Ohne politische Einmischung gibt es keine sinnvolle Hilfe

Israel/Palästina: Über Einsamkeit und Radikalismus

01.04.2003   Lesezeit: 5 min

Von Ruchama Marton, Präsidentin der Physicians for Human Rights

Die wichtigste Erfahrung, die die Physicians for Human Rights – Israel machen, ist die der Einsamkeit, sowohl zu Hause als auch im Ausland. Das soll nicht heißen, dass wir keine Unterstützung von unseren Kollegen im Ausland bekommen, sondern betont vielmehr, dass diese Form der Einsamkeit etwas selbst Gewähltes ist. Als Teil einer Gesellschaft von Tätern haben wir kaum Alternativen.

Unserem Verständnis nach darf PHR-Israel niemals nur die Rolle eines Beobachters einnehmen, der die Wunden notdürftig flickt und die Zerstörungen des Konflikts zur Kenntnis nimmt. Als Ärzte müssen wir Verantwortung für die Heilung von Kranken und Verletzten übernehmen. Als israelische Organisation jedoch kennen wir den israelischen Besatzungsapparat und sehen seine Folgen als sozialen und historischen Prozess. Als Menschenrechtsaktivisten ist es unsere Pflicht, dieses Wissen zu nutzen. Ein Beispiel: Im Bericht des UNO-Sonderbotschafters für die besetzten Gebiete, dem Bertini-Bericht, lautet eine der Forderungen an das israelische Militär sicherzustellen, dass palästinensische Rettungswagen an Kontrollpunkten nicht mehr als 30 Minuten festgehalten werden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuzes forderte, dass dies keinesfalls länger als 15 Minuten dauern sollte. Wir können keine dieser beiden Forderungen akzeptieren: Eine 15-minütige Verzögerung an jeweils einem Kontrollpunkt, führt zu einer mehrstündigen Fahrt, da es verschiedene Kontrollpunkte gibt und so der Weg von oder zu einer medizinischen Behandlung zu einem Albtraum wird oder, mit anderen Worten, zu einem medizinischen Verbrechen.

Deshalb kann es uns nicht genügen, Daten über Geburten an Kontrollpunkten zu sammeln oder zu fordern, dass Soldaten vor Gericht gestellt werden. Wir werden darauf bestehen, den Prozess aufzudecken, durch welchen die Besatzung solche Auswüchse zeitigt. Früher war es eine allgemein akzeptierte menschliche Norm, dass einer Frau mit Wehen freies Geleit in die Klinik gewährt wurde. Mit dem Golfkrieg 1991 hat die Gestalt der Besatzung die Sichtweise der Israelis so sehr verändert, dass bei Verhängung einer Ausgangssperre die Soldaten selbst bei Frauen mit Wehen keine Ausnahme mehr machen. Als Frauen und Babys durch diese Praxis ums Leben kamen, mussten schriftliche Vereinbarungen getroffen werden, um die Soldaten zu einer menschlichen Selbstverständlichkeit zu verpflichten: nämlich Frauen mit Wehen passieren zu lassen. Man kann sicherlich sagen, dass wir schon in dem Moment, da wir solche schriftliche Vereinbarung benötigten (d.h. Mitte der 90er Jahre), das Spiel verloren hatten.

Wenn wirklich etwas verändert werden soll, ist die Existenz einer Gruppe, die ein radikales politisches Engagement besitzt, demonstriert und auch interveniert von entscheidender Bedeutung. Ein Beispiel: Dr. Hassan Barghuti, Literaturdozent an der Al-Quds Universität in Jerusalem, litt an Krebs in fortgeschrittenem Stadium. Auf Anordnung seines Arztes am Sheikh Zayyed Hospital in Ramallah schickte ein Krankenhaus in ­Jordanien Medikamente. Ein spezieller Bote des ­jordanischen Krankenhauses kam mit den Medikamenten zum Grenzübergang Allenby Crossing, jedoch wurde ihm der Übergang nach Ramallah verwehrt. Er liess die Medikamente auf der israelischen Seite des Grenzübergangs zurück. Die Union of Palestinian Medical Relief Committees (UPMCR) kontaktierte PHR – Israel und bat uns dabei zu helfen, dass die Medizin für diesen Patienten freigegeben werde. Zunächst forderte die israelische Zivilverwaltung, dass wir ein Fahrzeug organisieren und damit die Medikamente am Grenzübergang abholen sollten.

