Nicaragua: Dies ist mein Dorf

19.08.2005   Lesezeit: 5 min

**Von Walter Schütz. Gemeindeentwicklung in Zeiten der Globalisierung. Katastrophenerfahrungen aus Nicaragua **

Liebe Kolleginnen und Kollegen in Indien und Sri Lanka,

mit großem Entsetzen habe ich die Bilder und Nachrichten von dem Seebeben und den vielen Opfern in Euren Ländern zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig wurden bei mir sofort Erinnerungen an ähnliche Situationen hier in Mittelamerika wach. Neben den Kriegssituationen in den 80er Jahren wurden die kleinen Länder immer wieder von Katastrophen wie Erdbeben, Seebeben und Hurrikans heimgesucht. Das letzte katastrophale Ereignis dieser Art war 1998 der Hurrikan Mitch, der in Mittelamerika Tausende von Toten, Verletzten und Obdachlosen hinterließ.

Kennengelernt haben wir unsere zukünftigen "Partner" das erste Mal in Notunterkünften, in Schulen und stillgelegten Lagerhallen. Sie waren die Überlebenden eines Erdrutsches am Vulkan Casita. Eine Schlammlawine hatte dort 2500 Menschen unter sich begraben. Die Überlebenden, Familien, Teilfamilien, Waisen, waren apathisch, traumatisiert vom Verlust ihrer Bekannten, Freunde und Familienangehörigen. Das wenige, was sie noch besaßen, trugen sie auf ihren geschundenen Körpern. Eine erfahrene Frauenorganisation aus León begann die Obdachlosen zu organisieren, nahm die psychosoziale Arbeit mit ihnen auf, die wir noch jahrelang fördern sollten. Wir leisteten vor allem medizinische Nothilfe, immer mit der Perspektive des Wiederaufbaus und der Entwicklung. In der Praxis bedeutete dies, die Selbsthilfeorganisation der Obdachlosen von Anfang an zu stärken, damit sie möglichst schnell aus ihrer Situation als Hilfsempfänger herauskamen.

Heute, fast sieben Jahre nach der Katastrophe, lässt sich sagen, dass der Übergang von der Nothilfe zu Rehabilitation und Entwicklung gelungen ist. Überlebende der Katastrophe von damals haben mit unserer Unterstützung ein neues Dorf errichtet: El Tanque. 1000 Menschen leben und arbeiten in diesem Dorf. Die Kinder gehen dort zur Schule. Langsam entsteht ein Gemeinwesen, das für die Menschen Identität bietet.

Was waren die Voraussetzungen für diesen Erfolg? Einige kann ich nennen. Die Überlebenden nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Als die Regierung ihnen Land zum Neuansiedeln verweigerte, besetzten sie die Finca El Tanque. In einer – fast möchte man sagen – globalen politischen Anstrengung gelang es, die Besetzung zu legalisieren. Auf Bitten von medico und nach einem Besuch in El Tanque setzten deutsche Parlamentarier die nicaraguanische Regierung unter Druck. Die Verweigerung der Landtitel durch die Regierung war schließlich sogar Thema auf einer Geberkonferenz in Stockholm. Heute sind aus Besetzern Besitzer geworden. Die Bewohnerinnen und Bewohner von El Tanque verfügen über Land- und Haustitel. Welchen Wert das darstellt in Ländern, in denen es für die Armen eigentlich keinen Rechtsstaat gibt, könnt Ihr sicher gut ermessen. Dass heute in El Tanque Landwirtschaft betrieben wird, dass in gemeinsamer Arbeit die Häuser errichtet wurden, dass es eine Kooperative und ein Kleinkreditwesen und vieles andere mehr gibt, ist darauf zurückzuführen, dass nicht medico für die Bewohner von El Tanque etwas errichtet hat, sondern dass dies alles die Menschen selbst entwickelt haben.

