Ruinen heute – Über das Desaster, die Hilfe und das Problem der Moral

19.08.2005   Lesezeit: 7 min

Über das Desaster, die Hilfe und das Problem der Moral. Der Rundschreiben-Kommentar, von Thomas Genauer.

I. "Deutschland – Land der Ideen." Das Motto, mit dem die Bundesregierung im Verbund mit der Wirtschaft Deutschland im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft präsentiert will, ist bemerkenswert. Scheint es mit Blick auf die Pisa–Resultate vielleicht ein wenig gewagt, ist es angesichts der aktuellen sozialen Entwicklung Deutschlands nur noch zynisch.

Statt eine zeitgemäße gesellschaftspolitische Vision davon zu entwickeln, wie Existenzsicherung jenseits von Lohnarbeit garantiert werden kann, hält die herrschende Politik unbeirrt am längst zur Fiktion gewordenen Konzept der Vollbeschäftigung fest. Statt nach Formen zu suchen, wie der gesellschaftliche Reichtum zum Wohle aller verteilt werden kann, lässt sie es zu, dass die Schere zwischen Arm und Reich wieder Ausmaße annimmt, die längst überwunden geglaubt waren. Statt denen zur Seite zu stehen, die Opfer einer nur noch den Anteilseignern verpflichteten Ökonomie werden, setzt sie die Arbeitslosen unter Druck. Auch die Wendung, dass es die Opfer selbst seien, die an der ganzen Misere Schuld trügen, ist keineswegs neu.

Immer dreister schüren Politiker und einschlägige Medien einen Sozialneid, der sich rassistischer und chauvinistischer Ressentiments bedient. Unverhohlen droht der hessische Ministerpräsident der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein mit Konsequenzen, falls sie ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrzunehmen gedenkt. Kampagnenartig wird die Idee einer nicht nur den Waren- und Kapitalverkehr meinenden globalen Freizügigkeit angegriffen - und werden dabei in volksverhetzender Weise mal eben die Bewohner der Ukraine als "Ostkriminelle" stigmatisiert.

Was Wunder, wenn in einem solchen Klima keine so recht überzeugende Idee aufkommen will, wie dem sich in der Mitte der Gesellschaft wieder breitmachenden Rechtsextremismus begegnet werden kann. Gegen die NPD aufzustehen, sei eine Sache der Anständigen, mithin der Moral, verkündet die Regierung. Gemeinsam mit der Industrie will sie die Weltmeisterschaft dazu nutzen, um wenigstens im Ausland das Image Deutschlands aufzupolieren. 20 Mio. € sind veranschlagt, um Deutschland als Land der Ideen zu vermarkten. 10 Mio. € gibt die Bundesregierung, nochmals 10 Mio. € sollen DaimlerChrysler, Bayer, Siemens, die Deutsche Bank und OBI & Co. beisteuern, um beispielsweise vor dem Brandenburger Tor ein überdimensionales Auto aufzubauen und den Reichstag mit einem gigantischen Stollenschuh zu schmücken. An einen Springerstiefel ist selbstverständlich nicht gedacht, aber auch nicht an das Herausstellen jenes kritischen Denkens, für das Deutschland auch einmal gestanden hat. Nein, das Ganze sei ohnehin schon viel zu schöngeistig, befanden einige Unternehmen und verlangten schlicht nach mehr Zukunftstechnologie.

II. Als Ende letzten Jahres das Seebeben die Küsten Südasiens verwüstete, zeigten sich auch jene Unternehmen spendabel, die ansonsten in vorderster Front der gesellschaftlichen Entsolidarisierung stehen. Zur besten Sendezeit überreichten Banken, Automobilkonzerne, Chemie- und Telekommunikationsunternehmen großformatige Schecks und präsentierten sich werbewirksam als wohltätige Helfer. Dass die gespendeten Summen nur ein Bruchteil dessen betrugen, was den Unternehmen zuletzt an Steuerersparnis zugestanden wurde, blieb im allgemeinen Applaus unerwähnt.

Angesichts von Massenentlassungen bei gleichzeitigen Rekordgewinnen wächst der Unmut in der Öffentlichkeit und nehmen auch die politischen Erklärungsnöte zu. Zur Behebung des Pflegenotstands, zur Lösung der Bildungsmisere, aber auch zur Finanzierung all der Vorhaben, die zur Bekämpfung der weltweit um sich greifenden Armut benötigt würden, fehlen den gesellschaftlichen Institutionen nicht zuletzt jene Mittel, die der Staat in den letzten Jahren den Unternehmen als Steuererleichterung geschenkt hat. Die Lage scheint verfahren, zumal von den vielen neuen Arbeitsplätzen, mit denen der Kahlschlag in der Sozialpolitik begründet wurde, nichts zu sehen ist. Weder in Deutschland, noch in Europa, nirgendwo.

Wie groß die globale Misere ist, das war im Augenblick der akuten Katastrophe zu erahnen. Für einen Moment blitzte auf, was ansonsten der Wahrnehmung entzogen bleibt. Weit über die von der Flut betroffenen Regionen hinaus verunsicherte und empörte das Desaster. So paradox es klingt: In einer Welt, die in den Irrationalitäten und Kollateralschäden des herrschenden Neoliberalismus zu versinken droht, bot ausgerechnet die Hilfe für die Opfer der Flut so etwas wie einen Halt. Das mag verständlich sein, doch kommt es darauf an, die Opfer nicht nur als "Mittel" der eigenen Rettung, sondern als konkrete Menschen zu entdecken.

