Naher Osten: Ein halsbrecherisches Gleichgewicht

18.08.2006   Lesezeit: 8 min

Der libanesische Essayist Abbas Beydoun über die Nachkriegssituation im Libanon und die fehlenden demokratischen Perspektiven

Eine Reihe von schiitischen Intellektuellen im Libanon versucht nicht nur, der Hizbullah die volle Verantwortung für den Krieg zu geben, sondern dabei auch das verschwundene schiitische Bewusstsein zu thematisieren. Zu nennen sind beispielsweise Waddah Sharara, Ahmad Beydoun, Mona Fayyad und Luqman Salim. Die Hizbullah hingegen gibt Israel und der Welt einen Teil der Verantwortung und versteckt sich selbst hinter der angeblichen nationalen Einheit, um nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Nicht-schiitischen Intellektuellen ist es aufgrund der konfessionalistischen Arithmetik (im Libanon) nicht möglich, weitreichende Kritik an der Hizbullah zu üben, weil sie sonst in Konflikt mit der gesamten schiitischen Gemeinschaft gerieten. So muss jene kleine Zahl schiitischer Intellektueller, die seit langem "Renegaten" sind, auf sich alleingestellt die eigene Ausgangserfahrung erneut durchmachen, nämlich mit der eigenen Glaubensgemeinschaft unmittelbar und heftig aneinander zu geraten. Wenn die erste Erfahrung noch gleichsam mühelos und vielleicht ohne Absicht vonstatten ging, so erfordert diese zweite Erfahrung Vorsatz, ein Bewusstsein von den damit verbundenen Schwierigkeiten und wohl auch Risikobereitschaft.

Direkt nach dem Krieg hat die Hizbullah auf ihrem Fernsehsender al-Manar mit den Siegesfeiern begonnen, noch bevor die Trümmer beseitigt waren und obwohl es viele Familien gibt, die ihre Angehörigen (Großeltern, Eltern und Kinder) verloren haben. Neben 1400 toten Zivilisten sind eine unbekannte Anzahl von Kämpfern ums Leben gekommen, über die die Hizbullah nicht offen spricht. Auf surrealistische Weise wird die Katastrophe, die noch immer existiert, in Siegeshymnen ertränkt. Sie tanzen auf den Trümmern, um sie nicht zu sehen, und sie schreiten entrückt dahin, um ihre Toten unter dem Druck eines allgemeinen Diktats erneut für die Partei und die Sache zu opfern. Die zivilen Toten kommen in diesen Feierlichkeiten selbstverständlich nicht vor. Sie sind Opfer zweiter Klasse, denn die Besinnung auf sie und auf die anderen Verluste könnten den Siegesrausch dämpfen.

In dieser Atmosphäre ist es tatsächlich unmöglich, differenziert zu argumentieren. Doch diese Intellektuellen sind an unmögliche Herausforderung gewöhnt, da sie als Revolutionäre begannen - in einem Land, das nichts weniger brauchte als eine Revolution - und nun dahin gekommen sind, eine Situation zu "kritisieren", in der auf verachtenswerte Weise die Demagogie herrscht.

Der Krieg ist damit zu Ende gegangen, dass sich keine Seite in ihrer Haut wohl fühlt. Das Gefühl des Übergangs ist gefährlich und kündet von der Drohung eines neuen Krieges. Die Israelis haben sich noch nicht festgelegt, ob die neue Lage ihnen genügt, während die Hizbullah die UN-Resolution 1701 nicht in eine Niederlage für sich umwandeln will, was all den Feierlichkeiten des offiziell verkündeten Sieges widersprechen würde. Der libanesische Staat, der infolge der Katastrophe zum Staat geworden ist, kann faktisch (noch) keinerlei Vollmachten des "Staates" ausüben. Die Vereinten Nationen versuchen auf wundersame Weise widersprüchliche Forderungen unter einen Hut zu bringen. Die US-Amerikaner und Europäer suchen bislang vergeblich nach einem innerlibanesischen Partner, der die Aufgabe übernehmen könnte, einen Gleichgewichtszustand in einem Staat mit einer Armee und sicheren Grenzen zu schaffen. Es ist eine Situation, die von vielen Seiten behindert werden kann, wobei ein einziger Funken genügt, um das Feuer erneut zu entfachen. Dennoch wirkt die Demagogie, versteckt hinter den Taten, fort, da alle übereinstimmend von nationaler Einheit und von einem einzigen Feind, einem einzigen Sieg und einem einzigen Staat reden.

