Psychologie des Nahostkonflikts

Israel auf der Couch. Von Ofer Grosbard.

01.09.2002   Lesezeit: 5 min

Die emotionalen Prozesse zwischen Nationen sind oft regressiver als die zwischen Individuen. Daher müssen wir uns der Kindheit zuwenden, um die Dynamik dieser Prozesse zu verstehen. Das kann uns helfen, die Schwierigkeiten zu erkennen, die mit der Freilassung von Palästinensern aus israelischer Haft verbunden sind, die Israelis getötet haben. Im normalen Alltagsleben von Erwachsenen gibt es selten die scharfe Trennung zwischen Freund und Feind, Held und Mörder, gut und böse. Auf der politischen Ebene ist dagegen die Vorstellung weit verbreitet, daß unsere Soldaten Helden sind, während die der Feinde alle Mörder sind. Welche Entwicklung muß der Patient oder das Kind durchlaufen, damit der Mörder und der Held zu einer Einheit verschmolzen werden, statt abgetrennte Teile der Seele zu bleiben? Nehmen wir als Beispiel einen Jungen, der sich als guter Held fühlt und den Jungen in der Klasse, den er haßt, als böses Monster sieht. Der Junge projiziert die Teile, die er an sich selbst nicht anerkennen mag, auf den anderen. So ist die Welt für ihn in Ordnung. Das Gute ist in ihm selbst, das Böse in jemand anderem. So muß das Kind nicht die Verantwortung für die eigenen schlechten Anteile übernehmen. Das Kind steht auf diese Weise mit der Außenwelt und nicht mit sich selbst in Konflikt. Je besser wir das Leid verstehen, das wir den Palästinensern zugefügt haben, je besser wir unseren Wunsch verstehen, so viel wie möglich von diesem Land zu kontrollieren und alles davon im Namen Gottes zu beanspruchen, ohne den anderen etwas zu überlassen, desto eher werden wir auch die andere Seite als Freiheitskämpfer für ihre Sache begreifen. Wir werden verstehen, daß Helden und Mörder zwei unterschiedliche Aspekte ein und derselben Seele sind. Im Gefühlsleben steht hinter jedem Held ein Mörder und hinter jedem Mörder ein Held. Wir durchlaufen als Nation einen vergleichbaren Prozeß. Über die Jahre hat unsere Existenzangst schrittweise abgenommen. Wir fühlen nicht mehr mit derselben Intensität die Ängste wie zum Beispiel während des Holocausts oder während der Zeit unserer Staatsgründung oder während des Jom-Kippur-Kriegs. Inzwischen fangen wir an, uns bewußt zu werden, was wir anderen angetan haben. Heute wird uns langsam klar, daß wir ein anderes Volk beherrschen und unterdrücken. Barak hatte einmal den Mut, zu sagen: »Wäre ich ein Palästinenser, würde ich selbst einer Terrororganisation beitreten.« Erst nachdem wir diesen Prozeß durchlaufen hatten, konnten wir uns erneut selbst betrachten und feststellen, wie ähnlich wir ihnen sind. Wir sprechen über den langen emotionalen Prozeß des Friedens, aber bei der Frage »Mörder oder Helden« tauchen neue Probleme auf. Wir werden dazu aufgefordert, Terroristen aus unseren Gefängnissen zu entlassen. Das würde bedeuten, daß wir mit ansehen müßten, daß die Terroristen, die wir als Mörder betrachten, befreit und von den Palästinensern als Helden empfangen werden. Sind es inhaftierte Helden oder freie Mörder? Was für ein emotionaler Prozeß könnte uns dabei helfen, diese schnelle und schwierige Veränderung zu bewältigen? Wir müßten einen bestimmten Zeitpunkt festlegen, ab dem die Terroristen Helden genannt und befreit werden könnten. Jeder Palästinenser, der nach diesem Zeitpunkt getötet hat, bleibt weiterhin ein Mörder und in Haft. Aber auch dies ist ein zu scharfer Wechsel für unsere Gefühle.

Wir brauchen noch weitere emotionale Hilfsmittel, die uns durch diesen Wechsel begleiten. Daher schlage ich vor, daß wir die Gäste und die Paten bei der Zeremonie zur Ausrufung des ­palästinensischen Staates werden. Das ist vor allem in unserem eigenen Interesse. Im Zuge dieses Ereignisses werden alle Terroristen freigelassen, die bis zum Zeitpunkt der Staatsgründung gemordet haben. Wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt einen emotionalen Wandel herbeiführen wollen, benötigen wir ein Ritual, das Kräfte aus unserem Unbewußten freisetzt. Die Palästinenser müssen ihrerseits versprechen, daß sie nach Erhalt ihrer Unabhängigkeit ihre Forderungen nach Freilassung der Terroristen fallen lassen werden. Die ­unbewußte, assoziative Verknüpfung eines unabhängigen Staates mit der Kontrolle der Aggressionen ist deutlich. Die Ausrufung des paläs­tinen­sischen Staates, bei der wir Paten sein werden, bedeutet mehr als nur ein weiteres Friedensabkommen. Es bedeutet den letzten Schritt der Palästinenser zur Reife und zur Verantwortlichkeit.

Die Zeremonie, durch die wir Paten des palästinensischen Staates werden, muß tief in alle Bewußtseinsebenen des palästinensischen Volkes dringen. Wir benötigen ebenfalls eine Zeremonie des Übergangs, die es uns erlaubt, unsere Sicht der Araber im allgemeinen und der Palästinenser im besonderen zu ändern. Warum können wir nicht ihren »Nakba-Tag«, den Tag der Katastrophe, respektieren, den sie zur Erinnerung an ihre Vertreibung von 1948 begehen? Sind wir noch nicht reif genug dazu, den Schmerz der anderen neben unserem zu ertragen? Wir brauchen Rituale, die uns helfen, den tiefen Einstellungswandel gegenüber den Palästinensern zu verinnerlichen. Unser Ziel sollte es sein, eine neue Wirklichkeit zu schaffen, in der wir zusammen nach Symbolen suchen, die für unser aufrichtiges Streben nach Frieden stehen. Sowohl die Palästinenser als auch wir brauchen einen festen Zeitpunkt, ab dem wir uns für unsere Taten voll verantworten. Es geht um die tiefe, unbewußte Erfahrung der Zügelung unserer Impulse. Die Frage, ob ein Mensch ein Held oder ein Mörder ist, verwirrt uns. Diese Verwirrung verrät ein Verlangen nach Ordnung und Klarheit, die Grundbestandteil jeder menschlichen Gesellschaft sind. Der emotionale Wachstumsprozeß von Individuen und von Staaten, der nur langsam vorangeht, erfordert viele geheime Vorbereitungen, bis die Abschlußzeremonie erfolgen kann. Dann ist der große Tag auf einmal da.

Nachwort

»Keine Couch wird ihre Probleme lösen…«, sagt skeptisch Yoram Kaniuk im Editorial zu Grosbards Buch, dessen Versuch, die komplizierte Realität des Nahen Ostens mit psychoanalytischen Mitteln deuten & lösen zu helfen, er dennoch sehr begrüßt. Weil es verstehen hilft, die Geschichte des Konflikts wenigstens im Erleben zu begreifen. Weil diese Komplexität unbedingt ein neues & originelles Licht erfordert. Vielleicht geht es dann so, wie mit Grosbards Mutter, die mit nichts übereinstimmt, was der Sohn schreibt, den sie einen »eifernden Linken« nennt. Dessen Schreiben sie aber finanzierte, weil es »der Aufklärung« dient.


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