No where / Now here

18.08.2006   Lesezeit: 5 min

Über Utopien und das Wunder der Freiheit. Der Rundschreiben-Kommentar von Thomas Gebauer.

Die Idee einer besseren Welt ist keineswegs abgegolten. Wo Unsicherheit und Not herrschen, sind immer auch Überlegungen, wie Zukunft anders zu gestalten wäre. Das gilt auch für die eigene Gesellschaft, wo zuletzt gar von einer Renaissance der Utopie die Rede war.

Aber nicht die Kritik am Bestehenden prägt das heutige utopische Denken, sondern ein Ausmalen jener technischen Möglichkeiten, die sich aus der Entwicklung der modernen Biowissenschaften, aus Computer- und Informationstechnologie für die Sicherung des Status quo künftig ergeben könnten. Skizzierten die frühen Sozialisten in ihren utopischen Entwürfen noch eine Welt jenseits von Not und Notwendigkeit, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung, so haben die Lifescreener und Softwaredesigner von heute die soziale Dimension der Utopie aus den Augen verloren.

Auf den ersten Blick geben der erreichte Grad der Automatisierung und der Reichtum, der in der Welt entfaltet werden konnte, den Neo-Utopisten recht. Die Utopie scheint ausgerechnet im Rahmen jener Produktionsverhältnisse verwirklicht, die sie immer zu überwinden versucht hatte. Waren es früher 3 Verbraucher, die ein Bauer mit seiner Arbeit versorgen konnte, sind es heute bereits über 80. Längst hat die Produktivität ein Niveau erreicht, das Existenzsicherung jenseits von entfremdeter Arbeit, jenseits von "Mühe", "Plage" und "Last" (lat: labor) zuließe. Ohne Frage wären heute jene substantiellen Arbeitszeitverkürzungen möglich, die das utopische Denken seit seinen Anfängen beflügelt haben. Für sich genommen bedeutet die gesteigerte Produktivität noch keinen Fluch. Sie verweist allein darauf, wie nah das Ziel einer Ökonomie ist, die für die Menschen da ist und nicht umgekehrt.

Woran die bestehenden Verhältnisse wirklich kranken, zeigt sich mit Blick auf die globalen Verhältnisse. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind, obwohl die Welt-Landwirtschaft bereits heute imstande wäre, 12 Mrd. Menschen, also annährend das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung, zu ernähren. Niemand müsste mehr hungern, und dennoch leiden über 800 Mio. Menschen an chronischer Unterernährung.

Um dem schleichenden Mord an Kindern entgegenzutreten, bedarf es keiner innovativer Gentech-Pflanzen, sondern allein der sozialpolitischen "Regelung der menschlichen Angelegenheiten nach kollektiven Maßstäben". Genau darin liegt für Oskar Negt der Kern jedes utopischen Denkens. Dass die globalen Verhältnisse trotz triumphal entfalteter Technik und trotz wachsender Produktivität zu kollabieren drohen, das ahnt inzwischen auch die Politik. Die Zeit, in der die Verantwortung für die Gestaltung menschenwürdiger Lebensumstände an den Markt delegiert wurde, scheint vorbei. Auf Parteitagen wird bereits das Ende des Neo-Liberalismus beschworen: Wenn die Welt noch eine Zukunft haben solle, müsse die Globalisierung endlich auch sozial gestaltet werden. Ob es bei Sonntagsreden bleibt, wird sich nicht zuletzt im nächsten Jahr in Deutschland zeigen, wenn sich in Heiligendamm die Gruppe der G8 trifft und Deutschland zugleich turnusmäßig die EU-Präsidentschaft innehat.

Die offiziellen Vorbereitungsdokumente, die bereits kursieren, lassen nichts Gutes erwarten. Visionäres jedenfalls ist ihnen nicht zu entnehmen. Ideen radikaler Arbeitszeitverkürzungen oder die Entkoppelung von Einkommen und Leistung im Rahmen garantierter Grundsicherung stehen beispielsweise nicht auf der Agenda, sondern überkommene Beschäftigungsstrategien, die Existenz noch immer an das Prinzip der Lohnarbeit knüpfen. So paradox es klingt: Ausgerechnet mit der Verlängerung der individuellen Arbeitszeit soll die Massenarbeitslosigkeit in Europa bekämpft werden. Statt den herrschenden Produktionsverhältnissen Alternativen entgegenzusetzen, bleibt es bei althergebrachten Konzepten, die sich längst als untauglich erwiesen haben. Gegenentwürfe zum Abriss des Sozialstaates gelten noch immer als weltfremdes Phantasieren: "Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen!" (Helmut Schmidt)

Weil wir zu alt werden, würde uns das Sozialversicherungssystem um die Ohren fliegen, behaupten Politiker aller Couleur – und unterschlagen dabei, wie hervorragend es gelungen ist, die allerdings massive Alterung der Gesellschaft im vergangenen Jahrhundert sozialpolitisch aufzufangen. Besorgt verweisen hochbezahlte Journalisten auf die Veränderung der offenbar lieb gewonnenen Bevölkerungspyramide, die heute die Gestalt einer "Urne" angenommen hätte – und erzeugen Angst, wo Zufriedenheit angesagt wäre. Der vermeintliche "Methusalem-Komplex" belegt nämlich nur, dass Zigtausende von Säuglingen nicht mehr sterben müssen und diejenigen, die geboren werden, auch ein langes Leben haben.

Echte Utopie hat ihren Boden in der Erinnerung, schreibt Adorno. Sie speist sich aus dem Bruch mit dem Bestehenden und der Rückbesinnung auf erfahrenes Glück und Leid. Das Reich der Freiheit entsteht nicht über bloße Modernisierung einer unheilvollen Tendenz, sondern nur über den Ausgleich zwischen den Rechten und Bedürfnissen eines jedes Einzelnen und dem solidarischen Ganzen, ohne den Gesellschaftlichkeit nicht gelingen kann.

Und die Voraussetzungen für die Schaffung einer sozialen Infrastruktur, die Bildung, Gesundheit, Kultur allen, unabhängig vom Einkommen, zugänglich macht, stehen nicht schlecht: 77% der hiesigen Bevölkerung unterstützen die Prinzipien der solidarischen Krankenversicherung. 80% der Gesunden stehen zur Unterstützung von Kranken durch Gesunde. 73% der jungen Menschen sind für einen Solidarausgleich mit den Älteren. 82% derjenigen, die über ein Nettoeinkommen von über 1.500 € verfügen, sind für Beihilfen für Ärmere. Nicht mehr Wettbewerb verlangen die Versicherten, sondern eine verlässliche Gesundheitsversorgung. Es sind nicht die Leute, die auf eine Privatisierung der Gesundheitsdienste drängen, sondern die herrschenden Produktionsverhältnisse, in denen sich die Interessen der Shareholder und des Business spiegeln.

Das "Wunder der Freiheit”, so die Sozialphilosophin Hannah Arendt, die in diesem Herbst 100 Jahre alt geworden wäre, besteht darin, dass Menschen imstande sind, Prozesse zu unterbrechen und einen neuen Anfang zu setzen. Freiheit, so Arendt, ist die Freiheit der Entscheidung zum politischen Handeln, die Herstellung eines im echten Sinne des Wortes politischen Raumes. Ein Raum der freien Zusammenkunft aller, in dem das für alle und jeden einzelnen Gemeinsame frei und gemeinsam entschieden wird. Das ist das Gegenteil von der Mixtur aus Verwaltung, Karrierismus und Meinungsbildung, die heute als "Politik" verstanden wird.


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