Zochrot (Hebräisch: "Wir erinnern uns") ist eine israelische Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Nakba (Arabisch: "Katastrophe" – so bezeichnen Palästinenser ihre Vertreibung und Flucht aus dem heutigen Israel in den Jahren 1948/49) in den jüdisch-israelischen Diskurs, der dieses geschichtliche Ereignis ausblendet bzw. verharmlost, möglichst konkret – mittels Dokumentation, Publikation und Kunst – als zentrales Ereignis des israelisch-palästinensischen Konflikts einzuführen und zum Teil der eigenen Geschichtsschreibung zu machen. Zochrot zielt nicht allein auf eine Berichtigung der israelischen Geschichtsschreibung; vielmehr soll selbstkritische Reflexion über die Nakba die gegenwärtige Wahrnehmung des palästinensisch-israelischen Konflikts insgesamt und der Flüchtlings- und der Rückkehrfrage insbesondere verändern.
Zochrot betreibt aktive Erinnerungsarbeit in ehemaligen palästinensischen Dörfern und Städten in Israel mit Besichtigungen, Dokumentationen, Veranstaltungen an diesen Orten. Dabei sprechen sie gezielt ein jüdisch-israelisches Publikum an, um durch das Aufbrechen dieses tabuisierten Themas eine größere Anerkennung und Übernahme von Verantwortung für die Folgen dieser Politik durch die israelische Gesellschaft zu erreichen. Sie ermöglichen dabei Begegnungen von jüdischen und palästinensischen Israelis, häufig ehemalige BewohnerInnen der während der Nakba zerstörten palästinensischen Dörfer und Städte.
Zochrot engagiert sich in der Dokumentation der palästinensischen Nakba und seiner Folgen durch Oral History, Karten, Photographien, und schriftliche Dokumente und Veröffentlichung dieser Materialien für ein Hebräischsprachiges Publikum. Doch Zochrot sieht die Nakba nicht als bloßes historisches Ereignis, als die Katastrophe der Palästinenser im Jahr 1948, sondern als eine fortwährende Geschichte, die den Beziehungen zwischen Juden und Palästinensern im Hier und Jetzt zugrunde liegt. Und das Selbstverständnis der jüdischen Israelis bestimmt. Zochrot versucht den israelischen Raum, in dem sie alle groß geworden sind und der ihnen so vertraut ist, neu zu entdecken - als einen Raum, der auch die Geschichte der Nakba erzählt.
Die Zochrot-Galerie & die Zeitschrift Sedek – Lücke im Geflecht israelischer Verdrängung
Deshalb hat Zochrot – mit medicos Unterstützung – die Zeitschrift Sedek und eine kleine Galerie in ihren bescheidenen Räumlichkeiten gegründet. Als Orte der Kommunikation und der Vergegenwärtigung dieser (nach)lebenden Geschichte. Hier wird Raum geschaffen, in dem Künstler, Kuratoren und das Publikum die Ereignisse von 1948 als einen Moment überdenken können, in dem es verschiedene Möglichkeiten gab, die auch heute noch bestehen: ein Zusammenleben jenseits der 1948 festgeschriebenen Identitätsgrenzen.
Sedek heißt auf Hebräisch "Lücke" und symbolisiert den Versuch, eine Lücke in das luft- und lichtdichte Geflecht israelischer Verdrängung zu reißen. Sedek ist weder ein Politmagazin noch eine historische Zeitschrift. Sie arbeitet über die indirekten Zeichen von Zerstörung: Fotos von Ruinen, die langsam überwuchert werden, ein Bild von verbranntem Holz, aus dem es zaghaft grünt, Texte hebräischer Dichter und Denker. Arbeiten von Künstlern, die zumeist gar nicht die Nakba thematisieren, werden so in einen Nakba-Zusammenhang gestellt. Dadurch entsteht ein neuer Kontext, und das israelische Zielpublikum erlebt seine eigene, selbstverständliche Geografie und Geschichte in einer neuen Dimension, die auch eine andere Geschichte beinhaltet.
Dies ist ein erstmaliges Erlebnis für viele Israelis, und darin liegt vielleicht der Erfolg dieser etwa 150 Seiten starken , großformatigen Zeitschrift, deren erste Ausgabe, etwa 1000 Stück, unerwartet schnell ausverkauft war. Es ist ein wenig paradox, die Nakba nicht aus einem zionistischen Blickwinkel zu beschreiben, zu besprechen und zu sehen, sagt Redakteur Tomer Gardi: schließlich sei die Sprache selbst, also das Neu-Hebräische, ähnlich wie die hiesige Geschichtsschreibung, Liedgut oder Architektur, an sich schon ein Akt der – je nach Lesart - Eroberung oder Rückeroberung des Landes.
Praktische Aspekte einer Rückkehr: Das Miske-Projekt
Das neue Dreijahresprogramm von Zochrot setzt sich zum Ziel, die Rückkehr der Flüchtlinge, die 1948 aus dem heutigen Israel vertrieben worden sind, zu entmythologisieren. Deshalb liegt der Schwerpunkt nicht in einer historischen, ideologischen oder ethischen Diskussion über Vertreibung und Rückkehrrecht. Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, ob eine solche Rückkehr praktikabel ist, und wenn ja, wie sie sich real gestalten könnte.
Dabei konzentriert sich Zochrot auf ein einziges Dorf. In Miske, dessen Bewohner seit 1948 in- und außerhalb Israels als displaced people leben, fand 2002 die erste Tour von Zochrot statt. Als Zochrot die alten Schulgebäude renoviert hatte und Bäume gepflanzt hatte, zäunte die Armee die Gegend ein. Zochrots Protest wurde durch viele, teilweise bekannte Künstler unterstützt, woraufhin die Armee die Häuser zerstörte. Seitdem kehrt Zochrot - zusammen mit diesen Flüchtlingen – jedes Jahr am israelischen Unabhängigkeitstag nach Miske zurück.
Das Projekt soll jüdische Israelis, die in Miskes unmittelbarer Nähe leben, und andere interessierte Israelis, sowie Palästinenser aus Miske, die heute in Israel, in den besetzten Gebieten oder in Jordanien leben, einbeziehen in dem Versuch, Möglichkeiten einer Rückkehr zu eruieren.
Der Lernprozess erfolgt getrennt in zwei Gruppen. Die jüdisch-israelische Gruppe – gewiss Menschen mit einer Offenheit gegenüber einer künftigen Rückkehr – lernt über die Nakba im speziellen Kontext von Miske. Die palästinensische Gruppe wird sich mit einer Rückkehr, die wahrscheinlich in ihrem Lebtag nicht stattfindet, mit der Anwesenheit jüdisch-israelischen Lebens vor Ort und der Diskrepanz zwischen Rückkehrtraum und den Realitäten einer künftigen Rückkehr auseinandersetzen müssen. Beide Gruppen arbeiten mithilfe von Landplanern an der Neuplanung von Miske und anderen Aspekten einer Rückkehr. Am Ende des Projekts hoffen Zochrot, dass jede Gruppe mögliche Rückkehr-Modelle vorstellen können, die auch für die andere Gruppe akzeptabel sind.
Projektstichwort
Medico fördert die Arbeit unserer Partner in Israel/Palästina mit jährlich ca. 90.000 Euro Spenden und zusätzlichen öffentlichen Mitteln. Dies wollen wir auch zukünftig fortsetzen. Spenden Sie unter dem Stichwort: Israel-Palästina