Palästina auf dem langen Weg zur Eigenstaatlichkeit

Von Dr. Mustafa Barghouti

01.06.2003   Lesezeit: 7 min

Das Schlimmste, was dem palästinensisch-israelischen Konflikt zur Zeit passieren könnte, wäre: Israel nimmt die Sache allein in die Hand. Wie das schon seinerzeit geschah, als Israel die Palästinenser in die Osloer Verhandlungen drängte, und damit die erste Intifada eindämmte, noch bevor diese zu entscheidenden politischen Ergebnissen führte. Mit militärischer Macht, durch seine Politik und Medien-Kampagnen gegen das palästinensische Volk, seine Institutionen und seine Führung trachtet Israel auf die Ermüdung unserer Menschen, die damit einmal mehr zur Abgabe einer beiderseitigen Erklärung auf ein Ende der Feindseligkeiten veranlaßt werden, während Israel seine Siedlungspolitik fortsetzt und sein Apartheid-System verstärkt.

Wieder ist Israel erneut darum bemüht, seine Friedensaufrufe mit dem Einsatz direkter Gewalt zu kombinieren, um unsere Unterwerfung zu erzielen. Die Perspektive, die von mir dagegen gesetzt wird, gründet auf dem Gedanken, daß die Schaffung eines unabhängigen Staates Palästina prozessuales Ergebnis eines fortdauernden Kampfes sein muß, nicht aber sich in bloßen Deklarationen oder politischen Abmachungen erschöpft. Es geht um diesen vor längerer Zeit eröffneten Prozeß, als die Palästinenser sich zu einer Initiative entschlossen, die zum Volksaufstand gegen die Besatzung führte. Mit viel Geschick und innerer Überzeugung ging diese Bewegung damals daran, die Grundlagen für eine Zivilgesellschaft und die Etablierung nationaler Institutionen zu realisieren, in der Hoffnung, konstitutive Zeichen für einen unabhängigen palästinensischen Staat gesetzt zu haben.

Eine erfolgreiche Strategie mit diesem Ziel ist fokussiert auf zwei fundamentale Prinzipien. Erstens, sie muß darauf bestehen, die Eigenständigkeit palästinensischer Entscheidungsfindung zu sichern – perspektivisch gerichtet auf das nationale Ziel der Beendigung der Besetzung und die Rückgewinnung aller seit 1967 okkupierten Land­gebiete, bei Aufrechterhaltung der Rechte der Flüchtlinge auf ihre Rückkehr. Zweitens: Es geht bei alledem um eine breite soziale Beteiligung der Basis unserer Menschen an diesem prozessualen Kampf zu unserer Verwirklichung unter obigen Vorzeichen. Notwendig ist das Bewußtsein, daß jeder einzelne unserer Menschen, – alle Schichten und Formationen der Gesellschaft übergreifend, – unmittelbar beteiligt ist am Aufbau eines unabhängigen, demokratischen Palästina. Das aber erfordert auch variable Formen des Kampfes, damit wirklich alle Teile der Gesellschaft sich engagieren können – entgegen Einschränkungen bürokratischer Natur, die geeignet sind, das Engagement der Basis zu marginalisieren. In einem solchen Kontext sollten wir auf bedachte Weise ehrlich und offen die Lage der Palästinenser thematisieren. Die Sache, um die es dabei geht, behandelt nicht nur einen Konflikt um Land oder Grenzen, einen Disput zwischen zwei gleichgestellten Partnern. Es geht hier nicht zuletzt um die Frage einer nationalen und sozialen Emanzipation, ausgedrückt in der Erwartung, auch den Palästinensern jene Patente zu gewähren, die die große Mehrheit der Menschen dieses Planeten längst genießt: vorzüglich das Recht auf Selbstbestimmung.

