Rundschreiben 04/2024

Editorial

21.11.2024   Lesezeit: 3 min

Die historische Bedeutung der US-amerikanischen Wahl ist bei aller in Aussicht gestellten Wiedergroßwerdung auch ein verstörendes Symptom des Niedergangs der westlichen Hegemonie.

Von Mario Neumann

Liebe Leser:innen,

Trump wird wieder Präsident, die Ampel ist am Ende. Was nun? Am Berliner Hauptbahnhof findet sich eine Antwort der besonderen Art. Dort prangt nur wenige Tage nach dem Ende der Ampelkoalition ein riesiges Werbeplakat über den Gleisen. Auf schwarz-rot-goldenem Untergrund gibt die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, eine Lobbyorganisation der deutschen Arbeitgeberverbände, die Parole ihrer neuen Kampagne aus: „Wieder Weltspitze werden!“. Noch im Mai hatte ihr Geschäftsführer Thorsten Alsleben auf dem CDU-Parteitag an einem Stand für „Bürokratieabbau“ geworben. Man konnte sogar mitmachen und unliebsame Gesetze und Verordnungen symbolisch durch einen Schredder jagen. Als CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz vorbeikam, zerkleinerte er just das Lieferkettengesetz, das deutsche Unternehmen zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards in den globalen Lieferketten anhält. Menschenrechte im Ausland als bürokratische Hindernisse der deutschen Wiedererstarkung also – diese avisierte „Weltspitze“ erinnert nicht zufällig an jenes Amerika, das von Trump nun wieder groß gemacht werden soll, indem andere dafür die Zeche bezahlen.

Die historische Bedeutung der US-amerikanischen Wahl ist bei aller in Aussicht gestellten Wiedergroßwerdung auch ein verstörendes Symptom des Niedergangs der westlichen Hegemonie. Über sie und ihre möglichen Konsequenzen können Sie mehr im Leitartikel dieses rundschreibens lesen. Anita Starosta wirft dort auch einen Blick auf Jahrzehnte des US-amerikanischen „war on terror“ – ein Instrument, das sich einerseits globalisiert, andererseits zum Niedergang des Empire beigetragen hat.

Ähnliche Gedanken finden Sie in unserem Gespräch mit dem ehemaligen Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel, der langjährigen Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung Barbara Unmüßig und medicos Referentin für kritische Hilfe Radwa Khaled-Ibrahim. Angesichts der aktuellen Weltunordnung geht es dort außerdem um enger werdende Korridore der Solidarität und die Frage, wie an der vorläufig gescheiterten Idee einer Überwindung der strukturellen Ursachen von Armut und Not neu angeknüpft werden kann.

Jenseits dieser beiden Annäherungen an die große Politik widmen wir dieses Heft der Arbeit unserer Partnerorganisationen unter den Bedingungen von Krieg, Klimakrise und Repression. So schildern die medico-Kollegen Riad Othman und Imad Mustafa die Arbeit unserer Partner:innen in Gaza, Israelund im Libanon – an der Seite Hunderttausender Zivilist:innen auf der Suche nach Schutz und Hilfe. Neben Berichten aus Zentralamerikaund Pakistan sowie einem Interview über die Prinzipien unserer Arbeit mit Partnerorganisationen finden Sie im hinteren Teil des Heftes außerdem eine Reportage des Journalisten Hanno Hauenstein. Nach einer von medico organisierten Journalist:innenreise nach Namibia schildert er seine Eindrücke von den Kämpfen der Nama und Herero um Gerechtigkeit und Reparationen, 120 Jahre nach dem deutschen Genozid.

Auf die globale Krise mit dem Rückzug auf die nationale Scholle zu reagieren, kommt allerorten bei neuen rechten Mehrheiten gut an. Doch der Rückzug ist weniger Problemlösung als Teil einer kollektiven Verdrängung, aus der sich eine neue Kälte und Empathielosigkeit speist. Der Strauß auf unserem Titel soll diese Haltung bebildern. Der Duden beschreibt die „Vogel-Strauß-Politik“ als eine „Art des Verhaltens, bei der jemand eine Gefahr “ nicht sehen will. Der aufrechte Strauß ist zugleich das Gesicht einer aktuellen medico-Kampagne, die auch Sie einlädt, eine Fördermitgliedschaft abzuschließen oder dafür im Freundes-oder Familienkreis zu werben. Sie trägt den Titel „Kopf hoch!“ und meint dies auch so: Wegducken, die Augen verschließen ist trotz allem keine Option.

Das tut der Strauß übrigens auch gar nicht. Wussten Sie, dass er den Kopf keineswegs in den Sand steckt? Bei drohender Gefahr senkt er ihn bloß, um auszusehen wie ein Baum. Die Metapher prägten, so sagen es diverse Quellen, die europäischen Kolonialisten aufgrund ihrer Fehlbeobachtungen.

Wir wünschen Ihnen eine angenehme Lektüre, ein schönes Jahresende und einen aufrechten Gang ins neue Jahr.

Ihr Mario Neumann

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und vertritt medico im politischen Berlin.

Twitter: @neumann_aktuell


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