Vor zwei Jahren, am 27. Juli 2010, wurde Pakistan von der schlimmsten Flutkatastrophe seit 80 Jahren heimgesucht. Das Ausmaß der Zerstörungen war nach UN-Angaben größer als nach dem Erdbeben in Haiti 2010 und sogar nach dem Tsunami 2004. Betroffen waren und sind insgesamt 20 Mill. Menschen in den südlichen Provinzen Sindh und Balutschistan sowie den angrenzenden Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Punjab. 11 Millionen Menschen wurden obdachlos, 2000 Menschen starben.
Es traf die Ärmsten
Die meisten dieser Menschen waren und sind landlose Bäuerinnen und Bauern, am stärksten betroffen auch hier die Alten, die Frauen und die Kinder. Schon vor der Flut waren sie die ärmsten Menschen Pakistans, recht- und mittellos der Willkür feudaler Grundbesitzer, eines allmächtigen Militärs und einer der korruptesten Bürokratien der Welt ausgeliefert, ohne angemessenem Zugang zu Bildung, Gesundheit und den Bedingungen eines würdigen Lebens. Benachteiligt wurden sie noch in der Hilfe, die wochen- und monatelang auf sich warten ließ, auch weil sich die Fluten im Norden des Landes zunächst sammelten, um sich dann erst im Süden über Städte, Dörfer und Felder zu ergießen. Staat und Armee kamen ihren Verpflichtungen nicht im Ansatz nach. In den sicheren Regionen der Welt, auch in Deutschland, führte deren offenbares Versagen zu Debatten in Politik und Medien, in denen allerdings nicht das Elend der Leute, sondern die politischen Vorteile diskutiert wurden, die der organisierte Islamismus daraus ziehen könnte.
Aus gegebenem Anlass: „Stadtflucht“, auf den Punkt gebracht...
Einen dichten Einblick in den gesellschaftlichen Hintergrund und Kontext der Flutkatastrophe“ gewinnt, wer von der Autobahn aus Richtung Hyderabad in die 20-Millionen-Metropole Karatschi einfährt. Zwischen den Stadtteilen Sabzi Mandi und Gulshan-e-Maymar sieht man entlang der Straße Hunderte schmutzige Zelte und strohgedeckte Hütten. Hier wohnen Überlebende der Flut, die aus den umliegenden Distrikten der Provinz Sindh stammen, dort in kleinen Dörfern an den Ufern des Indus gelebt haben. Von den Fluten vertrieben, haben sie in Karatschi Zuflucht gefunden – im Grunde nicht anders als Hunderte andere, die Tag für Tag in diese Stadt kommen, aus allen Gegenden Pakistans, vor der Flut schon und heute noch immer. Die Männer arbeiten als Tagelöhner auf den umliegenden Gemüsemärkten und verdienen so ca. 400 - 500 Rupien (3,5 €) pro Tag. Einigen haben eine Anstellung in einer der etwas weiter entfernten Textilfabriken gefunden, andere arbeiten in der Bauindustrie. Trotzdem hat niemand von ihnen Anrecht auf und Zugang zu den öffentlichen Dienstleistungen, die die anderen Bürgerinnen und Bürger der Metropole immerhin in Anspruch nehmen können. Um aus einer der umliegenden Siedlungen oder bei benachbarten Tankstellen Wasser holen zu können, müssen die Frauen und Kinder die vielbefahrene Ausfallstraße überqueren – oft kommt es dabei Unfällen, immer wieder auch zu tödlichen. Es gibt keine sanitären Anlagen, keine Schulen, keine Gesundheitsstationen. Jederzeit können ihre Siedlungen geräumt werden: Grundstücke sind heftig umkämpft in Karatschi. Nicht immer werden Räumungen von der Polizei vorgenommen, immer wieder werden sie von Schlägerbanden angegriffen, die im Auftrag von Baufirmen operieren. Obwohl ihre neue Heimstatt in mancher Hinsicht elender ist als die, die sie verloren haben, wollen die meisten von ihnen nicht aufs Land zurückkehren. Vermutlich sind