Der Pharmariese Novartis und seine Interpretation von Ethik
Daniel Vasella ist ein beneidenswerter Mann. Er ist Leiter des Pharmariesen Novartis, er hat ein geschätztes Jahreseinkommen von 20 Millionen Franken und er wurde in einer Leserumfrage der Financial Times im Jahre 2004 zum einflussreichsten Geschäftsmann der letzten 25 Jahre gewählt. 2003 erhielt er den Cancer Care Human Services Award, 2000 den Appeal of Conscience Award und 1998 den AJ Congress Humanitarian Award. Er ist Träger des brasilianischen Ordem Nacional do Cruzeiro do Sul und des französischen Ordre National de La Légion d’Honneur. Das deutsche Netzwerk Wirtschaftsethik zeichnete Novartis mit dem Preis für Unternehmensethik aus. Anfang des Jahres 2005 wurde Novartis für die Arbeit der Stiftung mit dem Excellence in Corporate Philanthropy Award geehrt. In Deutschland, Frankreich, Spanien und Grossbritannien sowie in lateinamerikanischen Staaten und China wurde Novartis im Jahr 2005 nach Umfragen als "bester Arbeitgeber" ausgezeichnet.
Im Jahr 2005 etablierte Novartis zusammen mit dem Beratungsunternehmen Business for Social Responsibility (BSR) in allen Niederlassungen weltweit einen Standard für die Zahlung "existenzsichernder Löhne". Novartis zählt damit zu den ersten international operierenden Industrieunternehmen, die eine entsprechende Verpflichtung eingegangen sind. "Nach unserer Definition soll ein 'existenzsichernder Lohn' den Mitarbeitern ermöglichen, ihre materiellen Grundbedürfnisse sowie bestimmte zusätzliche Ausgaben zu decken", so Novartis in der firmeneigenen Darstellung, und weiter: "Hohe ethische Standards sind für die Geschäftstätigkeit von Novartis von entscheidender Bedeutung. Wir pflegen und fördern eine Unternehmenskultur, in der ehrliches, gesetzeskonformes und integres Verhalten als Schlüssel zum Erfolg gilt."
Philanthropie als Geschäftsidee
Novartis und Vasella sind so erfolgreich, dass sie verschiedene richtungsweisende Initiativen für einen besseren Zugang zu Medikamenten gewährleisten. So etwa die Gründung des Novartis Institute for Tropical Diseases zur Erforschung vernachlässigter Krankheiten in den Entwicklungsländern, das International Patient Assistance Program im Falle des bahnbrechenden Krebsmedikaments Glivec®/Gleevec®, die Bereitstellung des neuartigen Malariapräparats Coartem für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Selbstkostenpreis sowie die Zusicherung, die zur weltweiten Eliminierung der Lepra nötigen Medikamente kostenlos zur Verfügung zu stellen. Für 696 Millionen US-Dollar gibt Novartis Medikamente kostenlos oder zum Selbstkostenpreis für 6,5 Millionen Patienten weltweit aus.
Bei so viel ethischem Verhalten gerät auch die kleinste Kritik an Novartis in den Verdacht ewiggestriger Stänkerei. Vor wenigen Tagen aber erreichte medico international ein Hilferuf indischer Patienten und Gesundheitsorganisationen, die Novartis auffordern, eine Klage gegen die indische Regierung zurückzuziehen. Novartis klagt für das Verbot von Imantinib Mesylate, einer Generika-Version des Krebsmedikaments Glivec®/Gleevec®. Das Medikament ist für an Blutkrebs leidende Patienten unerlässlich. Sie müssen das Medikament lebenslänglich einnehmen, solange es keine Behandlung oder Kur gibt. Novartis verkauft in Indien für 1,44 Millionen Rupees (US$ 26.000) pro Patient und Jahr. Die generische Version Imantinib Mesylate ist auf dem indischen Markt für etwa 96.000 Rupees. (US$ 2.100) pro Patient und Jahr erhältlich. Novartis beruft sich bei seiner Klage auf das TRIPS-Abkommen, einem internationalen Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums. (siehe auch "Auf Kosten der Patienten", rundschreiben 3/2006)
Einspruch gesundheitspolitischer Gruppen
Die schweizerische Initiative "Erklärung von Bern" hat sich jüngst mit einem Brief in dieser Angelegenheit an Dr. Daniel Vasella gewandt:
"Die Anfechtung durch Novartis widerspricht dem Buchstaben und Geist der Erklärung von Doha über das TRIPS-Abkommen und das Gesundheitswesen. In der Erklärung von Doha wird anerkannt, dass das TRIPS-Abkommen auf eine Weise interpretiert und ausgeführt werden soll, welche das Recht der WTO-Mitglieder, ihr Gesundheitswesen zu schützen und vor allem den Zugang an Medikamente für alle zu fördern, stärkt’. Novartis will mit seinem Vorgehen Möglichkeiten der indischen Regierung einschränken, Maßnahmen zum Schutz des Gesundheitswesens seiner Bevölkerung zu ergreifen. (...) Uns beunruhigen die Folgen der von Novartis angestrebten Änderungen des indischen Rechts. Damit würde der Zugang zu wesentlichen und lebenswichtigen Generika (…) nicht nur in Indien gefährdet, sondern auch in den anderen Entwicklungsländern, welche die Medikamente aus Indien importieren. Es schockiert uns, dass Novartis - fünf Jahre nach dem Ende des Prozesses, den Novartis mit anderen Pharmalaboratorien gegen die südafrikanische Regierung geführt hatte - schon wieder versucht, den Spielraum eines Entwicklungslandes einzuschränken, welches das TRIPS-Abkommen der WTO stärker an seine Bedürfnisse der öffentlichen Gesundheit anpassen will. Aus diesen Gründen fordern die unterzeichnenden Organisationen und Personen Novartis auf, ihre Klage gegen das Indische Patentgesetz und die Entscheidung des Indischen Patentamts über Glivec®/Gleevec® zurückzuziehen."