Niemand muss mehr gemein sein

18.08.2006   Lesezeit: 7 min

Slavoj Zizek über die neuen Philanthropen und deren "smarten" Pragmatismus.

Seit dem Jahr 2001 sind Davos und Porto Alegre die Zwillingsstädte der Globalisierung: Davos, das exklusive Schweizer Wintersportdomizil, wo sich die globale Elite von Managern, Staatsmännern und Medienprominenz unter massivem Polizeischutz zum Weltwirtschaftsforum trifft und versucht, uns - und sich selbst - davon zu überzeugen, dass das beste Allheilmittel gegen die Folgen der Globalisierung die Globalisierung sei. Porto Alegre, die subtropische brasilianische Stadt, wo sich die Gegeneliten der globalisierungskritischen Bewegung treffen und versuchen, sich selbst - und uns - davon zu überzeugen, dass die kapitalistische Globalisierung nicht unser unausweichliches Schicksal sei. Und dass - wie der offizielle Slogan lautet - "eine andere Welt möglich ist". Es hat jedoch den Anschein, dass die Treffen von Porto Alegre in den letzten Jahren irgendwie ihren Schwung verloren haben. Wir haben immer weniger davon gehört. Wohin sind die leuchtenden Sterne von Porto Alegre verschwunden?

Einige jedenfalls sind nach Davos weitergezogen! Den Ton von Davos bestimmten zur Zeit überwiegend eine Gruppe von Unternehmern, die sich selbst ironischerweise als "liberale Kommunisten" bezeichnen und den Widerspruch zwischen Davos und Porto Alegre nicht mehr länger akzeptieren: Sie behaupten, dass wir den globalen kapitalistischen Kuchen haben können - d.h. erfolgreich zu sein als expandierende Unternehmer - und ihn gleichzeitig essen können; d.h. sich der antikapitalistischen Themen wie gesellschaftlicher Verantwortung, Umweltfragen etc. anzunehmen. Porto Alegre ist überflüssig, stattdessen kann Davos zu Porto Davos werden.

Und wer sind diese liberalen Kommunisten? Die üblichen Verdächtigen: Bill Gates und George Soros, die Vorstandsvorsitzenden von Google, IBM, Intel, eBay sowie ihre Hofphilosophen wie beispielsweise Thomas Friedmann. Sie behaupten, dass die wahren Konservativen von heute nicht von der alten Rechten repräsentiert werden, mit ihrem lächerlichen Glauben an Autorität, Ordnung und beschränkten Patriotismus, sondern auch von der alten Linken mit ihrem Krieg gegen den Kapitalismus: Beide fechten ihre Schattentheaterkämpfe losgelöst von den neuen Realitäten aus. Das Merkmal dieser neuen Realität im Neusprech der liberalen Kommunisten ist "smart" zu sein - das bedeutet dynamisch und nomadisch und gegen zentralisierte Bürokratie zu sein; an Dialog und Zusammenarbeit zu glauben anstelle von zentralisierter Autorität; an Flexibilität anstelle von Routine; an Kultur und Wissen anstelle von industrieller Produktion; an spontane Bezugnahme aufeinander und Prozesse der Selbsterschaffung und Erneuerung eines Systems (Autopoiesis) anstelle von starren Hierarchien.

Liberale Kommunisten sind Topmanager, die den Geist des Wettbewerbs wiederbeleben; oder um es andersrum auszudrücken, sie sind subkulturelle Computerfreaks und Streber, die einfach die Leitung großer multinationaler Konzerne übernommen haben. Ihr Dogma ist eine neue, postmoderne Version von Adam Smith' These über die unsichtbar lenkende Hand: Marktwirtschaft und soziale Verantwortung sind keine Gegensätze, sondern sie können zum gegenseitigen Nutzen wiedervereint werden. Wie Thomas Friedmann sagt: Heute muss niemand mehr gemein und widerwärtig sein, um erfolgreich Geschäfte zu machen.

Liberale Kommunisten sind pragmatisch; sie hassen einen doktrinären Ansatz. Es gibt keine ausgebeutete Arbeiterklasse mehr, sondern nur noch konkrete Probleme, die auf eine Lösung warten: Hunger in Afrika, das Leiden der muslimischen Frauen, fundamentalistische, religiös motivierte Gewalt. Wenn in Afrika eine humanitäre Katastrophe stattfindet - und liberale Kommunisten lieben humanitäre Katastrophen - dann laufen sie zur Hochform auf: Anstatt sich in großspuriger antiimperialistischer Rhetorik zu ergehen, sollten wir alle gemeinsam die beste Möglichkeit suchen, um das Problem zu lösen, Menschen, Regierungen und Konzerne in einer gemeinsamen Anstrengung zusammenbringen, die Dinge in Bewegung setzen, anstatt auf die Hilfe eines zentralisierten Staatssystems zu bauen, und die Katastrophe auf eine kreative und unkonventionelle Art und Weise angehen.

