Von Katja Maurer
„Wir haben Glück gehabt“, sagt Wesam Sabaaneh und steckt sich eine neue Zigarette an, während er die Hamra-Straße Richtung Büro schlurft. Von Ferne leuchtet das Meer im Sonnenlicht blau und in unserem Rücken erhebt sich ein markanter Turm der saudischen Botschaft, der wie ein überdimensioniertes Teleskop ein wachendes Auge auf alles wirft. Auf der kurzen Strecke vom Hotel bis zum Büro durch das einst berühmte Beiruter Vergnügungsviertel Hamra erzählt Wesam, dass sein Vater jahrzehntelang Kämpfer der palästinensischen Fatah gewesen sei. Er lebt noch. Das bezeichnet er als Glück in der palästinensischen Vergeblichkeit. Die Familie, die eigentlich aus Jenin stammt, hat es nach Syrien verschlagen, wo Wesam im palästinensisch geprägten Yarmouk aufwuchs, einem Stadtteil von Damaskus. Auf einer Strecke von 500 Metern landet man unversehens in der Erzählung eines permanenten Exils, das viele palästinensische Familien in alle Winde verstreut hat. Seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien überlebt die von Wesam, bis auf einen Bruder, der in Schweden lebt, in Beirut.
Wesam leitet Jafra, den syrisch-palästinensischen medico-Partner, der vom Libanon aus die Hilfe in die palästinensischen Gemeinden in Syrien koordiniert. Der atemberaubende Blick von seinem Büro im achten Stock entlockt ihm nur ein Schulterzucken. Denn er und seine Kollegen organisieren von hier oben aus das Überleben inmitten des Schreckens. Jafra war ursprünglich eine linke Jugendorganisation. Doch schnell haben sich die jungen Palästinenser um Wesam von den alten politischen Gruppierungen losgesagt und parteiunabhängig neue Perspektiven mit Jugendlichen entwickelt. Auch für sie war der arabische Frühling ein Fanal. In Yarmouk demonstrierten zu Beginn des demokratischen Aufstands in Syrien 200.000 Menschen. Als die Armee die ersten Angriffe startete, setzte eine immense Fluchtbewegung ein. Wie 1948, meint Wesam, hätten viele geglaubt, dass sie bald zurückkehren würden. Ein Trugschluss.
Überlebenstechniken via Internet
Seit Beginn des Bürgerkriegs leisten über 500 Freiwillige von Jafra in sechs syrisch-palästinensischen Ansiedlungen, die sowohl im Rebellengebiet wie in Regierungszonen liegen, Nothilfe – oft unter extremen Umständen. So während der Belagerung von Yarmouk zwischen August 2013 und März 2014 und gerade jetzt in der syrisch-palästinensischen Stadt Khan Eshie. Sie wird von Regierungstruppen und russischen Bombern immer wieder mit Clustermunition, Fassbomben und Napalm angegriffen, um die Stadt zu entvölkern. Von Beirut aus entwickelt Jafra Lehrfilme zum Überleben in solchen Zonen. Sie zeigen, wie aus Dächern Nutzgärten werden, wie man aus Plastikflaschen Öl gewinnt, Batterien mit Fahrradfahren auflädt und in Handarbeit sterile Beutel für Blutkonserven herstellt.
Aber es geht um mehr. „Wir erziehen die Menschen im Geist der Solidarität“, sagt Wesam und betrachtet das als eine Alternative zum Dschihad. In den Schulklassen, die Jafra-Freiwillige aufrechterhalten, werden die kargen Mahlzeiten geteilt, selbst mit Katzen. Einige sollen die Belagerung in Yarmouk überlebt haben. Obwohl „nicht einmal Vögel fortfliegen konnten“. Aus Yarmouk erzählt Wesam von Szenen, die an die Leningrader Blockade erinnern. Er berichtet von Kindern, die im Unterricht ohnmächtig wurden, weil sie unterernährt sind; von Wohnungen, in denen Jafra-Kollegen nur noch die Leichen verhungerter älterer Menschen auffanden. 185 Erwachsene und Kinder sind bei der Blockade an Hunger gestorben. Dürre, fast nichtige Zahlen angesichts der hunderttausenden Todesopfer des Bürgerkrieges. Und doch war die Belagerung von Yarmouk ein Symbol dafür, dass dieser Krieg zuallererst ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung ist, in dem kein Völkerrecht zählt.
