In Lüderitz’ einzigem Museum sitzt eine ältere Frau an einem geschliffenen, braunen Holztisch. In ihrer Rechten hält sie einen Kugelschreiber, vor ihr liegt ein Magazin, sie löst Kreuzworträtsel. Ihre Haut ist blass, die Haare schimmern in sanftem Weiß. Nur das leise Rauschen eines Radios dringt in den Hauptraum des Museums. Aufgeteilt ist es in die Bereiche Kolonialzeit, Diamantenindustrie, Pflanzen und Tiere. Einige Exponate sind Zeugnisse einer Zeit, die hier in einem sagenhaft unkritischen Licht erscheinen: Kaiserreich-Flaggen, Kriegsorden der sogenannten Schutztruppen, Waffen deutscher Kolonialsoldaten.
Auch Gegenstände, die einst einheimischen Herero gehört haben, sind hier zu sehen, etwa Perlen oder traditionelle Gürtel, die – wie die Inschriften angeben – auf der sogenannten Haifischinsel gefunden wurden. Diese befindet sich im Hafenbecken von Lüderitz, einen Steinwurf vom Museum entfernt. Die deutsche Kolonialmacht errichtete dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Konzentrationslager. In diesem wurden einheimische Frauen gezwungen, Haut von den Leichen der Schädel ihrer Angehörigen abzuschaben, damit diese zu archäologischen Zwecken nach Deutschland verfrachtet werden konnten. Hiervon erfährt man in dem Museum jedoch nichts. Es liegt an einer merkwürdigen Schnittstelle zwischen Glorifizierung und Verschleierung deutscher Geschichte.
Ein Staatsdeal um Versöhnung
Im Zuge ihres Kolonialfeldzuges Ende des 19. und zu Beginn des 20 Jahrhunderts im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ drängten deutsche Siedler indigene Volksgruppen gewaltsam von ihrem Land. Als zwei dieser Gruppen, die Herero (auch Ovaherero genannt) und Nama, sich gegen die Vertreibungspolitik der Deutschen zur Wehr setzten, reagierte die Kolonialgarde mit systematischer Tötung, Versklavung und Zwangsarbeit. Die Massaker zwischen 1904 und 1908, bei denen die beiden Gruppen fast ausgelöscht wurden, ist weithin als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts bekannt. Dessen offizielle Anerkennung ist allerdings bis heute Gegenstand heftiger Kämpfe. Erst im Mai 2021, drei Jahre nachdem die deutsche Regierung um Entschuldigung für die Massaker an den indigenen Gruppen gebeten hatte, kündigte sie einen Fahrplan zur Bewältigung der Tragödie an – ein sogenanntes Versöhnungsabkommen. Diesem zufolge soll Namibia 1,1 Milliarden Euro „Wiederaufbauhilfe“ erhalten, 50 Millionen Euro davon sollen für Forschungs-, Erinnerungs- und Versöhnungsprojekte aufgewendet werden.
Diverse Nachkommen der vom Genozid betroffenen Gemeinschaften sehen in dem Deal jedoch einen Verrat. In der Hauptstadt Windhoek brachen nach seiner Verkündung sogar Proteste aus. Die Kritik: Der Deal sei von Deutschland diktiert. Und: Die namibische Regierung habe ihn zu leichtfertig angenommen, ohne Abstimmung mit den Betroffenen. „Die Projekte muss man mit den betroffenen Völkern verhandeln und nicht mit dieser korrupten namibischen Regierung“, kommentierte der in Deutschland lebende Herero-Aktivist Israel Kaunatjike bereits 2021. Auch Sima Luipert, Beraterin der Nama Traditional Leaders Association (NTLA), kritisiert, dass anerkannte Nama- und Herero-Mitglieder nicht mit am Verhandlungstisch saßen. Zudem sei in dem Abkommen nicht von einer bedingungslosen Anerkennung des Völkermords durch Deutschland die Rede, sondern nur von einem Genozid „aus heutiger Perspektive“. Mit dieser verkürzten Erklärung, so Luipert, versuche sich Deutschland von der Schuld der kolonialen Verbrechen reinzuwaschen.