nicht alle schon mit dieser Absicht in die Stadt geflohen, jetzt aber ziehen die völlig ungewisse Flüchtlingsexistenz am Straßenrand dem Leben vor, das sie hinter sich gelassen haben: ein Leben bestimmt von tagtäglicher Zwangsarbeit und der Gnade der örtlichen Großgrundbesitzer. Weil sie keinen eigenen Grund und Boden besaßen, mussten die meisten von ihnen – wie Millionen andere Bäuerinnen und Bauern des Sindh – Land bearbeiten, für das sie ihrem Grundherren Pacht entrichten müssen. Zur Pacht kommen die Kredite hinzu, die sie aufnehmen müssen, um Saatgut zu erwerben. Die Flut hat diese Situation endgültig ausweglos gemacht. Denn obwohl die Leute neben ihrem armseligen Hausrat und ihrem Vieh ihre ganze Ernte verloren haben, bestehen die „Landlords“ auf der vollen Rückzahlung der Pachtschulden und der Kredite, verlangen deshalb zusätzliche, natürlich unentgeltliche Arbeitsleistungen. Da erscheint es den Flutvertriebenen zu Recht aussichtsreicher, in Karatschi neu anzufangen – auch wenn sich die Mega-City vom Rand der großen Straße kaum einladend ausnimmt. (Aus einem Bericht des medico-Partners PILER)
Hilfe, Wiederaufbau, Selbstorganisation und kritische Öffentlichkeit
Zu den ganz wenigen Hilfsorganisationen, die sofort zur Stelle waren und vor Ort noch heute aktiv sind, gehören die drei pakistanischen medico-Partner: die sozialmedizinische Hilfs- und Entwicklungsorganisation Health & Nutrition Development Society Pakistan (HANDS), die Forschungs-, Bildungs-, Lobby- und Advocacyorganisation Pakistan Institute for Labour Education & Research (PILER) und das Sindh Labour Relief Committee (SLRC), ein Zusammenschluss von Gewerkschaften, Bauernverbänden und Aktivistinnen und Aktivisten der Frauen-, Studierenden- und Jugendbewegung. Alle drei Organisationen engagierten sich zunächst in der Nothilfe und sind heute in Wiederaufbau und Wiederansiedlung aktiv. Alle drei setzen auf die Selbstorganisation und Selbstermächtigung der Betroffenen: schließlich sind es die Scherben ihres Lebens, die neu zusammengesetzt werden müssen.
Zugleich beteiligen sich alle drei medico-Partner an nationalen und internationalen Netzwerken der Zivilgesellschaft und der sozialen Bewegungen, an der Dokumentation der aktuellen Situation und ihrer politischen und ökonomischen Hintergründe sowie an kulturellen und politischen Kampagnen vor Ort und im ganzen Land. Für alle drei gilt, was Dr. Tanveer Ahmed, Geschäftsführer von HANDS, auf die erste Frage antwortet, die nach Lage der Dinge zu stellen ist: „Ja, unsere Hilfe kam an und sie kommt weiter an. Wir verdanken das unserer eigenen und der Entschlossenheit der freiwilligen Helferinnen und Helfer in ungezählten Gemeindeorganisationen (Community Based Organisations, CBOs). Zusammen mit ihnen machen wir uns jetzt an den Wiederaufbau eines zerstörten Landes. Dabei geht es nicht einfach um Wiederherstellung des alten Zustandes, sondern um neue, bessere Verhältnisse, um Entwicklung.“ Die Grenzen der Möglichkeiten der Betroffenen wie der medico-Partner lassen sich allerdings am Schicksal des Pakistan Floods Relief and Early Recovery Response Plan festmachen, den die pakistanische Regierung und das UN-Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) am 5. November 2010 aufgelegt haben. Von ihm sagen nicht nur die medico-Partner, dass er weit hinter seinen Zielen zurückblieb: vor allem infolge des mangelnden politischen Willens, die zu seiner Umsetzung nötigen finanziellen Mitteln bereitzustellen.