Die Lage der syrisch-palästinensischen Bevölkerung ist darin ein besonderer Beleg. Jafra hat zum Beispiel in seinen Erklärungen immer wieder auf die palästinensische Neutralität im Bürgerkrieg hingewiesen. Die Ortschaften wurden trotzdem nicht verschont. Auch wurden Jafra-Mitarbeiter gezielt von syrischen Sicherheitskräften festgenommen. Einer von ihnen, Khaled Bakrawi, einer der Gründer von Jafra, wurde in einem Armee-Hinterhalt festgenommen. Seinen Leichnam entdeckte Wesam auf einem Foto im Januar 2013.
Fast 600.000 palästinensische Flüchtlinge sind in Syrien registriert. Sie sind überproportional von dem Konflikt betroffen. Etwa 100.000 haben Syrien nach Jordanien, in den Libanon, den Gaza-Streifen und nach Europa verlassen. Der Rest lebt zumeist intern vertrieben in Syrien. 95 Prozent der syrischen Palästinenser sind verarmt und dauerhaft auf Hilfe angewiesen. Dabei war die syrische einst eine der wenigen prosperierenden palästinensischen Diaspora-Gemeinden in der arabischen Welt. Zudem fühlen sich viele syrische Palästinenser nicht mehr politisch vertreten. Die PLO-Führung hatte sich über ihren Vertreter Ahmad Majdalani mit der Begründung der Terrorbekämpfung hinter die Militäroperationen der Assad-Regierung gestellt, statt die eingeschlossenen Menschen vor Ort zu verteidigen.
Schikanen gegen die Flüchtlinge
Während Jafra seine Arbeit vom Libanon aus steuert, beschäftigt sich der medico-Partner AMEL , eine überkonfessionelle sozialmedizinische Gesundheitsorganisation, die während des libanesischen Bürgerkrieges entstanden ist, mit der Situation der syrischen Flüchtlinge im Libanon selbst. Offiziell leben eine Million syrische Flüchtlinge im Libanon, inoffiziell könnten es bis zu 1,5 Millionen sein. Libanon trägt damit den proportional höchsten Anteil der syrischen Katastrophe. Seit Beginn des Bürgerkriegs hat AMEL die Arbeit für arme Libanesen und palästinensische Flüchtlinge um die Versorgung der syrischen Flüchtlinge erweitert. Eine Sache der Menschlichkeit und der Solidarität, so der AMEL-Direktor Dr. Mohanna. Er ist ein Urgestein der libanesischen Sozialmedizin und residiert im obersten Stock des AMEL-Gebäudes an einer sechsspurigen Ausfallstraße in Beirut. Die Kooperation mit medico begann Ende der 1980er Jahre. Die sozialmedizinische Unterstützung der 400.000 palästinensischen Flüchtlinge, die im Libanon lebten, war jahrelang das gemeinsame Anliegen. Mittlerweile hat etwa die Hälfte der alteingesessenen Palästinenser den Libanon verlassen, weil ihnen ihre seit 1948 eingeschränkten Wohn- und Arbeitsrechte im Libanon keine dauerhafte Entwicklungsperspektive bieten.
Mit einem ähnlichen Rezept will sich der Libanon nun auch die syrischen Flüchtlinge vom Leib halten. So wurden in den letzten beiden Jahren die Gesetze für syrische Flüchtlinge deutlich verschärft. Alle müssen sich jährlich neu registrieren lassen und dafür 200 Dollar pro Kopf bezahlen. Für viele ist das eine unüberwindbare Hürde. Also erneuern sie ihre Registrierung nicht, mit der Folge, dass sie sich nicht mehr frei im Land bewegen können. 2015 wurde zudem die Registrierung für neuankommende Flüchtlinge ganz ausgesetzt. Sie leben im quasi rechtsfreien Raum. In einem Land, das übersät ist mit Checkpoints, schränkt das die Bewegungsfreiheit und damit die Arbeitsmöglichkeiten erheblich ein. Wie dramatisch das ist, wird bei unseren Besuchen in den Gesundheitszentren von AMEL in Burj el Barajneh im südöstlichen Beirut und den mobilen Sprechstunden in der Bekaa-Ebene deutlich: Stets bilden sich Trauben von Menschen um uns. Alle beklagen verzweifelt, dass sie nicht registriert sind und keine Hilfe erhalten.