In vielen Planungsseminaren suchten wir gemeinsam die Antwort auf die Frage: Was heißt eigentlich Gemeindeentwicklung im Zeitalter der Globalisierung? In Zeiten, in denen ganze Menschenströme hinter dem nomadisierenden Kapital herwandern. Eine solche Globalisierung ist Entortung. Gemeindeentwicklung ist das Gegenteil davon: einen Ort zu schaffen, zu dem die Einwohner sagen können, dies ist mein Dorf, "mi pueblo".

In diesen Seminaren haben wir auf der Grundlage der Theorie von den Grundbedürfnissen des chilenischen Entwicklungsökonomen Max Neef versucht, ein Programm zur Stärkung der Gemeinde auszuarbeiten. Zu den Grundbedürfnissen gehört selbstverständlich die Subsistenz, das Dach über dem Kopf, Wasser zum Trinken, das tägliche Brot, die Gesundheitsfürsorge. Dies ist notwendig, aber nicht hinreichend um zu sagen "voy a mi pueblo" (Ich gehe in mein Dorf). Die Gemeindemitglieder wollen auch teilhaben, mitgestalten können. Sie wollen gefragt werden, wie sie sich ihr zukünftiges Dorf vorstellen, und nicht unter dem Vorwand des Fortschritts irgendwelche urbanistischen Konzepte aufgezwungen bekommen. Ohne Teilhabe gibt es keine Identifikation, ein weiteres Grundbedürfnis. Gemeindeentwicklung heißt Sicherheit: Die Garantie, dass mir morgen nicht irgend jemand mein Häuschen, mein Land wegnehmen kann, dass die Gemeinde ein Netz der sozialen, aber auch der emotionalen Sicherheit ist. Über Gefühle in einer Machogesellschaft wie in Nicaragua offen zu reden, war ein besonders delikates Thema. Erst recht bei einer durch eine Katastrophe so verletzten Gemeinde, die vor allem die Männer durch scheinbare Härte zu überwinden suchten. Hier leistete unser Psychologenteam eine wichtige Arbeit, immer eingebettet in die gesamte Gemeindeentwicklung.

Unserer Erfahrung nach erwies sich als zentrales Mittel zur Stärkung der neuen Gemeinde die Bildung. Sie erfüllt eines der wichtigsten Grundbedürfnisse: die eigene Welt verstehen zu können, die Weitergabe des Generationenwissens. Nach einer Alphabetisierung der Erwachsenen in der Gemeinde (56 % der Erwachsenen waren Analphabeten) folgte eine Grundschulausbildung. Partizipation wurde so um vieles einfacher. Wenn ich die Mitteilungen der Genossenschaftsleitung lesen kann, wenn ich ihre Bilanz nachrechnen kann, ist das ein qualitativer Sprung in der Partizipation. Die Ausbildung gab mehr Sicherheit. Die Aufkäufer der Gemüseernte konnten nicht einfach irgendwelche Scheinrechnungen aufmachen, mit denen sie die Bäuerinnen betrogen. Der Bauer wusste, wenn er in der Genossenschaft einen Kredit aufnahm, was er zurückzuzahlen hatte.

El Tanque bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Über El Tanque wie über andere gelungene Projekte des Wiederaufbaus wurde im Netz der Nichtregierungsorganisationen reflektiert. Dieses Netz der Zivilgesellschaft ist sehr aktiv. Es ist ein Schutzschild für solche Projekte wie El Tanque. Wie in Südasien auch, flossen mit der Katastrophe viele und viele falsch eingesetzte Mittel nach Nicaragua. Das Netz der Zivilgesellschaft hat unablässig versucht, den Einsatz der Mittel, den Missbrauch und die Korruption aufzudecken. So gelang es, dass der damalige Staatspräsident mittlerweile wegen Veruntreuung hinter Gittern sitzt. Nur in diesem Wechselverhältnis zwischen Politik und Hilfe sind solche Projekte wie El Tanque überhaupt denkbar. Das ist eine wesentliche Erfahrung.

Es gäbe noch viel zu berichten und Erfahrungen auszutauschen. Ich bin sicher, dazu wird es kommen. In Eurem Bemühen, nicht das Elend wiederaufzubauen, sondern den Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen, wünsche ich Euch viel Erfolg.

Walter Schütz ist Projektkoordinator von medico international in Nicaragua


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