Gemeinden zu öffnen, damit gescheitert?

Rolf Verleger: Oh nein, ich war erfolgreich und glaube, dass die Tür für eine Diskussion weiterhin offen ist. Ich habe sehr viele E-Mails erhalten, auch von Juden. Und wir werden gemeinsam versuchen, diese Debatte fortzusetzen. Ich bin optimistisch, dass wir uns weiter bemerkbar machen werden. Die unerwartete öffentliche Aufmerksamkeit, die ich durch mein Schreiben erhalten habe, hat insofern sehr positive Effekte gehabt. Ich habe sehr viele positive Reaktionen von nichtjüdischen Deutschen bekommen. Viele haben meine Äußerungen als Befreiung empfunden. Mir haben Menschen geschrieben, die sich seit Jahren sehr differenziert mit Israel beschäftigen, die Ausstellungen zu jüdischen Themen gemacht haben, die sich beruflich mit Judaistik befassen oder die ein Leben lang mit Israel verbunden waren. Diese Menschen haben ihr tiefes Unbehagen über das Diskussionsklima geäußert, in dem jede kritische Auseinandersetzung mit israelischer Politik in die israelfeindliche, wenn nicht antisemitische Ecke gestellt wird. Mir haben zum Beispiel auch mein früherer Chef und mein früherer Professor geschrieben. Wenn es nach der Mehrheitsmeinung im Zentralrat der Juden ginge, sind das alles verkappte Antisemiten. Wäre das so, müsste ich mich fragen, mit was für Menschen ich mein Leben lang zu tun hatte.

Frau Wieczorek-Zeul werden antiisraelische Reflexe vorgeworfen, wenn sie den israelischen Einsatz von Streubomben im Libanon kritisiert. Bekannte Schriftsteller fordern proisraelische Unterschriftenlisten. Wie erleben Sie die aktuelle Debatte?

Mir geht es primär um die Werte des Judentums. Deshalb sind Juden, die sich gegen die israelische Regierungspolitik wenden, so ungeheuer verbittert darüber, was Israel macht. Diese israelische Politik steht konträr zu dem, was das Judentum eigentlich verkörpert. In wenigen Wochen ist das jüdische Neujahr. Es geht darum, dass das Buch des Lebens für das nächste Jahr neu geschrieben wird. Man muss viel beten, um in das Buch des Lebens im nächsten Jahr aufgenommen zu werden. Der zentrale Satz lautet: Was hilft uns für das neue Leben? Teschuwa u-Tefila u-Zedaka, zu deutsch: Rückkehr zu Gott, beten und Gerechtigkeit. Von Gewalt ist nie die Rede. Es heißt in den "Sprüchen der Väter", dass die Welt auf drei Dingen aufgebaut ist: Auf der Thora, der Kenntnis Gottes, der Avoda, dem Befolgen seiner Gesetze, und Gmilut Chassadim, dem Erweisen von Wohltaten. Auch dort wird weder Gewalt gepredigt noch ist davon die Rede, das Land seiner Nachbarn erobern zu müssen. Leo Baeck, der führende Reformrabbiner aus Deutschland vor dem Krieg, hat sinngemäß gesagt, dass Israel und die Diaspora zwei Brennpunkte einer Ellipse sein müssten. Ein mir einleuchtendes Bild, das ein Spannungsverhältnis beschreibt, in dem man immer wieder neu zueinanderfinden muss. Das bedeutet vor allen Dingen, dass man die Diaspora und Israel nicht einfach in eins setzen kann.

Ist in der Diaspora das Verhältnis zu Israel zu einem bestimmenden Faktor jüdischer Identität geworden?

Ich fürchte, dass dies sehr stark mit der abnehmenden Religiosität zu tun hat. Auch ich bin ja nicht mehr wirklich religiös. Wie kann man sich als Jude heute noch definieren, wenn man nicht mehr die religiösen Gebote achtet? Die Identifikation mit Israel ist eine naheliegende, aber zu einfache Möglichkeit, dieses Problem für sich zu lösen. Nationalismus war noch nie ein guter Identitätsersatz.

Fürchten Sie nicht, dass Ihre Äußerungen im Sinne antisemitischer Ressentiments instrumentalisiert werden könnten?

Ich habe auch Reaktionen bekommen, die in mir einen solchen Verdacht weckten. Zum Beispiel schickte mir einer eine lange Erklärung, dass er sich nie mehr von den Juden Schuld vorhalten lassen werde. Ich habe darauf geantwortet, ohne mir viel von diesem Austausch zu versprechen. Ich schrieb ihm, dass ich keine Schuld an der israelischen Politik trüge, mich aber dafür schämen würde. Die meisten Deutschen von heute, schrieb ich ihm, trügen ebenfalls keine Schuld an den Untaten der Nazis. Ich erwartete aber von ihnen, dass sie sich dafür schämen. Sollte er das anders sehen, dann würde ich mir jedes Lob von ihm verbeten. Ich dachte, dass bei ihm Hopfen und Malz verloren sei. Aber ich erhielt eine relativ vernünftige Antwort. Mein Eindruck ist, dass manche sich einer Begrifflichkeit bedienen, die sie bei ihren Eltern oder Großeltern gehört haben, weil die Debatte unter dem Deckel gehalten wird. Aber ob sie das, was sie sagen, wirklich so meinen, würde ich in Frage stellen.

Wie erleben Sie das Gespräch mit jungen Menschen?

Mir berichtete ein Lehrer, dass er in einer seiner Klassen auf verlorenem Posten stand, als er versuchte, die israelische Position zu verteidigen. Seine Schüler hatten mit völlig richtigen und nachvollziehbaren Argumenten diese Position als abwegig abgetan.

Fühlen Sie sich angesichts der Reaktionen in Ihren Aussagen bestätigt?

In einem Brief hieß es, dass meine Äußerung der beste Beitrag gegen Antisemitismus gewesen sei. Und genau darum geht es mir. Nur wenn die Öffentlichkeit erlebt, dass auch innerhalb der jüdischen Gemeinden offen und kontrovers diskutiert wird, kann man Ressentiments und antijüdische Klischees abbauen.


Jetzt spenden!