Die Erfahrung hat uns dreierlei gelehrt. Erstens, die Permanenz von Gewalt und Konflikten stellen nur die Symptome eines ursächlichen Problems dar: vor allem das der Okkupation, woraus im Laufe der Zeit ein Krebs geworden ist, der als Krankheit alle Existenzen auf beiden Seiten betrifft und vor allem den Glauben an die Zukunft nimmt. Zweitens – die beweist auch die europäische Erfahrung – ein wirklicher und dauerhafter Frieden kann nur zwischen Demokratien auf der Grundlage verwirklichter demokratischer Prinzipien vereinbart werden. Jede Konstruktion, die der einen Seite durch die andere aufgenötigt wird, ist zum Scheitern verurteilt. Wir werden niemals eine ungleiche Verabredung anerkennen können. Drittens: Allgemein gilt inzwischen die Auffassung, daß die Perspektive aller Friedensbemühungen auf das Ziel der Einrichtung eines demokratischen, unabhängigen Palästina hin orientiert sein muß. Dabei geht es um verbindliche Garantien, daß es sich dabei um einen souveränen Staat handelt, nicht um eine Staatlichkeit auf dem Papier und schon gar nicht um ein System von Bantustans, das von oben herunter diktiert wird. Knapp gesagt, der souveräne Staat Palästina muß eigenständig verfügen können über sein Land, seine Grenzen, seine natürlichen Ressourcen – und muß anerkannt sein als eine identifizierbare, geographisch geschlossene und demokratische Nation. Kurz gesagt, dieser Anspruch gilt für die gesamte West Bank und Gaza, mit der Haupstadt Ost-Jerusalem. Ein Staat als Rechtsstaat etabliert, der sich aller Rechten und Pflichten erfreut, die unabhängigen Nationen gewährt sind. Mithin sollten wir alle gängigen Bemühungen enttäuschen, Palästina, seine Institutionen und schließlich unsere Gesellschaft zu fragmentieren: durch weitere israelische Siedlungen, durch Grenzen und Sperren, indem wir Strukturen schaffen, die eine vereinigte Konzentrierung palästinensischer Energien möglich machen. Unsere »Vereinigung zur Koordination für Zivilgesellschaft« ist Ausdruck eines solchen Bemühens. Die Bedeutung der Schöpfung nationaler Einrichtungen, staatlicher wie nicht-staatlicher Art, kann nicht genug betont werden – ohne sie kann kein lebensfähiger Staat Palästina entstehen. Dies sind Essentiale für die Gewinnung einer authentischen palästinensischen Gründungs-Vision, die ausdrückt, was wir wünschen und hoffen. Die Herstellung einer demokratischen Verwaltung gilt als Vorbedingung für die Unabhängigkeit. Dabei ist die Zusammenarbeit mit internationalen Entwicklungsorganisationen erwünscht, – aber diesen sollte nicht erlaubt sein, anstelle von eigenen lokalen Institutionen zu handeln. Dieser Fehler, der anderswo schon gemacht wurde, würde unsere zivilgesellschaftliche Entwicklung hemmen.

Der langgehegte palästinensische Traum von der Aufhebung der Okkupation, von der Verwirklichung einer unabhängigen Nation, ist verwirklichbar, wenn wir uns auf folgende Ziele und Bedingungen konzentrieren: Aufrechterhaltung unserer nationalen Einigkeit und Entschlossenheit, durch den Kampf gegen Besatzung und Ungerechtigkeit, vermittels vorbereitender Bildung faktischer Staatlichkeits-Institutionen, verstärkt durch eine internationale Solidaritätsbewegung pro Palästina, nicht ohne Entwicklung eigener interner Strukturen der Rechtstaatlichkeit und Demokratie, legitimiert durch die größtmögliche aktive Beteiligung aller unserer Menschen beim Aufbau unseres Staates, schließlich fundiert auf der Basis freier Wahlen. Können nun die Palästinenser authentische Bürger mit allen Rechten und Pflichten werden? Die Verwirklichung dieser Prinzipien wird in der Tat jedem durchschnittlichen Palästinenser das Bewußtsein verschaffen, über sein eigenes Schicksal selber zu bestimmen, sein Land als freies zu erfahren, ihn in die Lage versetzend, die Zukunft in einer Umgebung der Sicherheit, des Friedens, des Rechts und der Gerechtigkeit zu bestimmen. In Würde.