Existentielle Not kennt auch Haifa al-Eid, eine junge Frau aus dem umkämpften syrischen Deir ez-Zor. Seit vier Jahren lebt die Dreißigjährige mit ihren vier Kindern in Beirut unweit vom AMEL-Gesundheitszentrum in Burj el Barajneh, das sie regelmäßig besucht. Nur wenige Schritte sind es über einen Platz mit Cafés und Geschäften, über dem Stromkabel bedrohlich hin und herschaukeln. Über vier schiefe Stufen und einen Gang entlang, in dem eine Wäscheleine nur seitliches Begehen erlaubt, gelangen wir in die Wohnung von Haifa. Wohnung? Ein feuchter, acht Quadratmeter großer Raum, in dem der Putz von den Wänden bröckelt. Ein Fenster zum Hof bietet kaum Tageslicht. Hier lebt die fünfköpfige Familie und zahlt dafür monatlich 200 Dollar. Haifa sitzt auf einer durchgelegenen Matratze, ihr rot leuchtendes Kopftuch macht ihr Gesicht noch blasser. Sie erzählt, dass sie seit Monaten die Miete schuldet und vor der Zwangsräumung steht. Was kann sie tun? „Es kommt, was kommt“, sagt Haifa gleichgültig. Sie küsst ihre Kinder, die sich an sie schmiegen. Plötzlich beginnt sie zu weinen. Vor wenigen Stunden habe sie die Nachricht erhalten, dass ihr 13-jähriger Neffe bei einem Bombenangriff in Syrien ums Leben gekommen sei.
Haifa hat mit anderen Flüchtlingsfrauen, die sich im AMEL-Gesundheitszentrum trafen, von zwei französischen Fotografinnen Unterricht erhalten und eine gute Kamera in die Hand bekommen. Ende Oktober 2016 stellten sie im Gesundheitszentrum ihre Bilder aus. Seit langem sind sie erstmals keine Bittstellerinnen, sondern Erzählerinnen ihrer Geschichte. Haifas Fotos zeigen ihre Kinder beim Spielen, beim Lernen. Die Kinder symbolisieren auch in dieser Misere die Hoffnung auf eine andere Zukunft. „Meine Kinder sind Syrer. Sie lernen für ihre Zukunft“, schreibt Haifa auf eines ihrer Fotos.
Arabischer Frühling als Hoffnung
Das Zentrum des nach wie vor beeindruckend multireligiösen Beirut, das vor dem Bürgerkrieg als das Paris des Nahen Ostens galt, ist heute vom Glanz der neoliberalen Großmannssucht geprägt. Gläserne Wohntürme mit riesigen Apartments, die nur wenige Wochen im Jahr von reichen Auslandslibanesen bewohnt werden, liegen an der Corniche zum Meer, das allerdings von den Fäkalien der Großstadt verseucht ist. Gleich hinter dem wieder errichteten Suq, der nichts anderes ist als eine überteuerte Einkaufsmeile, bestimmt eine Moschee von unerhörter Dimension den Platz der Märtyrer. Das alles wirkt bizarr und in seinem monumentalen Anspruch merkwürdig fragil. Die Mischung aus hemmungslosem Konsumismus und religiösem Fundamentalismus ist symbolisch für die Konflikte der Region.
Ghassan Issa, libanesischer Arzt und Leiter des alten medico-Partners Arab Resource Collective sieht die ganze arabische Region eingezwängt in einen Konflikt zwischen Militärs, die den Nationalismus als Restposten neoliberal verwalteten, und verschiedenen Formen des religiösen Fundamentalismus. Issa, knapp über 60, betrachtet sich selbst als heimatlosen Linken. Der UNO und vielen internationalen Hilfsorganisationen bescheinigt er eine falsche Herangehensweise an die Krise in der Region. Die UNO betrachte die Probleme nur auf lokalem Niveau. „Politisch ist aber der gesamte arabische Raum eine Region geworden. Die Bombardierungen in Jemen sind mit denen in Aleppo verbunden“, so Issa. Die Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts sei nicht mehr die Schlüsselfrage der Region, sondern die Frage, was nach dem Ende des Nationalismus komme. Der arabische Frühling sei eine Antwort gewesen, die man nicht vergessen dürfe. Seine Losungen von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde seien anfangs ganz ohne Religion ausgekommen. Die Ideen des Frühlings bedürften einer neuen politischen Organisation. Sie seien die einzigen, die den verschiedenen Formen von religiösem Fundamentalismus in der Region ernsthaft entgegenstehen könnten. „Wir brauchen Gemeinwesenarbeit und die Förderung der Jugend, um neue Organisationsformen des demokratischen Wandels zu fördern“, gibt er medico als Ratschlag für die weitere regionale Arbeit mit auf den Weg.
Seit Mitte der 1980er Jahre unterstützt medico Partner im Libanon. Mit der syrischen Krise ist es zu einem zentralen Projektland geworden, in dem alte Partner wie AMEL und die palästinensische Organisation Nashet genauso aktiv sind wie der neue Partner Jafra, der seine Hilfe in Syrien von Beirut aus koordiniert. Spendenstichworte: Libanon und Syrien
Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen>Jetzt abonnieren!