Schuldenstreichung, Frieden, Landreform
Vor diesem Hintergrund verstehen sich dann die sechs Forderungen des Sindh Labour Relief Committee (SLRC), die der Gewerkschafter und SLRC-Koordinator Nasir Mansoor wie folgt auf den Punkt bringt: „Umfassende Entschädigung der Opfer und Vergabe von Land an die Landlosen, Streichung der Auslandsschulden, radikale Reduktion der Verteidigungsausgaben, Reparationen für die Folgen des Klimawandels, Gewährung der internationalen Hilfe als Gabe statt als Darlehen, Umwidmung der amerikanischen Militärhilfe für den Wiederaufbau.“ Zur Erläuterung der letzten Forderung verweist Zehra Akber Khan, Vertreterin der Homebased Womens Workers Federation im SLRC, auf den Skandal, dass die USA den völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg, dem in Pakistan bisher über 3000 Menschen, meist Zivilistinnen und Zivilisten, Opfer fielen, nicht einmal während der Flutkatastrophe unterbrochen haben: „Der Krieg der Drohnen ging ungerührt weiter, obwohl ein Fünftel unseres Landes unter Wasser stand und Millionen Menschen ohne Obdach waren. Mehr noch: Die US Air Force hat dringende Bitten der Hilfsorganisationen, den Flughafen Shabaz Airbase zur Anlieferung und Verteilung dringend benötigter Überlebensgüter nutzen zu dürfen, rundweg abgelehnt. Für ihren Krieg in Pakistan, Afghanistan und dem Irak geben die USA monatlich 12, 2 Milliarden Dollar aus, den Flutüberlebenden haben sie gerade eben 150 Millionen zukommen lassen. Das meinen wir, wenn wir fordern, dass die US-Finanzhilfe für das pakistanische Militär für den Wiederaufbau umgewidmet werden soll. Dasselbe fordern wir natürlich von unseren eigenen Militärausgaben: auch die müssen für Nothilfe und Wiederaufbau umgewidmet werden!“
Tatsächlich gibt Pakistan rund ein Viertel des nationalen Etats für den Unterhalt und die Aufrüstung seiner Streitkräfte aus (2, 7 Milliarden €). Noch einmal mehr Geld, nämlich 3, 8 Milliarden €, wendet das hochgerüstete, doch bitterarme Land für die Rückzahlung der Auslandsschulden auf. „Militärausgaben und Schuldenrückzahlung verschlingen zusammen die Hälfte des jährlichen Staatsetats. Sieht man davon ab, dass die Schuldenstreichung für Millionen Menschen hier schlicht eine Überlebensfrage ist, sind ein erheblicher Teil dieser Schulden nach internationalem Recht odious debt, ‚verabscheuungswürdige’ Schulden“, ergänzt Nasir Mansoor: „Wir zahlen heute die Kredite zurück, die die Länder des Westens den Militärdiktaturen Zia ul-Haqs und Pervez Musharafs zur Verfügung gestellt haben, um ihre Herrschaft zu sichern. Es ist absurd und zynisch, uns die die Gelder abzupressen, mit denen die Generäle den Islamismus nach Pakistan gebracht und ein Land zur Atommacht hochgerüstet haben, in dem 60 – 85% der Menschen nicht einmal 2 € täglich zum Leben haben und knapp die Hälfte täglich von Unternährung oder gar Hunger bedroht sind.“
Die Citizen’s Charter als „Neuer Sozialvertrag“
Was die seit der Jahrhundertflut ungeplant in Nothilfe und Wiederaufbau engagierten Aktivistinnen und Aktivisten des SLRC politisch zugspitzen, ist keine Einzelmeinung, sondern breiter Konsens nicht nur der Gewerkschafts-, Frauen- und Studierendenbewegung, sondern der ganzen Zivilgesellschaft Pakistans. Nachzulesen ist das in der Citizens’ Charter, die vom medico-Partner PILER initiiert wurde und im medico-Partner HANDS einen ihrer prominentesten Unterzeichner gefunden hat (Englischer Text der Charta / 75kb PDF). Mittlerweile sind über 90 Organisationen der Zivilgesellschaft der Charta beigetreten, darunter alle Mitglieder des National Humanitarian Network (NHN).
Für HANDS-Geschäftsführer Dr. Tanveer Ahmed formuliert die Charta „eine Reformagenda im Namen der Rechte der Armen, der Minderheiten, der Frauen und der Kinder, die wir von HANDS bedingungslos unterstützen. Das gilt auch für die Rolle, die der Zivilgesellschaft darin zugesprochen wird, und das gilt insbesondere für die Landreform als den Schlüssel zur Stärkung der Demokratie.