III. Auch in Deutschland hat das Seebeben eine einzigartige Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Spenden von über 500 Mio. €, das hat es nie zuvor gegeben. Angesichts solcher Hilfsbereitschaft steht zu hoffen, dass der herrschende Trend der gesellschaftlichen Entsolidarisierung zumindest nicht unwidersprochen bleibt. Insbesondere unter jüngeren Menschen scheint das Bedürfnis nach sozialem Ausgleich zu wachsen. Noch aber ist die Bereitschaft zur Hilfe in Not vor allem moralisch-humanitär begründet und nicht Ausdruck politischer Solidarität, die auf die Abschaffung des Leidens zielt. Die fehlende Wahrnehmung für den politischen Gehalt der Hilfe aber birgt große Gefahr: Sie macht das soziale Engagement anfällig für seine Instrumentalisierung zu vielerlei eigennützigen Zwecken.

Zum Beispiel in Sri Lanka, wo die dortige Regierung in der Katastrophenhilfe eine willkommene Gelegenheit zur Durchsetzung eines lange gehegten ökonomischen Modernisierungsprojektes sieht. Mit allen Mitteln soll die heimische Wirtschaft nun an die globalen Märkte angeschlossen werden. Die vielen vom Seebeben so arg getroffenen Kleinfischer sollen nun einer kapitalintensiven Hochseefischerei Platz machen, und die mit Hilfsgeldern demnächst instandgesetzte Trinkwasserversorgung möglichst rasch privatisiert werden. Unversehens können sich heute Helfer in jener Rolle wiederfinden, die in den Zeiten des Kolonialismus den Missionaren zugefallen war. Nur geht es heute nicht mehr um die ideologische Absicherung kolonialer Eroberungen, sondern um die Mithilfe bei der Globalisierung eines Wirtschaftsmodells, das die Menschen nur noch aus dem Blickwinkel möglicher Verwertung betrachtet.

IV. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte der Philosoph Günther Anders, der vor dem Terror der Nazis in die USA geflohen war, nach Europa zurück. In seinen Tagebüchern erzählt er von den Begegnungen mit den 'einfachen' Bewohnern von Wien, die es völlig richtig fanden, dass Warschau und London zerstört wurden, weil eben auch Wien und Dresden in Schutt und Asche lagen. Die eigenen Trümmer standen derart im Vordergrund, dass sie auch das zeitlich Erste wurden und die Umkehrung von Ursache und Wirkung begründeten.

Vielen schienen die Ursachen der Katastrophe noch unbekannt, doch schlimmer fast wog, dass vielen die Tatsache der Katastrophe selbst schon wieder unbekannt war. Sie haben sie, so schreibt Anders, "'vergessen', weil, diese zu halten oder zu verarbeiten, ihre Kraft nicht auslangte. - Wer um Gottes Willen soll das Geschehene nun aufbewahren, wer die Konsequenzen ziehen, wer die Warnungen formulieren? - Oder wird nach Jahren das verdrängte Bild des Grauens von neuem aufsteigen? Und werden die Ruinen wirklich werden, wenn sie wieder repariert sind?"

In einem Gartenlokal sitzend, überlegte Anders, wer von den Gästen, die da nun so reizend mit ihren Kindern spielten, wohl zu denen gehört haben, die an den Greuel beteiligt waren. "Prüfend blicken wir von einem Gesicht zum nächsten: Welcher war es? Welche waren es? Denn auch unter ihnen müssen ja schließlich ein paar von jenen sitzen, die die Greuel mit auf dem Gewissen haben. Oder mindestens einer. - Aber bei keinem kann ich mich entschließen, zu sagen: der; oder wahrscheinlich der; oder auch nur: vielleicht der. Sind sie wirklich andere Menschen als anderswo? Und so verschieden von den Menschen, die sie früher waren? Wirklich veränderte Menschen?"

"Was sie getan haben," so vermutete Anders, "hat sie damals wirklich geprägt, aber eben nur damals. Denn heute sind sie nun von der heutigen Situation gleichfalls wirklich 'geprägt'; oder in ihre alte Form zurückgeprägt." – Das sei zugleich tröstlich und entmutigend: "Tröstlich ist es zu wissen, nicht unter 'Unmenschen' zu leben. Entmutigend, zu wissen, zwischen Menschen zu leben, die nichts sind, als die jeweilige Variante ihrer Situation."

Aber "moralisch wünschenswert", so schließt Anders seinen Gedanken, "ist nicht diejenige Situation, in der möglichst viele Menschen Moralisches (gegen die Welt) leisten oder leisten müssen; sondern umgekehrt diejenige, in der die Möglichkeit, die 'Versuchung', unmenschlich zu sein, ihr Minimum erreicht. In der also, paradox ausgedrückt, Moral 'aufgehoben' ist und verschwinden kann. Letzlich nämlich ist Moral etwas Unerwünschtes: Ihr Dasein beweist nur, dass die Organisierung der Gesellschaft von einer solchen Art ist, dass sie Menschen dauernd schuldig machen kann, dass sie Moral 'nötigmacht'. In einer guten Welt erübrigen sich die Tugenden. -"


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