Politische Überlebenshilfe

21.05.2010   Lesezeit: 5 min

Unter dem Stichwort „kritische Nothilfe“ organisieren wir Hilfe, die mehr ist als Katastrophenmanagement. Nur so lässt sich vermeiden, dass Menschen zu passiven Hilfsempfängern degradiert werden und sich ihre Ohnmacht noch verlängert. Gerade in der Gaza-Hilfe zielten unsere Maßnahmen nicht allein auf die unmittelbare Unterstützung all jener, die durch die Kriegshandlungen ihr Hab und Gut verloren oder verletzt wurden. Gemeinsam mit unseren israelischen und palästinensischen Partnerorganisationen formulierten wir von Anfang an eine öffentliche Kritik an den sozialen, politischen und ökonomischen Ursachen, die der andauernden humanitären Katastrophe im Gazastreifen zugrunde liegen.

Sofort nach Beginn des israelischen Bombardements auf den Gazastreifen um die Jahreswende 2008/09 begannen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Palestinian Medical Relief Society (PMRS) rund um die Uhr zu arbeiten. Unterstützt durch ein großes Netz von Freiwilligen konnten die mobilen Kliniken die Verletzten evakuieren und erste Hilfe leisten.

Sozialarbeiter betreuten die Angehörigen der Toten und Verwundeten und in die PMRS-Gesundheitszentren kamen chronisch Kranke, Herzpatienten oder Schwangere in großer Zahl, da die regulären Krankenhäuser mit Verletzten überfüllt waren. Die PMRS konnte diese Nothilfe Dank der enormen Resonanz der medico-Spenderinnen und -Spender realisieren. Der unmittelbare Aktionsradius unseres langjährigen Partners vor Ort wurde effektiv erweitert: Tausende von Erste-Hilfe-Paketen, Labormaterialien und Medikamenten sowie Erste-Hilfe-Kurse konnten gekauft werden.

Rehabilitation & Basisgesundheitsdienste

Angesichts der verheerenden Nachwirkungen begannen die PMRS und medico nach Beendigung der Kampfhandlungen eine zweite Hilfe. Aufgrund der zerstörten Gebäude hatten Zehntausende ihre Wohnungen, beziehungsweise ihr Hab und Gut verloren. Viele lebten auch Monate nach den Angriffen in beschädigten Unterkünften, teilweise ohne Haushaltsgegenstände, Wasser oder Strom.

Das soziale Netz der PMRS half hunderten Familien, die beraten oder gegebenenfalls an eine weitere psychologische Beratung vermittelt werden konnten. Die Sozialarbeiter der PMRS verteilten individuell zusammengestellte Hilfspakete, die sowohl Haushaltsgegenstände oder Kleidung, aber auch Schultüten für die Kinder enthielten. Sie stellten das Bindeglied zwischen den lokalen Gemeinden und den anderen Diensten der PMRS dar, etwa dem Physiotherapiezentrum, in dem Verletzte sowie Menschen mit Behinderungen betreut werden.

Die Angriffe der israelischen Armee hatten auch zur Folge, dass sich die Situation der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten verschlechterte. Es sind jene Ärmsten der Armen im Gazastreifen, denen jede finanziellen Mittel für die eigene Gesundheitsversorgung fehlen. Mithilfe zweier mobiler Kliniken konnte PMRS diese Menschen erreichen und ihnen den Zugang zu Gesundheitsdiensten, ärztlicher Beratung, Medikamenten oder Labortests ermöglichen. Etwa 3.000 Fälle behandelten sie monatlich; viele Patienten litten unter Atemwegserkrankungen, Madenwürmern, Hautinfektionen oder chronischen Krankheiten. Weiter profitierten hunderte von Patienten im zerstörten nördlichen Gazastreifen von erweiterten Gesundheitsdiensten. In der PMRS-Klinik in Jabalia nahe der israelischen Grenze wurde eine zusätzliche Nachmittagsschicht und ein regelmäßiger Besuch von neuen Fachärzten eingerichtet.