PHR-Israel bestand darauf, dass es keinen Sinn mache, ein Fahrzeug zu schicken, solange es keine Genehmigung zur Freigabe der Medikamente gebe. Dann fragte die Zivilverwaltung, ob die Medikamente für einen oder für mehrere Patienten bestimmt seien, ob sie gespendet oder gekauft worden wären, ob sie in einer Schachtel oder in einer Flasche abgepackt seien, welche Aufschrift sie trügen, wer sie geschickt hätte usw.. Im folgenden forderten die Zivilbehörden medizinische Dokumente, die nachweisen sollten, dass diese speziellen Medikamente tatsächlich von Dr. Barghuti angefordert worden waren, zudem wollten sie auch den präzisen Namen des Medikamentes wissen. Während wir versuchten all diese Details zusammenzutragen – obwohl wir das als absurd empfanden – informierten uns die Behörden darüber, dass diejenigen, die von Ramallah kommen sollten, um die Medizin zu holen, dies in einem palästinensischen Fahrzeug tun müssten. In Jericho sollten sie einen Bus nehmen, der sie zur Station Allenby bringen sollte. Ihre Forderungen ergaben keinen Sinn und es gab immer noch keine Genehmigung für die Übergabe der Medikamente. Unsere Kontaktaufnahme zur medizinischen Koordinatorin der Zivilverwaltung, Frau Dalia Bessa, war ebenfalls ergebnislos, da auch sie medizinische Dokumente forderte, bevor sie der Übergabe der Flasche – oder Schachtel – zustimmen würde. Zwei Tage später telefonierten wir mit unseren Kollegen bei der UPMRC, um sie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, und mussten dabei erfahren, dass Dr. Barghuti inzwischen gestorben war. Zur gleichen Zeit erreichte uns ein Anruf der Zivilverwaltung mit der Aufforderung, ein weiteres medizinisches Dokument zu besorgen, um damit die Überführung des Medikaments erlauben zu können. Wir setzten sie davon in Kenntnis, dass die Koordination nicht länger erforderlich sei. Kann es sein, dass bei diese Art des Umgang die Sicherheitsinteressen Israels keine entscheidende Rolle spielen, sondern die Gewohnheit, über Leben und Tod von Palästinensern zu entscheiden?

Wie berichtet man über eine derartige Menschenrechtsverletzung? Wie übersetzen wir so etwas in eine verständliche Sprache im Sinne des medizinischen Notfalls (»ärztliche Zeit«) und wie können wir die Fesseln, die uns auf jeder Ebene von der Bürokratie der Besatzung auferlegt wurden, aufdecken? Wertvolle Sekunden für das Leben verwandeln sich in Stunden für Wortgefechte. Wie können wir diese Sekunden wieder für das Leben nutzen? Wie können wir in einem System arbeiten, das von Bürokratie beherrscht wird, wohingegen es von ärztlicher Seite aus darum geht, keine Zeit zu verlieren?

Bei unserer medizinischen Arbeit – wir behandeln Personen in unserer mobilen Klinik in der West Bank – und diese kann fälschlicherweise als humanitär betrachtet werden – bestehen wir auf einer radikalen Methode: Wir, als medizinisches Personal, lehnen es ab, bei der Armee die Erlaubnis einzuholen, in die West Bank fahren zu dürfen. Wir lehnen deren bewaffnete Eskorte zu ­»unserer Sicherheit« ab. Damit und auch mit der Fahrt in ein verbotenes, abgetrenntes Gebiet selbst, protestieren wir gegen Abriegelung, Ausgangssperre und für Bewegungsfreiheit. Die medizinische Hilfe existiert als Teil der Protest-Aktion und Beweis konkreter Solidarität. Letzere wird nur durch Erstere ermöglicht.


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