„Es ist katastrophal“ – die Antwort eines medico-Partners aus Rojava fällt knapp aus, auf die Frage wie sich die letzten türkischen Angriffe vom Oktober 2023, über die Weihnachtstage und vom 13.-15. Januar auf das Leben vor Ort auswirken. Seit Monaten leben sie unter akutem Mangel an allem, jetzt hat sich die Situation erneut zugespitzt. Durch die letzten Luftangriffe des türkischen Militärs sind die zentrale Gasförderanlage, Elektrizitätswerke, Ölfelder und die größte Ölraffinerie im Kanton Jazeera nicht mehr funktionstüchtig. Während die Anlagen bei vergangenen Angriffen getroffen, notdürftig geflickt und eingeschränkt wieder in Betrieb genommen werden konnten, sind Ersatzteile nun nicht mehr zu beschaffen. Die Wasser- und Stromversorgung für knapp eine Million Menschen ist damit nicht mehr gewährleistet.
Auch andere Teile Nordostsyriens sind ohne Strom und Wasser. Der lokal raffinierte Diesel wird nicht nur für Transportmittel benutzt, sondern dient auch zum Heizen im Winter. In jedem Haushalt – auch in Flüchtlingszelten – befinden sich Ölheizungen. Diesel wird ebenfalls für überlebensnotwendige Generatoren gebraucht, die bei Stromausfällen eingesetzt werden. Können diese nicht mehr in Betrieb genommen werden, geht das Licht endgültig aus. Ohne Stromversorgung stehen die Wasserpumpen still.
Die größte Förder- und Verteilanlage von Gas ist inzwischen auch vollständig zerstört. Damit ist auch die Versorgung zum Erliegen gekommen. Gas wird in der gesamten Region zum Kochen benötigt, auch in den Flüchtlingslagern. Der ökonomische Schaden für die Selbstverwaltung ist enorm: Bisher ermöglichten die Steuereinnahmen aus dem Ölverkauf der Selbstverwaltung unter anderem die Finanzierung öffentlicher Dienste und der Subventionierung überlebenswichtiger Güter für die Bevölkerung. Nun wurden öffentliche Dienste eingestellt, Subventionen sind nicht mehr möglich, weil es schlicht nichts mehr zu verteilen gibt.
Gesellschaft unter Beschuss
Auch Krankenhäuser, Gesundheitszentren, Getreidefabriken und Bildungseinrichtungen sind von den Auswirkungen betroffen. Aufgrund des Treibstoffmangels können Notstromaggregate nur einen Bruchteil des Strombedarfs decken. Die neu eröffnete Krebsstation des Kurdischen Roten Halbmonds kann deshalb nicht in Betrieb genommen werden. Gesundheitseinrichtungen wurden vielerorts aber auch direkt durch Luftangriffe zerstört. So im Dezember, als die vom Mainzer Verein „Armut und Gesundheit“ unterstützte Diabetesklinik in Kobane getroffen und ein Dialysezentrum Qamislo bombardiert wurde.
Auch die wichtigste Druckerei für Schul- und Universitätsbücher wurde von Raketen getroffen. Sie vertrieb Bücher für über 800.000 Schüler:innen in mehr als 4.400 Schulen in der Region. Bei dem Angriff starben sechs ihrer Mitarbeiter:innen. Darüber hinaus wurden zwei Zementfabriken, ein Weizen- und Saatgutlager, eine Olivenölfabrik, eine Kunststofffabrik, ja sogar ein Hochzeitssaal zerstört. Menschenrechtsorganisationen und humanitäre Helfer:innen mahnen mit großer Deutlichkeit, dass Luftangriffe auf zivile Infrastruktur, auf Krankenhäuser, Schulen, Getreidespeicher und gezielten Tötungen durch Drohnen Verbrechen nach dem Völkerrecht darstellen.
Der türkische Präsident und sein Verteidigungsminister begründen die Angriffe als Reaktionen auf einen Anschlag und Kämpfe mit der Guerilla der kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei und im Nordirak. Dass es keine nachgewiesene Beteiligung aus Nordostsyrien gibt und die Angriffe vorrangig die zivile Bevölkerung treffen, scheint nebensächlich. Damals wie heute besteht keine konkrete Bedrohungslage, die eine „präventive Selbstverteidigung“ der Türkei rechtfertigen würde. Vielmehr geht es Erdogan um die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung, die unumkehrbare Zerstörung der demokratischen Selbstverwaltung und ihrer Existenzgrundlagen. Vor diesem Hintergrund fordern syrische Organisationen internationale Unterstützung ein und klagen diese Kriegsverbrechen an. Sie bleiben dabei jedoch weitest gehend ungehört – der Blick des Westens ist auf andere Schauplätze konzentriert.