In den letzten drei Jahren verschärfte sich die Debatte. Anfang 2023 reichten Anwält:innen, die die Nachkommen vertreten, darunter der namibische Politiker Bernadus Swartbooi, eine Klage gegen namibische Behörden beim Obersten Gerichtshof in Windhoek ein. Sie forderten das Gericht auf, das Abkommen für ungültig zu erklären. Am 12. Oktober dieses Jahres setzte das Oberste Gericht Namibias die Anhörungen fort. Ein Urteil steht jedoch bislang aus. Es könnte Deutschlands Bemühungen, sich zu entlasten, einen Strich durch die Rechnung machen, indem es die namibische Regierung daran hindert, die Gelder anzunehmen. Die Lage verkomplizierte sich weiter, als Deutschland im Kontext der Völkermordklage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen dessen andauernder Militärkampagne gegen Gaza Stellung bezog – an der Seite Israels. In Windhoek rief dies scharfe Kritik der Regierung hervor. Namibische Vertreter verwiesen dabei ausdrücklich auf Deutschlands Völkermord im heutigen Staatsgebiet von Namibia.
Auf der Haifischinsel steht Cornelius Christian Fredericks, Urenkel von Cornelius Fredericks – jenem Nama-Führer, der einst an der Seite von Hendrik Witbooi einen Guerillakrieg gegen die deutschen Kolonialherren anführte. Fredericks’ Nachfahre spricht darüber, dass Cornelius Fredericks hier ermordet wurde. Er sei brutal enthauptet, seine Überreste verscharrt worden. Cornelius‘ Stimme klingt leise, der Besuch dieses Orts fällt ihm sichtlich schwer.
Die ersten deutschen Konzentrationslager
Er berichtet von weiteren deutschen Verbrechen auf der Insel; von vermutlich 4.000 ermordeten Gefangenen; von Vergewaltigungen der Nama-Frauen; vom jahrzehntelangen Schweigen Deutschlands zum Völkermord; und vom Trauma, das seine Gemeinschaft über Generationen hinweg in sich trug und das auch ihn bis heute begleitet. Fredericks bleibt zwischen den furchigen Steinen vor einem Mahnmal stehen, das das Vermächtnis seines Urgroßvaters würdigt. Wenige Meter entfernt erinnert ein älteres Denkmal an die gefallenen deutschen „Schutztruppen“. In der Mitte: ein Gedenkstein für Adolf Lüderitz, den Gründer der deutschen Kolonie in Namibia. Fredericks erhebt die Stimme. „Cornelius‘ Frau konnte die Folter und Vergewaltigung nicht länger ertragen.“ Aus Verzweiflung habe sie einen Wächter angefleht, den Frauen zugeteilt zu werden, die Schädel schaben mussten. „Sie schabte den Kopf ihres Mannes. Nachdem sie ihn zurückgegeben hatte, stürzte sie sich ins Meer.“
Einige Historiker sehen in den Grausamkeiten, die in den Konzentrationslagern im heutigen Namibia begangen wurden, Vorläufer jener Methoden, die später im Zuge der massenhaften Vernichtung der europäischen Juden in Europa eingesetzt wurden. Bis in die Ära des Holocausts wurden an Überresten der Leichen ermordeter Nama und Herero pseudowissenschaftliche Experimente durchgeführt, um die angebliche Überlegenheit der weißen „Rasse“ zu beweisen. Schädel aus Namibia befinden sich bis heute in deutschen Sammlungen. 2018 übergaben deutsche Behörden in einer Zeremonie in Berlin 19 Schädel, fünf vollständige Skelette sowie Knochen- und Hautfragmente an die Nachfahren der Opfer in Namibia.
