Vor 25 Jahren stürzten die Sandinisten die Diktatur. Bericht von medico-Mitarbeiter Walter Schütz aus Managua
Wir waren euphorisch im Sommer des Jahres 1979. Nach jahrelangem Guerillakrieg war es der sandinistischen Befreiungsfront FSLN gelungen, den Diktator Somoza zu stürzen. Unvergessen ist der Einzug der muchachas und muchachos am 19. Juli in Managua, die Trauben meist junger Menschen auf den Türmen der alten Kathedrale, das Meer bunter Fahnen, das erste öffentliche Auftreten der Commandantes, der Jubel und die Begeisterung der Menschen. Das war keine Demonstration von Macht, sondern ein Fest der Spontaneität und Freiheit.
Fest der Freiheit
Historiker sahen diesen Vorgang später nüchterner. Was der Revolution schließlich zum Triumph verholfen habe, sei eine besondere politische Gemengelage gewesen. Die Befreiungstheologie habe eine Rolle gespielt, die Menschenrechtspolitik von Jimmy Carter, die Stagnation der nicaraguanischen Wirtschaft und die Widersprüche zwischen dem repressiven Zentralismus der Diktatur und dem Anspruch der Gesellschaft auf Teilhabe. All das mag zutreffend sein, erklärt aber nicht hinreichend das Geschehen.
In den Jahrhunderten zwischen der Kolonisierung Nicaraguas und der ersten direkten Intervention der USA Anfang der 30 er Jahre, die den Somoza- Clan an die Macht brachte, existierte das Land in relativer Bedeutungslosigkeit. Die permanenten Scharmützel zwischen Leonesern und Granadinern, zwischen Konservativen und Liberalen glichen eher jener behäbigen Daseinsform, wie sie Garcia Marquez in »Hundert Jahre Einsamkeit« beschrieben hat, als einem Kampf um Programme und Konzepte. Letztendlich wiederholte sich über drei Jahrhunderte hinweg immer nur das gleiche: Mit der Berufung auf die göttliche Vorsehung usurpierte mal die eine, mal die andere Gruppe die Macht.
Göttliche Vorsehung
Seit der päpstlichen Legitimierung der Unterwerfung Lateinamerikas als göttliche Vorsehung im Jahre 1493 wurde Nicaragua mit absolutistischer Macht beherrscht. Es gab keine Renaissance, keine bürgerliche Revolution, keine Herausbildung eines Nationalstaates. Stattdessen Stagnation und Passivität. Die politischen Parteien hatten kein Programm, waren nur »Wahlvereine« der jeweils herrschenden Präsidenten. Alle nach der Unabhängigkeit von Spanien gehaltenen Regierungserklärungen waren gespickt mit pathetischen Verweisen auf die Vorsehung, haben aber nie ein Wort über die soziale Verantwortung von Politik verloren. Was Wunder, dass selbst die gelegentlichen Massaker an der einheimischen Bevölkerung noch als göttliche Vorsehung betrachtet wurden.
Erst mit dem wachsenden Einfluss der USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts taucht eine neues Muster in der Legitimation nicaraguanischer Politik auf: ein politischer und militärischer Pragmatismus. Unter der Fahne des Panamerikanismus verkündeten die USA die begrenzte Souveränität der lateinahttps://sicher.medico.de/backend/magazines/edit/20/merikanischen Staaten und gaben sich selbst ein absolutes Interventionsrecht. Die nicaraguanischen Eliten fügten sich, wurden selbst zu Pragmatikern der Macht, umgaben sich aber nach außen mit der Aura des Opfers. Dieser »resignierende Pragmatismus« sei nichts anderes als die säkularisierte Form der Vorsehung, erkannte der nicaraguanische Soziologe Andrés Pérez Baltodano. Fast 50 Jahre lang ertrugen die Eliten die Herrschaft des Diktators Somoza.
Und sie fuhren nicht schlecht. Das Bruttosozialprodukt wuchs mit zeitweise 10-prozentigen Steigerungsraten, die Kaffee- und Baumwollexporte nahmen zu, das Straßennetz konnte ausgebaut werden, selbst eine Sozialversicherung wurde eingeführt, wenn auch nur für eine Minderheit der Bevölkerung. Tatsächlich fand so etwas wie eine Modernisierung Nicaraguas statt. Eine Modernisierung, die jedoch jeder zivilen Kontrolle entzogen war und allein unter dem Kommando des Somoza-Clans und seiner berüchtigten Nationalgarde stand.
Aus der Passivität in den Widerstand
Nur vor dem Hintergrund dieser Geschichte wird der Sieg der FSLN verständlich. Zu seinen wichtigsten Voraussetzungen zählte die Überwindung des lähmenden Syndroms aus Vorsehung und resignierendem Pragmatismus. Zunächst unter den Studenten, dann in den Städten schließlich auf dem Land gelang der FSLN die Mobilisierung für den Widerstand.
