Nicaragua: Armut als Problemtrance

18.08.2006   Lesezeit: 7 min

Zur Armutsbekämpfung gehört wesentlich mehr als das Hoffen auf den Trickle-Down-Effekt. Ein Zwischenbericht aus La Palmerita. Von Walter Schütz, Managua

Der Generalsekretär der Sandinistischen Befreiungsfront Comandante Daniel Ortega Savedra gewann am fünften November in Nicaragua nach 16 Jahren Opposition im vierten Anlauf mit 38 Prozent der gültigen Wählerstimmen die Direktwahl zum Präsidenten. Was er nicht gewann, ist die Staatsmacht. Im Parlament besitzt seine Partei keine Mehrheit. Die beiden noch gespaltenen Oppositionsfraktionen der liberalen Partei verfügen dagegen über eine satte Mehrheit. Ohne die Mitwirkung zumindest eines Teils der Liberalen kann Ortega kein Gesetz durchbringen. Ja noch mehr: Er kann nicht einmal einen Minister oder Botschafter ernennen. Vor gut einem Jahr gelang es ihm mit Hilfe der Liberalen, eine Verfassungsreform durchzusetzen, wonach Minister und Botschafter in Zukunft vom Parlament bestätigt werden müssen. Jetzt tappte der Comandante in seine eigene Falle. Um jeden Minister wird es eine Zockerei geben. Nach dem Motto: Machst Du mir dieses Zugeständnis, bestätige ich Deinen Minister. Die politische Paralyse des Landes ist vorprogrammiert.

Um Panik vorzubeugen ging Ortega nach seinem Wahlsieg zum Ex-US-Präsidenten Jimmy Carter, der in Nicaragua als Wahlbeobachter weilte, damit dieser der Bush-Administration signalisiere: die Kontinuität der liberalen Politik aus den letzten 16 Jahren sei garantiert. Als nächstes traf er sich mit 200 in- und ausländischen Bänkern, Unternehmern und Investoren. Die zuerst skeptischen Kapitalisten klatschten ihm am Schluss Beifall. Dann empfing er den Wahlverlierer und zukünftigen Fraktionsvorsitzenden im Parlament, den Bankier Eduardo Montealegre und erklärte vor den Fernsehkameras, hier gäbe es keine Gewinner und Verlierer. Erst viel später trifft er sich mit Gewerkschaftlern. Er brauchte fast eine Woche, um mit seinen Anhängern auf einem Massenmeeting den Wahlsieg zu feiern. Nun kamen von ihm ganz andere Töne. Hatte er im Wahlkampf noch von der "Ausrottung der Armut - unserem einzigen Feind" gesprochen, beschwor er nun die Anhänger still zu halten, der Staat werde schon für sie sorgen.

Ortega setzt wie alle anderen Präsidentschaftskandidaten auf den sogenannten Trickle-Down-Effekt. Ein günstiges Investitionsklima soll für Investitionen sorgen. Das schafft schließlich Arbeitsplätze und reduziert die Armut. Mario de Franco, zurückgetretener Agrarminister und Chefplaner der vorherigen Regierung, hat am Welternährungstag der FAO auf einer Veranstaltung nachgewiesen, dass das nicht funktioniert. Obwohl Nicaragua in den letzten zehn Jahren bedeutende Zuwächse im Agrarexport und ein kontinuierliches Wachstum verzeichnet, liegt die chronische Unternährung der Kinder im Land bei 27%. Das heißt fast ein Drittel der Kinder bleibt im körperlichen Wachstum und in der intellektuellen Entwicklung zurück.

Armut ist nicht nur ökonomische Armut. Armut ist eine Kultur. Und wer Armut bekämpfen will, muss sich mit dieser Kultur auseinandersetzen. Es reicht nicht, die makroökonomischen Zahlen zu verbessern oder ein paar Hektar Land zu verteilen. medico international hat erfolgreich im Projekt El Tanque mit 167 Kleinbauernfamilien, die ihr Hab und Gut als Folge der Hurrikankatastrophe Mitch verloren haben, die Armut bekämpft und den Nachweis erbracht, dass das in Nicaragua machbar ist. Aber nur wenn man bereit ist, nicht nur Land zur Verfügung zu stellen, sondern auch Bildung, psychosoziale Betreuung und demokratische Rechte.

Basierend auf den Erfahrungen aus El Tanque sind wir seit einem Jahr gemeinsam mit unserer Partnerin, dem "Movimiento de Mujeres María Elena Cuadra" aus León in einem neuen Projekt tätig: Mit ehemaligen Tagelöhnern aus den Kaffeeanbaugebieten Nicaraguas bauen wir auf der 500 Hektar großen Hazienda "La Palmerita" ein neues Dorf auf. Dabei sind wir täglich mit der Kultur der "Ärmsten der Armen" konfrontiert.

Hier nur einige Symptome: Die 153 Familien besitzen seit fünf Jahren Land. Zwar ohne Landtitel, aber offiziell von der Regierung zugewiesen. Aber sie waren bislang nicht in der Lage, es zu bewirtschaften. Als ehemalige Tagelöhner auf den Kaffeefincas im Norden des Landes waren sie gewohnt, morgens ihre Arbeitsanweisung zu erhalten. Ein Parzellenbauer dagegen muss ein Minimum an Planungs- und Abstraktionsfähigkeit besitzen.