“ Karamat Ali, Gründer und Geschäftsführer von PILER und einer der bekanntesten Intellektuellen Pakistans sieht den politischen Kern der Charta in dem Versuch, die in der Verfassung des Landes bisher nur als „Principles of Policy“ gefassten sozialen Rechte zu bedingungslos verpflichtenden und als solchen auch garantierten „Fundamental Rights“ zu erheben: „Weil sie nur ‚politische Prinzipien’ und keine Grundrechte sind, stehen die Artikel 37 und 38 unserer Verfassung – ‚Förderung sozialer Gerechtigkeit und Beseitigung sozialer Missstände’ bzw. ‚Förderung des sozialen Wohlergehens der Menschen’ – stets unter dem Vorbehalt verfügbarer Ressourcen. Die aber waren bisher angeblich nie gegeben – wegen der Auslandsschulden, wegen der Militärausgaben, wegen der Kosten zum Unterhalt der Bürokratie. Die Citizens’ Charter fordert die politischen Parteien auf, diese beiden Artikel zu bedingungslos verpflichtenden Grundrechten zu erklären. Parallel zur politischen Advocacy und zu unseren Kampagnen fechten wir unsere Forderungen auch vor Gericht aus, in Prozessen zum Beispiel um das im Artikel 25 der Verfassung niedergelegte Recht auf kostenfreie Schulbildung für alle Kinder zwischen fünf und sechzehn Jahren. Beim Obersten Gerichtshof der Provinz Sindh haben wir gerade einen ersten Erfolg errungen: das Gericht hat die Provinzregierung jetzt zur Umsetzung dieses Artikels verpflichtet. Den politisch weitest reichenden Punkt umreißt der Artikel 3, in dem die ‚Abschaffung der Ausbeutung’ heute schon ‚politisches Prinzip’ ist. Auch er soll bedingungslos verpflichtendes Grundrecht aller Bürgerinnen und Bürger Pakistans werden.“
Den Anfang des „Neuen Sozialvertrags“ markieren die Forderungen, die unmittelbar im Namen der Flutüberlebenden erhoben werden: Wiederherstellung der zerstörten Häuser, Straßen, Schulen und Gesundheitszentren, Wiederherstellung einer zureichenden Verkehrs- und Kommunikationsstruktur und Schaffung eines Systems der umfassenden sozialen Sicherung, wozu auch die Schaffung einer föderalen Verwaltung gehört, die endlich ihren Verfassungsauftrag erfüllt, statt nur auf eigene Kasse zu wirtschaften. Diesen nächsten Forderungen folgen die politisch grundlegenden Ansprüche der Charta: die Forderung nach einer umfassenden Landreform und ihr zugehörige „Sozialreformen zur Beseitigung der feudalen Machtverhältnisse“, Forderungen nach Beseitigung der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern wie zwischen den verschiedenen Regionen des Landes, nach voller Garantie der Rechte von Jugendlichen, Kindern und ethnischen oder religiösen Minderheiten. Dazu hält auch die Charta ausdrücklich fest, dass alle diese Rechte nur umgesetzt werden können, wenn die Auslandsschulden und die Verteidigungsausgaben drastisch reduziert werden. Das „Alpha und Omega“ aber, mit dem sofort anzufangen ist, sind die Streichung der Pacht- und Kreditschulden der Flutüberlebenden gegenüber den Großgrundbesitzern und ihre vollständige individuelle Entschädigung.
Zwei Aufgaben des Tages
Die letzte Forderung individueller Entschädigung hat die Regierung bereits anerkannt – doch sind die zugesagten Mittel bisher nur zu einem Bruchteil abgeflossen. So wurde von den allen Betroffenen zugesagten Hilfsgeldern in Höhe von 100.000 Rupien (860 €) pro Familie bisher nur die erste Rate von 20.000 Rupien ausgezahlt, und auch das nur einer Minderheit der Anspruchsberechtigten. Ein Grund dafür ist, dass die zugesagten Beträge über ein Kartensystem ausgezahlt werden, mit dem die Leute ihr Geld am Automaten bekommen sollen. Tatsächlich aber verfügen die wenigsten über eine solche Karte – und selbst die finden auf dem Land weit und breit keinen Geldautomaten: Probleme, die sofort anzugehen sind, auch durch die Platzierung mobiler Geldautomaten in den Dörfern und Flüchtlingslagern.
Sofort anzugehen sind schließlich auch die Forderungen, mit denen sich die Charta ausdrücklich auch an die internationalen Hilfsorganisationen und die UN richtet. Danach sollen sich die ausländischen Geber und die in Pakistan tätigen UN-Organisationen auf die Zusammenarbeit mit lokalen NGOs und CBOs verpflichten, statt an ihnen vorbei eigene Kommunikationsstrukturen einzurichten, von denen die pakistanischen NGOs ausgeschlossen sind. Zugleich werden internationale Hilfsorganisationen und UN zur Aufrechterhaltung und bestmöglichen Ausstattung der Flüchtlingslager aufgefordert, solange sie gebraucht werden (18). Darüber hinaus fordert die Charta die Umsetzung des international anerkannten „Hyogo Framework“ zur Katastrophenprävention und – womit der der Kreis sich schließt! – die bedingungslose Anerkennung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürgerinnen und Bürger Pakistans auch durch die UN und die internationale Hilfe. PILER, HANDS und SLRC gehen dabei mit gutem Beispiel voran, von der direkten Nothilfe bis zur Organisation von Konferenzen und Demonstrationen in Karatschi. medico wird ihnen dabei weiterhin zur Seite stehen. Das Spendenstichwort lautet: Pakistan.