Aber vor allem sind liberale Kommunisten die wahren Weltbürger, gute Menschen, die sich kümmern. Sie sorgen sich angesichts von populistischen Fundamentalisten und unverantwortlichen gierigen kapitalistischen Konzernen. Sie sehen die "tieferen Ursachen" für die Probleme von heute: Massenarmut und Hoffnungslosigkeit, die zu fundamentalistischem Terror führen. Ihr Ziel ist es nicht, Geld zu verdienen, sondern die Welt zu verändern - und dabei, sozusagen als Abfallprodukt, noch mehr Geld zu verdienen. Bill Gates ist heute schon der größte Wohltäter in der Geschichte der Menschheit, der seine Liebe zum Nächsten darin ausdrückt, dass er Hunderte von Millionen Dollar für Bildung, den Kampf gegen Hunger und Malaria etc. ausgibt. Der Haken dabei ist, dass man, bevor man alles weggeben kann, es erst einmal nehmen muss (oder, wie die liberalen Kommunisten es formulieren würden: erschaffen muss). Die Rechtfertigung der liberalen Kommunisten lautet: Um Menschen wirklich zu helfen, muss man über die Mittel dazu verfügen und über Erfahrung. Mit Erfahrung ist gemeint, dass das erbärmliche Versagen aller zentralistischen, staatsorientierten und kollektiven Ansätze uns lehrt, dass private Initiative bei weitem der effektivste Lösungsansatz ist. Indem man ihre Geschäfte reguliert, sie exzessiv besteuert, unterminiert der Staat das offizielle Ziel seiner eigenen Aktivitäten - das Leben der Mehrheit zu verbessern; denjenigen in Not zu helfen.

Das Ganze ist kein wirklich neues Phänomen. Man muss sich nur an Andrew Carnegie erinnern, der eine private Armee anheuerte, um die organisierte Arbeiterschaft und Gewerkschaften in seinen Stahlwerken zu unterdrücken, und dann große Teile seines Vermögens für Bildung, Kunst und humanitäre Zwecke vergab. Und damit bewies, dass er, obwohl er ein Mann aus Stahl war, ein Herz aus Gold hatte. Auf die gleiche Art und Weise geben die liberalen Kommunisten heute mit der einen Hand aus, was sie sich zuerst mit der anderen genommen haben.

Das ist es, was Personen wie George Soros so abstoßend macht. Denn Soros steht symbolisch für die gewissenloseste Ausbeutung durch finanzielle Spekulation in Kombination mit dem entsprechenden Gegenmittel, der humanitären Sorge über die katastrophalen gesellschaftlichen Konsequenzen der ungezügelten Marktwirtschaft. Auch die zwei Gesichter des Bill Gates sind exakt wie die zwei Gesichter des George Soros: auf der einen Seite ein grausamer Geschäftsmann, der Wettbewerber zerstört oder übernimmt und nach einem virtuellen Monopol strebt; und auf der anderen Seite ein großer Philanthrop, der immer wieder betont: "Was nützt es, Computer zu besitzen, wenn die Menschen nicht genug zu essen haben?"

Nach der Ethik der liberalen Kommunisten wird dem hemmungslosen Streben nach Profit durch Wohltätigkeit entgegengewirkt: Wohltätigkeit ist Teil des Spiels; eine humanitäre Maske, die die darunterliegende wirtschaftliche Ausbeutung verdeckt. Die entwickelten Staaten "helfen" permanent den unterentwickelten Staaten - bei der AIDS-Behandlung, mit Krediten etc. - und vermeiden dadurch die entscheidende Frage: nämlich die nach ihrer Komplizenschaft und ihrer Mitverantwortung für die miserable Situation der Dritten Welt. In bezug auf den Widerspruch zwischen "smart" und "nicht-smart" ist hier Outsourcing der zentrale Begriff. Man exportiert die (notwendige) hässliche Seite der Produktion - disziplinierte, hierarchisch organisierte Arbeitsabläufe, Umweltverschmutzung etc. - in "nicht so smarte" Drittweltstandorte (oder in unsichtbare Orte der Ersten Welt). Der ultimative Traum der liberalen Kommunisten ist es, die Arbeiterklasse in unsichtbare Sweatshops der Dritten Welt zu exportieren.

Wir sollten uns daher keine Illusionen machen: Liberale Kommunisten sind der Feind jedes wahrhaftig progressiven Kampfes der Gegenwart. Alle anderen Feinde - religiöse Fundamentalisten und Terroristen, korrupte und ineffektive Staatsbürokratien etc. - sind abhängig von den vor Ort herrschenden Bedingungen. Gerade weil sie all diese sekundären Betriebsunfälle des globalen Systems lösen wollen, sind die liberalen Kommunisten die unmittelbare Verkörperung all dessen, was mit diesem System nicht stimmt. Es mag zwar notwendig sein, taktische Bündnisse mit liberalen Kommunisten einzugehen, um Rassismus, Sexismus und religiösen Obskurantismus zu bekämpfen, aber es ist wichtig, immer genau im Kopf zu haben, was sie vorhaben.

Etienne Balibar unterscheidet in seinem 1997 veröffentlichten Buch "La Crainte des masses" (Die Furcht der Massen) zwischen den beiden zwar gegensätzlichen, aber komplementären Formen exzessiver Gewalt im heutigen Kapitalismus: der objektiven (strukturellen) Gewalt, die zu den sozialen Bedingungen des globalen Kapitalismus dazugehört - d.h. die quasi automatische Erzeugung von ausgeschlossenen und überflüssigen Individuen, von Obdachlosen bis hin zu Arbeitslosen - und der subjektiven Gewalt der neu entstehenden ethnischen und/oder religiösen bzw. kurz zusammengefasst rassistischen Fundamentalismen. Es mag zwar sein, dass liberale Kommunisten die subjektive Gewalt bekämpfen, aber sie sind de facto die Vertreter der strukturellen Gewalt, die die Bedingungen für die Ausbrüche von subjektiver Gewalt erzeugen. Der gleiche George Soros, der Millionen für Bildungsmaßnahmen gibt, hat die Leben von tausenden Menschen dank seiner Finanzspekulationen ruiniert und dadurch die Bedingungen für den Aufstieg eben jener Intoleranz geschaffen, die er bekämpft.

Slavoj Zizek ist Philopsoph und Psychoanalytiker. Übersetzung: Heike Kleffner


Jetzt spenden!