Sie waren gewohnt dorthin zu ziehen, wo sich ihnen Arbeit anbietet. Die Habe passt in einen Sack. Diese Entwurzelung kann man nur leben, wenn man sich mit nichts identifiziert. Keine Verantwortung tragen zu können, aber auch Promiskuität sind Teil dieses sozialen Erlebens. Die "Armut der Ärmsten" übt vor allen Dingen einen Zwang aus: um jeden Preis überleben zu wollen. Das Selbstwertgefühl für den eigenen Körper ist dabei ein Luxus. Armutskrankheiten werden verschleppt. Die Ernährer der wenigen intakten Familien haben zudem ein schwaches Selbstbewusstsein. Auf ihnen lastet der drohende Misserfolg, die Familie nicht unterhalten zu können. Allzu häufig wird dieser Misserfolg mit innerfamiliärer Gewalt kompensiert: Der "Herr im Haus" ist das letzte Selbstwertgefühl, das noch bleibt. Auch das Bildungsniveau ist sehr niedrig. In La Palmerita waren 56% der Erwachsenen Analphabeten.

Die "Ärmsten der Armen" entwickeln besondere Überlebenstechniken. Sie leben in einer Art Problemtrance. Ständig ist man auf der Suche nach Gelegenheitsjobs oder Saisonarbeit, nach Nahrungsmitteln, nach Medikamenten. Zu den Überlebenstechniken zählen notgedrungen auch: um Almosen bitten, Diebstahl und Prostitution. So überlebt man Tag für Tag, hat aber noch nicht einmal die Sicherheit für eine Woche. Man hat sich abgewöhnt, in längeren Zeiträumen zu denken und zu planen. Und da das Leben nur aus Problemen besteht, werden permanent Schuldige gesucht und in irgendeiner Form bestraft. Oder das innere Unbehagen über das eigene Schicksal wird externalisisiert, auf andere projiziert. Beides führt zu Aggressionen untereinander und gegenüber dem Umfeld.

Aber, und das ist wichtig: Mit diesen Lebenspraktiken haben sie überlebt! Und nun sollen sie sich "entwickeln", ihr gewohntes System verlassen. Langfristig denken. Im April einen Produktionsplan machen, Monate geduldig das Feld bearbeiten, um dann im Dezember, falls das Wetter gut war, zu ernten. Von dem Erntegewinn wieder einen Teil zurücklegen oder den Kredit bezahlen, um im nächsten Agrarzyklus wieder Geld für Samen, Feldbearbeitung usw. zu haben. Eine völlig andere Welt, ein anderes System. Das schafft Unsicherheit und bei manchen Angst. Der Wandel vom Tagelöhner zum Produzenten ist ein kultureller Wechsel. Und nicht jeder will ihn so einfach mitmachen.

Um diesen Wandel zu vollziehen, bedarf es einer professionellen Begleitung, die diese Problematik kennt, akzeptiert und bereit ist, immer wieder dazuzulernen. Für den Wandel braucht es einen abgestuften, sehr flexiblen Plan. Man muss bereit sein, das damit verbundene und notwendigerweise immer wieder auftretende Chaos zu ertragen. In Palmerita begannen wir damit, Nahrungsmittel für die Bewohner zu beschaffen. Aber sie bekamen sie nicht geschenkt, sondern verdienten sie sich durch Gemeindearbeit: Felder wurden entwurzelt, Drainagekanäle für Regenwasser repariert, Wege angelegt, Brunnen ausgegraben. Es gab genug zu tun.

Das Selbstvertrauen der Neusiedler wurde auch durch gezielte Weiterbildung gestärkt. Es finden Aus- und Fortbildungskurse statt. Wir haben mit Alphabetisierungskursen begonnen und geplant ist, dass auch Erwachsene den Grundschulabschluss nachholen können. Heute gibt es fast keinen mehr, der auf den Anwesenheitslisten der Workshops ein Kreuz statt einer Unterschrift macht.

Im Januar begann die Grundschule für Erwachsene. Hier geht es in praktischen Beispielen um Rechnen und Lesen. Das ist nötig für die Planung der eigenen Wirtschaft, aber auch dafür, die Beschlüsse der noch zu bildenden Genossenschaft überprüfen zu können. Hinzu kommt die landwirtschaftliche Ausbildung, um die Produktion auf der eigenen Parzelle zu diversifizieren und erfolgreich am eingerichteten Kreditsystem teilnehmen zu können. Wie aber lernt man langfristig zu denken? Jede Familie hat die Verantwortung für 100 Jungbäume, die um ihre Grundstücke herum oder im Hausgarten stehen. Erst in vier bis fünf Jahren werden sie ertragreich sein.

Wichtig ist die Organisation in der Gemeinde mit einer demokratisch gewählten Führung. Langsam lernen die ehemaligen Tagelöhner ihre Meinungsverschiedenheiten auf Versammlungen so auszutragen, dass ein Zusammenleben in der entstehenden Gemeinde möglich ist. Das begleitende Team aus León lernt jeden Tag mehr über Konfliktmanagement.

Gesundheitsprävention ist eine weitere Projektkomponente. Die Krätze ist inzwischen ausgerottet. Ein wichtiges Element ist auch psychosoziale Betreuung. In Einzelgesprächen und in Gruppenarbeit geht es darum, die Traumata der Armut zu heilen. Die Problemtrance löst sich langsam auf. Für das tägliche und mittelfristige Leben finden sich wieder Lösungen. Es kann wieder von einer besseren Welt geträumt werden.


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