Migration in Westafrika

Neue Allianzen

08.12.2016   Lesezeit: 6 min

Afrikanische Organisationen kritisieren die Abschottung Europas und die Willfährigkeit der eigenen Regierungen.

Von Christian Jakob

So viel Aufmerksamkeit bekam Afrika nicht mal während der Ebola-Krise. Ein regelrechter Diplomatiemarathon spielte sich im Herbst dieses Jahres zwischen Europa und einer Reihe subsaharischer Staaten ab. Die Präsidenten von Mali, Äthiopien, Tschad, Niger, Nigeria, Eritrea, Sudan, sonst meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle von Brüssel und Berlin, bekamen Besuch von Angela Merkel, hochrangigen europäischen Verhandlungsdelegationen oder wurden selbst in Berlin empfangen. Das Thema war immer dasselbe: Die Staaten Afrikas sollen die Migration Richtung Europa aufhalten, denn die, so behauptete der Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) kürzlich unverblümt, drohe „dramatische“ Ausmaße anzunehmen.

Wachsende Teile der afrikanischen Zivilgesellschaft hingegen sorgt weniger die Migration als das, was nun gegen sie getan wird. Der medico-Partner Visions Solidaires aus Togo hatte deshalb gemeinsam mit anderen westafrikanischen Migrationsorganisationen im März 2016 das West African Observatory on Migration (OOAM) gegründet. Im Oktober lud Visons Solidaires zu einer ersten Konferenz, der Académie des Migrations Africaines, in Togos Hauptstadt Lomé. Ort und Datum waren bewusst gewählt: Zeitgleich trafen sich hier die Staatschefs der Afrikanischen Union (AU) zu ihrem Gipfel über Maritime Sicherheit. Auf der Tagesordnung standen nicht nur Themen wie Piraterie oder Fischerei, sondern auch die Frage, was gegen die „Ursachen der irregulären Migration“ zu tun und wie der mit der EU verabredete Aktionsplan von Valletta umzusetzen sei.

Wochenlang hatte Togos Regierungschef Fauré Gnassingbé die Hauptstadt für den Gipfel herausputzen lassen. Die Straßen zum Kongresszentrum waren beflaggt, die Innenstadt war abgeriegelt. Weil die „ Académie“ als Gegenveranstaltung zu dem Präsidententreffen gedacht war, sollte sie möglichst in dessen Nähe im Universitätsviertel von Lomé stattfinden. Doch kurz zuvor zogen die Behörden ihre Erlaubnis zurück . Das OOAM musste in ein Hotel am Stadtrand umziehen. Gleichwohl ist es ein Zeichen für das Erstarken der westafrikanischen Zivilgesellschaft, dass sie eine solche Veranstaltung überhaupt in Lomé durchführen konnte. Unter Gnassingbés Vater und Amtsvorgänger, dem jahrzehntelang herrschenden Diktator Eyedema, wäre es undenkbar gewesen, während eines Staatsbesuchs derart Kritik an der togoischen Führung zu artikulieren.

Migration ist eine Chance

Die Kritik war massiv. Statt etwas gegen das tausendfache Sterben afrikanischer Migranten auf dem Meer zu tun, lasse die AU zu, dass Europa die afrikanischen Küsten kontrolliere, schrieb Visions Solidaires in der Einladung. Mit Frontex im Mittelmeer, der französischen Marinemission Corymbe im Golf von Guinea und der Atalanta-Mission im Golf von Aden: Die Regierungen Afrikas würden sich mit dem Valletta-Prozess einmal mehr ihre Politik von der EU diktieren lassen. Dabei würden sie vergessen, dass Migration vor allem „eine Möglichkeit, eine Chance“ sei, sagte Samir Abi von Visions Solidaires zum Auftakt der Konferenz, zu der rund 80 Menschen aus 15 afrikanischen Ländern gekommen waren. Migration zu verhindern werde „Afrika noch weiter zurückwerfen“, sagte Abi.

Menschen, die ins Ausland gehen, würden ihre Länder zum besseren verändern, sagte Mamadou Ablay Bengue aus Dakar. Senegal sei das beste Beispiel dafür. Es sei „ein Land der Migranten“, die aktive Diaspora unterstütze die Entwicklung jedes Jahr mit weit über 100 Dollar an Rücküberweisungen pro Kopf und sichere so die wirtschaftliche Entwicklung.