Dr. Mustafa Barghouti ist Vorsitzender der Union of Palestinian Medical Relief Committees (UPMRC)


medico Projekte in Israel/Palästina

Woman Against Violence

medico unterstützt die Einzel- und Gruppen-Therapie im Halfway House für junge palästinensisch-arabische Frauen, die aus innerfamiliären Gewaltverhältnissen flüchten mußten. Projektträger und medico Partnerin ist die israelische Organisation »Women Against Violence«, die 1992 innerhalb der palästinensischen Gemeinde in Israel gegründet wurde, um das dort vielfach stärker als in der jüdischen Öffentlichkeit ­tabuisierte Thema Gewalt gegen Frauen anzugehen. Dazu gehören geschützte Räume (Frauenhäuser), in denen die Betroffen für längere Zeit verbleiben können. Die Grundstruktur dieser Schutzräume wird von den israelischen Sozialbehörden übernommen, die diese Mittel aktuell jedoch kürzt.

Ambulante Klinikbetreuung für Arbeitsmigranten in Israel

medico Partner ist die anerkannte Ärzteorganisation »Physicians for Human Rights« (PHR) mit Sitz in Tel Aviv. Projektziel: Arbeitsmigranten aus asiatischen und anderen Ländern werden in Israel seit Jahren systematisch mit zeitlich befristeten Arbeitsverträgen ins Land geholt, um die Abhängigkeit von den palästinensischen Arbeitskräften zu verringern. Schätzungen zufolge existieren in Israel bis zu 50000 offizielle und inoffizielle Arbeitsmigranten. – Seit 1988 betreiben die PHR-Gesundheitsarbeiter eine »Open Clinic for Migrant Workers«. Auslöser war der Tod eines Migranten, dessen medizinisches Problem wegen seines fehlenden Versicherungsstatus nicht behandelt wurde. Gegen einen symbolischen Beitrag betreuen Allgemein­ärzte, Gynäkologinnen und Kinderärzte die Patienten & Patientinnen an 5 Tagen in der Woche.

Spenden Sie bitte für diese und weitere medico-Hilfe in Israel/Palästina unter dem Stichwort: »Palästina«.

medico Projekt im Libanon

Krankenpflegeschule in Jalala

Palästinensische Flüchtlinge im Libanon werden durch staatliche Arbeitsverbote in mehr als 60 Berufen massiv in ihrer Existenzsicherung behindert. Deshalb sind Berufsbildungsmaßnahmen der palästinensischen Organisationen auch besonders wichtig – selbst wenn dadurch allein die gesetzliche und strukturelle Benachteiligungen auf dem libanesischen Arbeitsmarkt nicht verhindert werden können. Ein langjähriges Projekt (seit 1988) der medico-Partnerorganisation NAMSC (»The National Association of Social Medical Care and Vocational Training«) ist die Krankenpflegeschule in Jalala (Bekaa-Ebene), in der jährlich ca. 28 Schwestern oder Pfleger die ein- bis dreijährige Ausbildung abschließen. Durch die Registrierung als libanesische NGO kann die Schule für ihre Kurse und Ausbildungsprogramme eine staatliche Anerkennung erwirken, die den Zugang zum lokalen Arbeitsmarkt zumindest erleichtert.

medico international fördert und begleitet diese wichtige Einrichtung, die beides bietet: Berufsausbildung und Personal für die Gesundheitsversorgung, seit langem kontinuierlich. Wir bitten um Spenden für die Fortsetzung dieser Tätigkeit unter dem Stichwort: »Libanon«.


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