Die Haifischinsel ist nicht nur die Stätte eines einstigen Konzentrationslagers, an der die Erinnerung an die Opfer auf die Glorifizierung der Täter prallt. Die Insel ist heute auch ein Campingplatz für Tourist:innen. Hinzu kommen Pläne, die Energiepotenziale der Umgebung zu nutzen: Ein milliardenschweres Wasserstoff-Großprojekt namens Hyphen, das von den deutschen Investoren Enertrag SE getragen wird, soll die Sonnen- und Windenergie der Region anzapfen, um „grünen Wasserstoff “ zu produzieren – eine klimaneutrale Energiequelle für die Volkswirtschaften des globalen Nordens. Die Bundesregierung sieht Hyphen als strategisches Auslandsprojekt. Nachkommen der Genozidopfer wie Cornelius Christian Fredericks befürchten, dass die Haifischinsel als Gedenkort dadurch noch stärker beschädigt und das Erbe des Völkermords weiter überschrieben werden könnte. Namibias Hafenbehörde Namport plant derzeit den Ausbau eines Hafens, um die Kapazitäten für den Export zu erhöhen. Dafür soll die Bucht um eine 700 Meter lange Landzunge erweitert werden, die direkt an die Haifischinsel angrenzt. Für viele Nama und Herero sind diese Pläne ein Schlag ins Gesicht.
Auch in Swakopmund, einer Küstenstadt einige Stunden nördlich von Lüderitz, sind die Spuren der Kolonialzeit unübersehbar. Der Künstler und Herero-Nachfahre Laidlaw Peringanda hat hier das einzige Museum des Landes eingerichtet, das an die Geschichte des Völkermords erinnert. Es besteht aus einem winzigen Raum, gefüllt mit historischen Fotografien, wissenschaftlichen Publikationen zum Genozid, Videomaterial und journalistischen Artikeln zur Geschichte der Region sowie zu Peringandas Arbeit. Im Gespräch erinnert Peringanda an den Vernichtungsbefehl des deutschen Kommandanten Lothar von Trotha von 1904: Damals umzingelten etwa 1.500 deutsche Soldaten unter Trothas Führung die geschwächten Herero-Kämpfer und drängten das Herero-Volk in die wasserlose Omaheke-Wüste ab, wo ein großer Teil von ihnen verdurstete.
Nachdem Peringandas Familie zur Zwangsarbeit gezwungen worden war, erließen die deutschen Besatzer Dekrete, die alles Gemeinde-land weißen Siedlern zusprachen. Bis heute kenne er die Familie, die das Land seiner eigenen Familie übernommen habe, erzählt Peringanda. Er habe versucht, die namibischen und deutschen Behörden zu kontaktieren, erfolglos. „Da heißt es dann, es gebe keine Beweise, dass wir das Land besessen haben. Dabei habe ich Beweise.“ Die Nachfahren der deutschen Siedler behaupten indes, das Land legal erworben zu haben. Peringanda: „Sie leben in Villen, während die Nachfahren von Deutschland versklavter Menschen in informellen Siedlungen hausen.“ Namibia zählt zu den ungleichsten Ländern der Welt. Weiße Nachfahren von Europäern, darunter viele Deutsche, besitzen noch immer knapp 70 Prozent des Landes, das heute für Landwirtschaft genutzt wird.