Trotz allem kann man nicht ohne Ironie über einige Resultate sprechen. Israel hat zweifellos der Hizbullah einen großen Dienst erwiesen. Es hat sich selbst in unzweideutiger Weise als Feind aufgedrängt. Und wenn es überhaupt einen libanesischen Konsens gibt, dann geht er nicht über diesen Gedanken hinaus. Israel hat alles zerschlagen, was die libanesische Gesellschaft und den libanesischen Staat auszeichnete, also alles, was man als Basis für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Zukunft hätte betrachten können. Das alles war mit einer Kriegs-Gesellschaft, Kriegs-Kultur und Kriegsökonomie, die die Hizbullah wollte, unvereinbar. Nicht zu vergessen, dass einst ein Teil der Libanesen mit Israel zusammengearbeitet hat [Gemeint ist die Zusammenarbeit rechter christlicher Milizen nach dem israelischen Einmarsch nach Beirut 1982, d. Übers.] und dass die Mehrheit Frieden mit Israel will, oder zumindest nur einen kalten Krieg. Jetzt aber ist die Idee des barbarischen Feindes Konsens, und alle Libanesen begrüßen die Standfestigkeit der Hizbullah angesichts eines Feindes, der sie alle verachtete und nur als armseliges Ziel seiner Bomben behandelte. Wenn die Erinnerungen an diesen Krieg lange weiterleben werden - obwohl dies eigentlich alle vermeiden wollen -, so wird sie vor allen Dingen diese Idee des Feindes stetig nähren. Welche Folgen sich künftig daraus ergeben und welche Kultur daraus erwächst, ist nicht abzusehen. Aber auf Jahre hinweg wird es niemand mehr wagen, vom Frieden zu reden. Gewiss wird über den Waffenstillstand geredet, mit dem sich die Hizbullah nach außen hin einverstanden zeigt. Hinzukommen noch weitere damit zusammenhängende Fragen, die das Leben des Libanon prägen: Ob der Staat existiert oder nicht, ob der Widerstand der Hizbullah anhält oder nicht, ob die Hizbullah entwaffnet wird oder nicht, ob es weder Krieg noch Frieden gibt und ob die Unifil-Truppen und die Armee die Grenzen schützen, ohne die Region von den Waffen der Hizbullah befreien zu können. All diese Fragen hängen miteinander zusammen. Es ist ein Drahtseilakt, von dem niemand weiß, wie lange er durchgehalten werden kann.

