Erneut haben Wirbelstürme in Mittelamerika viele Menschenleben gefordert und eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Vielfach, so schreibt Walter Schütz aus Managua, fehlt der politische Wille, die bedrohte Bevölkerung zu schützen
Als ich die ersten Berichte über die dramatischen Folgen der Hurrikane, die derzeit über Mittelamerika ziehen, insbesondere in Guatemala und in El Salvador verfolgte, erinnerte ich mich an eine Besprechung vor mindestens zehn Jahren bei einer salvadorianischen NGO. Es ging um geplante Ansiedlungen im Mündungsgebiet des Río Lempa, des größten Flusses von El Salvador. Schon damals diskutierten wir über das Problem des Siedelns im Mündungsdelta. Klar war, dass sich die gesamte Wohn- und Produktionskultur in solchen Regionen auf diesen Sachverhalt hätte einstellen müssen. Das hätte bedeutet, auf höheren Stellen zu siedeln oder Häuser auf Pfählen zu errichten. Doch statt das Problem bewusst anzugehen, wurden die Siedlungen für Menschen, die woanders möglicherweise ungleich schlechter gelebt hätten, ohne jeden Überschwemmungsschutz schnell errichtet. Im Vertrauen darauf, die göttliche Vorsehung werde die Menschen schon schützen. Nun überflutete Hurrikan Stan im Oktober dieses Jahres die Gemeinden und beraubte die Bewohner ihrer Lebensgrundlagen.
Ähnlich in Guatemala. Die meisten Erdrutsche, die Anfang Oktober von Hurrikan Stan ausgelöst wurden, sind auf Abholzungen und das Siedeln in Risikogebieten zurückzuführen. Im guatemaltekischen Dorf Panabaj haben die Menschen jetzt dasselbe erlebt wie 1998 die Bewohner der Dörfer am nicaraguanischen Vulkan Casita. Eine Schlammlawine begrub in Panabaj Tausende Personen und ganze Dörfer unter sich. Die Schlammlawine wurde durch den ständigen Regen ausgelöst an einem Hang, der durch Abholzung nicht mehr sicher war. Es mag zynisch klingen, aber diese schreckliche Katastrophe war vorhersehbar. Warum wurde sie nicht verhindert? Die Frage ist nicht dadurch beantwortet, dass die guatemaltekische Regierung die betroffenen Gemeinden nun zu Dorffriedhöfen erklärt.
In Nicaragua war Hurrikan Stan längst nicht so verheerend wie in Guatemala. Hurrikan Stan hat das Land nur mit seinen Ausläufern erwischt. Der darauffolgende tropische Wirbelsturm Beta traf zwischen Bilwi (Puerta Cabezas) und Bluefields voll auf die nicaraguanische Atlantikküste. Er riss das Zink von tausenden Dächern, überflutete mit seinen Regenmassen mehr als 40 Dörfer und vernichtete die Ernten. Aber – und das scheint mir ein wichtiger Faktor zu sein – Nicaragua ist mittlerweile besser auf solche Naturereignisse vorbereitet. Es gab kaum Tote. Der Zivilschutz funktionierte und sorgte für die Evakuierung der gefährdeten Bevölkerung. 1988 wurde zum ersten Mal vorexerziert, dass die Menschen vor solchen Katastrophen gerettet werden können, wenn der politische Wille dazu besteht. Damals wütete Hurrikan Juana in der Karibik und steuerte auf Nicaragua zu. In einer beispielhaften Aktion und mit der Beratung von hurrikanerfahrenen Kubanern wurden die Regionen um Bluefields und die Provinz Río San Juan evakuiert und die öffentlichen Gebäude sturmfest gemacht. Nach dem Sturm war Bluefields ein einziger Trümmerhaufen. Aber es gab „nur“ 39 Tote. Allerdings, und das ist der Zynismus der Katastrophenhilfe, weil es eben „nur“ drei Dutzend Tote gegeben hatte, floss die internationale Wiederaufbauhilfe weniger als spärlich.