Die Hilfe überflüssig machen

Die Akuthilfe sowie die psychosozialen, physischen und materiellen Rehabilitationsmaßnahmen waren für die Bevölkerung überlebensnotwendig. Sie änderten aber nur wenig an den Ursachen der Not, dem Vorgehen des israelischen Militärs und der Blockade des Gazastreifens.

Angespornt durch eine aufgebrachte Öffentlichkeit, die den fortwährenden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen auf zivile israelische Ziele nicht mehr dulden wollte, entschied sich die israelische Regierung für ein massives und flächendeckendes Bombardement des Gazastreifens. Die grenzüberschreitende Militärinvasion sollte aber auch den politisch missglückten Krieg im Libanon 2006 vergessen machen. Um das Leben der eigenen Soldaten nicht zu gefährden, wurde zwischen zivilen und militärischen Zielen bewusst nicht mehr differenziert.

Dem schweren und modernen Geschütz fielen 1.393 Palästinenser zum Opfer, darunter 347 Kinder. Aus Kritik an der patriotischen Stimmung an der Heimatfront und angesichts der abwartenden Untätigkeit der Weltgemeinschaft schickten die Ärzte für Menschenrechte aus Tel Aviv, medicos langjähriger israelischer Partner, eine unabhängige ärztliche Untersuchungsmission in den Gazastreifen. Zusammen mit seinem Partner Breaking the Silence veröffentlichte medico zudem Zeugenaussagen von israelischen Soldaten, die damit ihr Schweigen über das militärische Vorgehen in Gaza brachen. Beide Berichte bestätigten die Befürchtungen über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Sie führten zudem zu einem solchen Druck, dass die Vereinten Nationen dazu bewegt werden konnten die sogenannte „Goldstone-Kommission“ einzusetzen.

medico hofft mit seinen Partnern dazu beigetragen zu haben, dass die gestiegene internationale Aufmerksamkeit die Akteure in Israel und Palästina zukünftig eher daran hindert, zivile Opfer derart leicht und billigend in Kauf zu nehmen. Die durchgängige Blockade des Gazastreifens, die Israel seit der Machtübernahme durch die Hamas im Jahr 2007 verhängt hatte, ist aber nur der Höhepunkt einer Politik der Isolation und Strafe, die seit den 1990er Jahren immer umfassender wird. Schon längst ist der Gazastreifen, in dem heute 1,4 Millionen Menschen auf engstem Raum leben, aus sich selbst heraus nicht mehr lebensfähig. Die Wirtschaft ist zusammengebrochen und 80% der Bevölkerung sind von externer Hilfe abhängig. Weil die Not in Gaza im System der Abschottung begründet liegt, kann sie nur durch eine bewusst kritische, d.h. politische Nothilfe überwunden werden; eine Hilfe, die die Betroffenen unmittelbar unterstützt und zugleich die Gründe der Misere öffentlich benennt.

Im Jahr 2009 arbeiteten medico und seine Partner intensiv daran, durch die Einladung von Journalisten in die betroffene Region, durch Berichte und politische Lobbyarbeit in der Bundesrepublik, die öffentliche Meinung und das politische Berlin dafür zu gewinnen, dass die Kollektivbestrafung der Bevölkerung von Gaza endlich aufgehoben wird, sprich: die Blockade endet und unsere Nothilfe endlich überflüssig wird.

Zur Unterstützung unserer Partner in Palästina und Israel konnten wir 2009 insgesamt 989.551,39 € aufwenden. Neben unseren Spenderinnen und Spender trugen dazu Fördermittel von ECHO, des Auswärtigen Amtes, des Vertretungsbüros der BRD bei der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, der Kinderhilfe Bethlehem, der Caritas Schweiz, der schweizerischen Olivenölkampagne, der Glückskette Schweiz sowie von medico international Schweiz bei.


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