Der Kampf um die Köpfe der Bevölkerung, um ihre politische Kultur spielte in der sandinistischen Bewegung auch noch nach der Vertreibung Somozas eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle. Systematisch förderten die Sandinisten mit kulturpolitischen Programmen eine Veränderung der nationalen Realität. Für die Poetin und damalige Vize-Kulturministerin Daisy Zamora war der »revolutionäre Triumph ein kultureller Triumph. Nicaragua braucht ein neues Konzept und eine neue Praxis der Kultur. Eine Konzeption, die auf die Interessen, die Ideale und Hoffnungen der Menschen antwortet, die andererseits selbst Autor, Verbraucher und Protagonist dieses Konzeptes sind.« Gerade der basisdemokratische Anspruch, der Impuls auf Selbstverwaltung in allen Bereichen der Gesellschaft machte die nicaraguanische Revolution so anziehend für so viel Menschen auch außerhalb des Landes.
Ein Kulturministerium entstand, an dessen Spitze der Priester, Schriftsteller und Bildhauer Ernesto Cardenal stand. Überall im Lande gründeten sich Dichterwerkstätten, bauten die Gemeinden Kulturhäuser und blühten Tanz, Malerei und Musik auf. Außergewöhnlich auch das erste nationale Filminstitut, die neuen Kommunikationsmittel, die Radiostationen, Fernsehsender, die Zeitungen. An die Stelle der Vorsehung trat die aktive Beteiligung der Bevölkerung.
Höhepunkt der neuen Kulturpolitik war fraglos die nationale Alphabetisierungskampagne im Jahr 1980. Schülerinnen und Schüler aus den Städten gingen aufs Land, um dort den Menschen Lesen und Schreiben beizubringen. Auf diese Weise erfuhren die jugendlichen Stadtbewohner erstmals auch etwas von den ländlichen Lebensbedingungen und dem Kampf der campesinos ums Überleben. Die traditionelle Spaltung zwischen Stadt und Land begann zu schwinden, das Pflänzchen für eine nicaraguanische Identität wuchs.
Politische Teilhabe der Bevölkerungsmehrheit
Noch heute liest sich das Programm der FSLN mit seinen zentralen Ideen von nationaler Souveränität, sozialer Gerechtigkeit und partizipativer Demokratie als Antwort auf die historische Erfahrung von Intervention, Massenarmut und Unterdrückung. Auch die ersten Regierungsprogramme nehmen diese Ideen auf und formulieren politischen Pluralismus, gemischtes Wirtschaftssystem und Blockfreiheit. Da niemand über fertige Rezepte verfügte, blieb vieles offen, um sich über sorgfältige Reflexionsprozesse in der Praxis entwickeln zu können. Die notwendige Zeit aber blieb Nicaragua verwehrt. Die USA betrachteten Nicaragua als Gefahr. Sie zwangen dem Land den blutigen Contrakrieg auf und sorgten mit Boykottmaßnahmen für seine wirtschaftliche Strangulation. Die Hoffnung auf Befreiung und Selbstverwaltung verschwanden, lange bevor die Sandinisten 1990 abgewählt wurden. Vom Westen isoliert, blieb Nicaragua nur die Anlehnung an den Osten. Unter dem äußeren Druck wurden auch innerhalb der Sandinisten jene Kräfte stärker, die auf zentralistische Strukturen setzten. Realsozialistische Kolchosenmodelle schienen ihnen wirksamer, um die fehlenden Nahrungsmittel zu produzieren, als die im Lande praktizierten Formen von Gemeineigentum, wie etwa an der Costa Atlantica.
Die Idee von Basisdemokratie verschwand immer mehr hinter einer pseudolinken Phraseologie, und aus Ansätzen der Selbstverwaltung wurde eine Planung von oben. Eine kritische Reflexion wurde unterbunden. »Jede Stimme in der Partei, die moderate Töne verlangte, war verdächtig. Stattdessen erhielten wir, wenn wir uns in den alten Wassern der orthodoxen Ideologie badeten, unser Zertifikat der Tugendhaftigkeit«, schrieb später Sergio Ramirez.
Die Rückkehr der Vorsehung
Diese schleichende Veränderung der sandinistischen Politik passte auf fatale Weise in das alte Muster, das die Sandinisten eigentlich durchbrechen wollten. Die mechanistische Auslegung des dialektischen Materialismus mit ihren historischen Abfolgen von Gesellschaftsformationen wirkte wie ein passives Sich-Einfügen in ein »höheres Gesetz«.
Die US-Intervention mit ihren verheerenden wirtschaftlichen Folgen macht der Revolution schließlich den Garaus. 1990 wurde Violetta Barrios de Chamorro als Kandidatin einer oppositionellen Vielparteienkoalition zur Präsidentin gewählt. Ihr Schwiegersohn Antonio Lacayo hatte ihr ein besonderes Wahlkampfkonzept verpasst. Im weißen Kleid, mit der Aura der Vorsehung die Hände zum Himmel gehoben, reiste sie in einer Art Papamobil durchs Lande. Sie gewann die Wahlen, und in alter Tradition sprach sie in ihrer Regierungserklärung, dass sie sich auf Gott und den Pragmatismus stützen würde.
Walter Schütz, Managua