Zehn Jahre später war alles anders. Der Hurrikan Mitch raste 1998 durch Mittelamerika und hinterließ eine Spur des Grauens. Mehr als 4.000 Tote gab es allein in Nicaragua, 2.500 am Vulkan Casita. Staatspräsident Arnoldo Alemán hatte jedoch das Herannahen des Sturms ignoriert. Sein Unwille politisch zu handeln, verbrämte er mit dem Verweis auf die göttliche Vorsehung. Noch am Abend des 29. Oktobers, nachdem sich bereits der Erdrutsch am Casita ereignet und für Schlagzeilen gesorgt hatte, leugnete er die Katastrophe und erklärte die zuständige Bürgermeisterin von Posoltega für geistesgestört. Sie gehörte eben der sandinistischen Partei an. Alemán betrachtete die ehemalige sandinistische Armee, die sich beim Hurrikan Juana bewährt hatte, als Inkarnation des Bösen und wollte sie auf keinen Fall einsetzen. Sie hätte ja durch ihre lebensrettenden Maßnahmen an Sympathie gewinnen können. Das Geld aber, das floss, als die Katastrophenbilder um die Welt gingen, haben Alemán und seine politischen Freunde gern entgegengenommen. So entpuppte sich manche damit finanzierte Wiederaufbaumaßnahme als Straßenbauprojekt, das vor einer Wochenendvilla oder dem Landgut eines Staatsfunktionärs endete. Schließlich wurde Alemán vorgeworfen, er habe 300 Millionen Dollar aus der Staatskasse, darunter auch Mitch-Gelder, auf seine privaten ausländischen Konten geschleust. Er wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, die er unter Hausarrest auf seiner Hazienda absitzt.
Der Schrecken, den Hurrikan Mitch 1998 verursachte, führte unter anderem dazu , dass – auch dank internationaler Kooperation – ein System der Katastrophenvorbeugung in Nicaragua aufgebaut wurde. Nahezu alle Bürgermeistereien haben mittlerweile eine Karte ihrer Gemeinde mit klar definierten Risikogebieten. Es gibt Alarmstufen mit genauen Situationsbeschreibungen und Verhaltensmaßregeln. Im Falle von Stan wurden die Gemeinden auch entsprechend der jeweiligen Alarmstufen evakuiert. Außerdem existiert ein breites Funknetz in den Risikoregionen. So wurden an einem Samstag in Nandaime 2.000 Menschen evakuiert, die aber nach 24 Stunden wieder in ihre Häuser zurückkonnten. Das Rückgrat dieser Organisation ist ein Teil der Armee, die „defensa civil“ (Zivilschutz). Die Armee hat sich in den letzten Jahren aus den politischen Querelen herausgehalten, obwohl immer wieder versucht wurde, sie hineinzuziehen. So arbeitet sie ohne Schwierigkeiten in der Katastrophenvorbeugung mit den Bürgermeistern aller politischen Richtungen zusammen. Ich glaube auch, dass ein Rest des humanitären Anspruchs geblieben ist, mit dem die revolutionäre Armee einmal angetreten ist.
Unterdessen werden die Nachrichten aus Guatemala immer schlimmer. Die Zahl der identifizierten Toten liegt inzwischen über 600. Rettungskräfte sagen jedoch, dass es mindestens 3.000 Vermisste gibt. 220.000 Personen sind obdachlos. 89.000 Menschen sind in 280 Notunterkünften untergebracht. Man fragt sich, warum die Regierung die dramatische Situation so herunterspielt. Es steht zu befürchten, dass die Antwort im ungebrochenen Rassismus der Eliten zu finden ist. Denn bei den Toten und den Überlebenden der Katastrophe handelt es sich zumeist um Indígenas, um indianische Einwohner Guatemalas.