Ousmane Diarra vom medico-Partner Association Malienne des Expulsés (AME), dem Verband der Abgeschobenen aus Mali, erinnerte daran, wie Frankreich in den 1990er Jahren eine große Zahl westafrikanischer Arbeitsmigranten aus dem Land warf. Nach Jahren der Erwerbstätigkeit standen sie vor dem Nichts, ihre Familien, die lange von Rücküberweisungen gelebt hatten, litten Not. Jetzt wolle Europa seine Möglichkeiten, Menschen abzuschieben, drastisch ausweiten, sagte Diarra. Bislang war für die Abschiebung ein Pass nötig, den das Herkunftsland eines Migranten ausstellt. Das Abkommen von Valletta sehe nun die Möglichkeit vor, dass die EU selbst ein Laissez Passer genanntes Ersatzpapier ausstelle. Das müssten die afrikanischen Staaten künftig anerkennen und eine Abschiebung zulassen, selbst wenn der Betroffene gar keinen Pass besitze.

medico international hatte das Netzwerktreffen unterstützt, weil sich Gegenwehr in Europa und in den afrikanischen Ländern koordinieren muss. „Wir beobachten seit langem, wie Europa seine Grenzkontrolle externalisiert“, so Projekt-Refererentin Sabine Eckart in Lomé. Die Folgen dieser Politik zeigten sich mittlerweile überall in Afrika. Migration und Entwicklung seien zwei Seiten derselben Medaille. „Wer sich zum Bleiben entscheidet, soll Verhältnisse vorfinden, in denen er frei leben kann. Wer sich entscheidet zu gehen, muss dies in Sicherheit tun können.“

Das Dilemma der Abwanderung

Migration werde immer nur mit Blick auf die Industriestaaten verhandelt, kritisierte Liepollo Pheko aus Südafrika, Koordinatorin des International Network on Migration and Development. Dabei „spielen sich drei Viertel der afrikanischen Migration auf dem Kontinent ab“, sagte sie. Nur eine Minderheit verlasse Afrika. Die Möglichkeiten für Arbeits- und Bildungsmigration innerhalb des Kontinents müssten verbessert werden. „Warum kann ich mich als Ingenieur aus Togo nicht auch in Nigeria fortbilden?“ Sie forderte „in ganz Afrika das Recht zu haben, ein Afrikaner zu sein“. Schließlich erfüllten sich die Hoffnungen vieler Migranten außerhalb Afrikas nicht: „In New York fahren gut ausgebildete schwarze Migranten Taxi, in London machen sie in den Hotels die Betten. Ist das ein besseres Leben?“

Und auch für die Herkunftsstaaten sei der Brain Drain ein Problem, vor allem im Gesundheitssektor. „Zu viele Krankenschwestern ziehen weg“, so Pheko. Sie sprach sich dafür aus, dass gut Ausgebildete zunächst einige Jahre im Land bleiben sollten: „Du gibst uns etwas zurück und dann darfst Du nach Dubai.“ Ihr sei zwar bewusst, dass viele Länder in Afrika auf die hohen Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten angewiesen seien. Doch viele Regierungen würden so „ihre eigene Verantwortung auf die Diaspora abwälzen. Der Staat unterstellt einfach, dass es dieses Geld gibt, er ruft die Migranten auf, mehr Geld zu schicken, statt sich den Problemen zuzuwenden, wegen derer die Menschen überhaupt gegangen sind.“

Milkay Sinta aus Kenia, Koordinatorin des Panafrican Network in Defense of Migrants Rights nannte Migration einen „natürlichen Weg, nach einem besseren Leben zu suchen“. Trotzdem sollten die Regierungen Bedingungen schaffen, unter denen die Jugend bleiben will. Es sei Aufgabe der Zivilgesellschaft, den nötigen Druck aufzubauen. Deren Stimme aber werde nicht genug gehört. Dies habe sich zuletzt beim großen UN-Migrationsgipfel im September 2016 in New York gezeigt. „Da waren nur sieben Organisationen aus ganz Afrika dabei. Wie sollen wir so mitreden?“

In Mauretanien, Mali, Sierra Leone und seit Kurzem auch in Togo unterstützt medico zivilgesellschaftliche Akteure, die sich für den Schutz und die Rechte von Migrantinnen und Migranten einsetzen. Bei den Partnerorganisationen wächst das Interesse, sich länderübergreifend zu vernetzen – gegen Europas Grenzregime, aber auch gegen die eigenen Regierungen. Daher hat medico auch die Konferenz in Lomé als wichtigen Schritt gefördert, gemeinsam die Stimme zu erheben. Spendenstichwort: Migration


Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen>Jetzt abonnieren!


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