Entschädigung? Ein Tabuwort
Diese Ungleichheit spiegelt sich auch im Straßenbild. Zahlreiche Denkmäler ehren Kolonialsoldaten der „Schutztruppe“. Auf dem Friedhof in Swakopmund sind Gräber deutscher Gefallener mit wilhelminischem Prunk verziert. Wenige Schritte entfernt liegen die Gräber der Opfer des Genozids in flachen Sandhügeln, namenlos, unmarkiert und karg. Viermal im Jahr kommt Peringanda mit einer Gruppe Freiwilliger hierher, um die Sandhügel zu restaurieren. Immer wieder sei er dabei auf Knochenreste gestoßen, erzählt er. „Beim ersten Mal bin ich ohnmächtig geworden.“ Er hofft auf eine Neuausrichtung des Entschädigungsabkommens zwischen der deutschen und namibischen Regierung, die auch eine Umverteilung des Landes an die schwarze Bevölkerung vorsieht. Das bislang durch die namibische Regierung von Weißen zurückgekaufte Land reiche bei Weitem nicht aus. „Wir wollen unser gesamtes angestammtes Land zurück“, sagt er. Eine Verzögerung, warnt er, könne zu Aufständen und Gewalt führen.
Der Ausschluss betroffener Gemeinschaften von den bestehenden Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia verstößt aus Sicht des Europäischen Rats für Menschenrechte gegen internationales Recht. Doch allein die Sprache des Versöhnungsabkommens stößt bei den Nachkommen der Opfer auf Kritik. Sie monieren etwa, dass das Wort „Entschädigung“ darin nicht auftaucht. Reparationsansprüche, wie sie etwa den Nachfahren von Holocaust-Opfern zugestanden wurden, lehnt Deutschland bislang ab.
In einer Stellungnahme des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags dazu vom Januar vergangenen Jahres hieß es: „Ein völkerrechtswidriges Verhalten der Kolonialmacht Deutsches Reich am Maßstab der damals geltenden völker- und völkergewohnheitsrechtlichen Regelungen (…) lässt sich nach einhelliger Auffassung im Ergebnis nur schwer feststellen.“ In Anbetracht der belegten historischen Verbrechen ist das ein bemerkenswerter Satz – aber kein Sonderfall. Ähnlich argumentierte Deutschland auch in einem Gerichtsverfahren 2017, das Aktivisten der Nachfahren der Opfer in den USA angestrengt hatten. Die Anwälte Deutschlands verwiesen damals darauf, dass die Genozid-Konvention erst nach den Verbrechen im heutigen Namibia in Kraft trat und das Massaker daher nicht als Völkermord gewertet werden könne.
Dass die Mittel des Versöhnungsabkommens bislang blockiert sind, verschafft den Herero-und Nama-Gruppen wertvolle Zeit, um mehr Aufmerksamkeit auf ihre Forderungen zu lenken. Sie hoffen, dass die namibischen und deutschen Behörden einen neuartigen Prozess einleiten, der die Interessen der Nachfahren der Opfer in den Mittelpunkt stellt und damit ein Signal für historische Gerechtigkeit setzt. Ein längst überfälliger Schritt.
Kolonial ohne Ende
Im Oktober 2024 organisierte medico eine Journalistenreise nach Namibia. Über 2.300 Kilometer legte die Reisegruppe in knapp einer Woche zurück, um Gespräche mit Nachfahren der Überlebenden des Genozids zu führen und neokoloniale Projekte wie die Wasserstoffgewinnung zu verstehen. Die Reportage von Hanno Hauenstein ist auf dieser Reise entstanden, die auch zu mehreren medico-Partnerorganisationen führte. medico fördert mit Spendengeldern die beiden zentralen Vertretungen der ethnischen Gruppen Ovaherero (OTA) und Nama (NTLA), die unermüdlich um Gerechtigkeit ringen. In Versammlungen ihrer Communitys ist es das erste Mal gelungen, kollektiv das traumatische Erbe des Genozids zu besprechen. Dort wurden auch die dokumentarischen 3D-Rekonstruktionen von Genozidorten des medico-Partners Forensic Arcitecture gezeigt. medico macht sich mit der neuerlichen Kooperationsarbeit in Namibia auch zur Aufgabe, die Stimmen für Aufarbeitung, Gerechtigkeit und Reparation in Deutschland zu verstärken – unter anderem durch die Film- und Veranstaltungsreihe „Erased Memories, Disrupted Futures“ in mehreren deutschen Städten.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!