New Orleans, Gleneagles, Ramallah

19.08.2005   Lesezeit: 5 min

Verständigung in Zeiten von Spaltung und Simulation – Der Rundschreiben-Kommentar von Thomas Gebauer.

I.

So unerhört das Geschehen, so symptomatisch ist es für die Zeit. Im Untergang von New Orleans spiegelt sich eine Entwicklung, die längst zu einem globalen Phänomen geworden ist. Zivile Urbanität, die moderne und gewiss umweltgerechteste Form menschlichen Zusammenlebens, ist in ihren Grundfesten bedroht. Überall auf der Welt werden Städte das Opfer von Verteilungskämpfen und von den Folgen der globalen ökologischen Katastrophe. Überall leistet die Zersiedlung der Umwelt Energiekrise und Klimaveränderung Vorschub. Auf besonders krasse Weise zeigt sich das in New Orleans. Es ist die globale Entfesselung des Kapitalismus, die die gesellschaftliche Entsolidarisierung vorantreibt und dabei den Zusammenbruch der städtischen Gemeinwesen in Kauf nimmt.

Die Katastrophe von New Orleans hat ein Gesicht. Ihre Opfer sind Schwarze, Mittellose, Alte, sozial Marginalisierte - Menschen, die schon lange vor der Katastrophe alleingelassen wurden. Seit Jahrzehnten gab es in New Orleans praktisch keine urbane Sozialpolitik mehr. Alle, die es sich irgendwie leisten konnten, sind in die Vorstädte abgewandert. Nicht in Schulen, die Bekämpfung des Analphabetismus und Arbeitsplätze wurde investiert, sondern in Überwachungstechnologie und private Sicherheitsdienste, mit der sich die "suburbs" von den sozialen Problemen der Stadt abzuschotten versuchten. Die skandalöse Ignoranz der privilegierten Mittelschichten und Reichen gegenüber den Nöten der Armen wurde unübersehbar, als die Stadt unterging. Erst mit großer Verzögerung liefen Hilfsmaßnahmen an. Es schien, als wären die Menschen von New Orleans schon lange vor der Katastrophe in Vergessenheit geraten, nicht mehr existent. Und so wundert es auch nicht, dass viele der späteren Rettungsaktionen an Zwangsumsiedlungen erinnerten. Blankes Entsetzen lag in den Gesichtern der nach Houston und Alabama Ausgeflogenen. Sie wussten, dass sie niemals mehr zurückkommen werden und ihnen noch das wenige genommen wurde, an dem sie sich in der Katastrophe so verzweifelt festzuhalten versuchten.

II.

Auch in Afrika geht es um die Frage, ob Rettung überhaupt gewollt ist. Die moralische Dimension dieser Frage liegt auf der Hand. Gänzlich unerträglich ist die Vorstellung, dass mit Afrika bald ein ganzer Kontinent kollabieren könnte: stranguliert durch ungerechte Wirtschaftsbeziehungen und innere Korruption, geschwächt durch kulturelle Entwurzelung und soziale Zerrüttung, zerstört durch Banditen und multinationale Firmen, aufgerieben in wachsender Gewalt und um sich greifenden Epidemien wie AIDS und Tuberkulose.

Millionen von Menschen haben in diesem Sommer für die Erhöhung der Hilfe für Afrika und die Streichung der Auslandsschulden demonstriert. Im Zentrum des weltweiten Einspruchs standen die "Live Aid"-Konzerte von Bob Geldof, die – im Kontrast zum parallel tagenden G8-Gipfel – diesmal "Live 8" hießen. So beeindruckend die moralische Entrüstung der vor allem jugendlichen Demonstranten und so überzeugend auch der Protest der Menschen am Ort des Gipfels im schottischen Gleneagles, so bedenklich der Missbrauch von Moral und von Protest durch Musikindustrie und profilsüchtige Showstars. Man habe alles erreicht, schwärmte Bob Geldof, als er von den Mächtigen dieser Welt empfangen wurde. Die Demonstranten staunten nicht schlecht. Denn außer der Absichtserklärung für mehr Hilfe und der Streichung von Schulden, die längst abgeschrieben und auch den Wirtschaftsbossen ein Dorn im Auge waren, blieb die Welt wie sie war. Naivität, Unwissenheit, Narzissmus? "We should never need another event like it", feiert sich Bob Geldof mit fast schon pathologisch anmutender Selbstüberschätzung im Vorwort des "Official Live 8 Book". - Die Solidarität mit Afrika kanalisiert im professionell inszenierten Medienevent, der moralische Einspruch auf bedenkliche Weise entpolitisiert? Humanitäres Engagement aber, das den politischen Kontext falsch deutet oder ausblendet, läuft immer Gefahr, zur Kollaboration mit den Tätern zu verkommen. Welche Obszönität darin stecken kann, das verdeutlichte Bob Geldof im Interview: "Wenn Live Aid bereits während des Zweiten Weltkrieges bestanden hätte, und wenn wir davon gehört hätten, dass in Konzentrationslagern Menschen sterben würden, - hätten wir es abgelehnt, Nahrungsmittel und Hilfen in diese Lager zu bringen? Natürlich nicht!"

III.

August 2005. Zum ersten Mal tritt das "West-Eastern-Divan-Orchestra", das 1999 von Daniel Barenboim, dem weltberühmten israelischen Dirigenten, zusammen mit dem inzwischen verstorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said gegründet wurde, im palästinensischen Ramallah auf. Wie kaum eine andere Initiative, lebt das Orchester eine Utopie: Junge Menschen aus Israel und den arabischen Ländern können gemeinsam musizieren. Unsicherheit und Angst bewegte viele der Musiker auf dem Weg nach Ramallah, einem der Brennpunkte des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Manche waren noch nie in einer arabischen Stadt. Und nun - parallel zum Abzug der Siedler aus dem Gaza-Streifen - ihr Einzug in die Westbank? Das Konzert "Freiheit für Palästina", von Arte übertragen, ließ alle Sicherheitsbedenken in Vergessenheit geraten. Von den Zuschauern enthusiastisch gefeiert, spielte Barenboim Beethovens Fünfte mit einem Furor, der nur als Protest gegen jene Mauer zu verstehen war, die Israel von Palästina trennt. Und dass es auch anders geht, dass Zusammenleben möglich ist, das zeigte auf wunderbare Weise ein israelisch-ägyptisch-syrisch-palästinensisches Bläserquartett, die Solisten einer Mozart-Symphonie. Am Ende des Konzerts, dessen Zustandekommen Jahre der Vorbereitung erfordert hatte und dennoch erst den Anfang eines mühsamen Verständigungsprozesses bedeutete, sagte Barenboim mit wohltuender Bescheidenheit: "Das hier wird uns nicht den Frieden bringen, aber wir können lernen, einander zu verstehen und aufeinander zu hören. In diesem Orchester kann sich jeder frei ausdrücken und gleichzeitig die Version des anderen hören. Das Ziel des einen ist auch das Ziel des anderen. Entweder wir bringen uns alle um – oder wir lernen zu teilen."


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