Keine Verantwortung nirgends
Der Zerstörungswut der türkischen Regierung sind keine Grenzen gesetzt, selbst das Kriegsrecht zählt nichts mehr. Stéphane Dujarric, Sprecher des UN-Generalsekretärs, zeigte sich Ende letzter Woche tief besorgt über die anhaltenden Angriffe auf zivile Infrastruktur und die Sicherheit der zivilen Bevölkerung in Nordostsyrien. Er betonte auch, dass die humanitäre Hilfe "deutlich unterfinanziert" sei. Aufgegriffen wurde diese besorgte Erklärung nicht. In der öffentlichen Berichterstattung findet dieser Krieg und die humanitäre Lage in der Region kaum noch Platz – es scheint, als würden die ewig gleichen Meldungen aus der Kriegsregion ermüden. Die Verletzung von Völkerrecht ist in diese Zeiten kein Skandal mehr.
Die Bundesregierung sowie andere internationale Akteure üben sich in Gleichgültigkeit – der Krieg in Syrien, die gewaltvolle Vertreibung der Kurd:innen durch Erdogan bedarf nicht mal mehr einer besorgten Kommentierung. Völker- und Menschenrecht sind offensichtlich keine leitenden Werte in den außenpolitischen Strategien der Regierungen in EU oder NATO. Selbst humanitäre Hilfe ist in Syrien inzwischen zum Spielball der beteiligten internationalen Akteure geworden, anstatt dort zum Einsatz zu kommen wo sie dringend benötigt wird – darunter leiden Millionen hilfsbedürftige Menschen in Nordsyrien.
Währenddessen warten die Inhaftierten und Bewohner:innen des IS-Lagers al Hol nur auf die Chance eines erneuten Aufstands, um mit Unterstützung der Türkei nahen Milizen das IS-Kalifat zu reorganisieren. Die permanente Bedrohung von Gefängnissen, Flüchtlingslagern und Rehabilitationszentren durch die türkischen Angriffe, aber auch durch die immer prekärer werdende Versorgungslage, erhöht diese Gefahr.
Der Gaza-Krieg setzt nun zusätzlich Dynamiken in Gang, die sich auch auf Syrien auswirken: Iranische Raketen als Antwort auf den IS-Anschlag in der iranischen Stadt Kerman trafen nicht nur Ziele in Kurdistan-Irak, sondern schlugen auch im Nordosten in der Nähe eines IS-Gefängnisses ein, in dem auch Jugendliche inhaftiert sind. Eine brandgefährliche Konstellation.
Was uns bleibt?
Etwas Hoffnung machen Initiativen wie die Strafanzeige des ECCHR bei der Bundesstaatsanwaltschaft wegen Völkerrechtsverbrechen in Afrin. Nach dem Weltrechtsprinzip ist es möglich, dass die deutsche Bundesstaatsanwaltschaft Völkerrechtsverbrechen in der Region nachgeht. Im Fall der türkischen Besetzung von Afrin vor sechs Jahren hat unter anderem der wissenschaftliche Dienst der Bunderegierung die damalige türkische Bodenoperation „Olivenzweig“ als völkerrechtswidrig eingestuft – doch bis heute setzen sich dort Gräueltaten, verübt von radikal-islamistischen Milizen, fort. Die Klage ist daher ein wichtiger Schritt für Gerechtigkeit in der Region.
Auch die medico-Partner:innen in Nordostsyrien geben nicht auf und machen weiter, soweit es ihnen möglich ist. Was bleibt auch sonst? Gehen werden sie nicht, das ist keine Option. „Endlich haben wir Rechte und sind wesentlicher Teil einer Gesellschaft. Diese Erfahrung“, so formuliert es einer unser Partner, „kann keine Drohne oder Rakete kaputt machen.“
medico steht den Menschen in Rojava, unter ihnen eine Million Binnenflüchtlinge, weiter solidarisch zur Seite. Mit einem Nothilfeprojekt unterstützen wir den Kurdischen Roten Halbmond dabei, Schäden infolge der Angriffe zu beheben und die Wasserversorgung für knapp 200.000 Menschen sicherzustellen.