Israel ist jetzt der "Feind", aber nach der geläufigen Einschätzung zugleich der einzige demokratische Staat, ja sogar der einzige "Staat" überhaupt in der Region, denn er stellt zugleich das einzige moderne Experiment dar. Daher unterstützen ihn die US-Amerikaner, und auch die anderen halten sich darin zurück, ihn zu verurteilen, außer wenn es um ein Übermaß an Gewaltanwendung geht. Keiner fragt also die einzige Demokratie, welche Rolle sie bei der Verbreitung der Demokratie in der Region spielt. Wir wissen nur, dass sie systematisch die beiden anderen Demokratien zerstört hat, die libanesische und die palästinensische. Sie hat nahezu die gesamte libanesische Zukunft zertrümmert und ihre Bomben und Raketen auf die Fundamente des Staates, der Wirtschaft und der Infrastruktur abgeworfen; und auf dieselbe Weise verfuhr sie mit der palästinensischen Demokratie. Was bedeutet es denn, dass sie die meisten Minister und gewählten Parlamentsabgeordneten in Palästina gewaltsam entführt hat? Sie ist allein der Staat, während alle anderen – ob Staat, Parlamente oder Institutionen – im Vergleich zu ihr nur Aufwiegler ohne Legitimität sind und daher wie Aufwiegler und Kriminelle behandelt werden müssen. Israel ist also der "moderne" Staat in der Region und hat aufgrund einer ererbten, kolonialistischen Rationalität natürlich auch das Recht, die Barbaren zu bestrafen. Welche Funktion hat der einzige demokratische, moderne und fast westliche Staat in diesem Orient, und warum unterstützen sie ihn bedingungslos und ziehen ihn nicht zur Rechenschaft? Sollte er nicht vielmehr daran mitwirken, einen demokratischen Staat in Palästina zu errichten, anstatt jeden Versuch schon im Keim zu ersticken? Sollte er nicht die friedliche Mehrheit im libanesischen Staat und in der libanesischen Gesellschaft in Betracht ziehen, anstatt die Grundlagen des Friedensprojekts zu zerstören? Besteht sein ganzer Zweck in der Abschreckung und damit auch in der Vernichtung jeder Zukunftsaussicht schon im Embryonalstadium? Und wie ist die Demokratie mit den Siedlungen auf den besetzten palästinensischen Gebieten und mit der offenen Besiedlung des Golans in Einklang zu bringen? Ist das kein eindeutig feindseliges Verhalten? Und wie kann man von Frieden reden, solange dieses existiert?

Ich meine: Die Welt muss verlangen, dass sich Israel tatsächlich modern und nicht wie der letzte Kolonialist auf Erden verhält; dass es wirklich friedlich ist und nicht besetzt und besiedelt; dass es sich als Demokratie aufführt, die mit den Demokratien kooperiert, und als Staat, der die Staaten respektiert; dass es als westliche Vorhut die Rolle zur Modernisierung und Entwicklung der Region annimmt. Der Westen und die US-Amerikaner müssen von Israel Rechenschaft verlangen, als Gegenleistung für die ganze Unterstützung und die milde Sonderbehandlung (die einzige geheime Atommacht und der Staat, der auf die meisten Resolutionen des UN-Sicherheitsrates nicht reagiert).

Selbst wenn wir vergessen, was die Gründung Israels in der Region nach sich gezogen hat - was die meisten arabischen Staaten, die jetzt Frieden mit Israel geschlossen haben, getan haben -, so wird dieser Traum vom Frieden durch Abschreckung und Feindseligkeit das Leben Israels genauso beeinträchtigen wie den arabischen Fortschritt verhindern. Dass Israel fortgesetzt Kriege führt, um sein Diebesgut zu verteidigen, schadet ihm selbst. Wir aber müssen uns fragen, welche Mentalität sich hinter dieser hysterischen Gewalt verbirgt. Denn die Antwort der Gegenseite ist berechenbar: Sie lautet Paranoia. Nach Ansicht der Hizbullah besteht Israels Mentalität darin, Unrecht zuzufügen und reale wie irreale Gespenster bekämpfen. Aus Sicht Israels findet sich auf der Gegenseite ein Zerstörungswahn. Hysterie gegen Paranoia: Das Ergebnis ist ein blutiger Teufelskreis. Israel aber muss zuerst innehalten, denn es ist ein moderner und demokratischer Staat. Und anstatt seine "legitimen" Kriege zu unterstützen, sollte die Welt Israel die Frage stellen, was es unternommen hat, damit das alles aufhört und sich nicht ständig wiederholt.

Abbas Beydoun ist einer der renommiertesten libanesischen Dichter und Essayisten; er leitet das Feuilleton der libanesischen Zeitung "As-Safir". Der Artikel erschien gekürzt im medico-Rundschreiben 3/2006.


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