Shantis verlorene Kinder

19.08.2005   Lesezeit: 3 min

Unterschiedliche Konzepte der Rehabilitation – ein Beispiel aus Indien

Shanti hat alle ihre vier Kinder in den Fluten verloren. Die 25jährige Fischersfrau sitzt stumm auf dem Sandboden zweihundert Meter von der Küste entfernt vor den Überresten ihres Hauses. Neben ihr sitzt ihr geistig behinderter Bruder. Auf offenem Feuer kocht ihre Mutter für alle. Das Baby ihrer Schwester lacht und zieht krabbelnd um die Familie herum. Shanti schweigt. Vor ein paar Tagen kamen Helfer und wollten sie in die Psychiatrie bringen – nur zu ihrem Besten, wie es hieß. Die Mutter zerrte sie wieder aus dem Wagen: Sie bleibt hier. Sister Mary vom Freiwilligenteam der Community Health Cell (CHC) setzt sich neben Shanti auf den Boden und redet leise mit ihr. Shanti spricht ein wenig. Die Mutter erzählt, langsam fange Shanti wieder an zu essen. Sister Mary zeichnet einen Uterus in den Sand. Sie ist Krankenschwester und versteht etwas vom menschlichen Körper. Shanti wird keine Kinder mehr bekommen. Sie ist sterilisiert, so wie es die staatlich propagierte Verhütungsmethode für die Armen vorsieht. Auf der Rückfahrt nach Chennai sagt Sister Mary, es sei ein Glück gewesen, dass die Familie Shanti vor der Psychiatrie bewahrt habe: "Da wäre sie nie mehr herausgekommen. Unterstützt man die Familie, kann ihr dort viel besser geholfen werden."

Wir begegnen Shanti und Sister Mary drei Wochen nach dem Tsunami an der indischen Ostküste im Bundesstaat Tamil Nadu. Die Freiwilligenteams des CHC, einer der Gründungsorganisationen der Gesundheitsbewegung "People's Health Movement", besuchten da bereits regelmäßig das Küstendorf und Shanti. Die Teams von Ärzten, Psychologen und Krankenschwestern arbeiten nach der Philosophie der Basisgesundheitsversorgung. Ein maßgeblicher Unterschied: Während in Shantis Dorfzentrum die staatliche Ärztin auf Patienten wartet, um Medikamente zu verteilen, gehen Sister Mary und das Team unter Leitung von Ravi Rajendran auf die Menschen zu. Rajendran, der CHC - Nothilfekoordinator, kennt das Schicksal der Bewohner und ihre Lebensumstände genau - die Ärztin nur die Krankheiten derer, die überhaupt zu ihr finden. Rajendran ist Soziologe und arbeitet seit Jahren mit Menschen am Rand der indischen Gesellschaft. Ebenso Sister Mary, die in Andra Pradesh ein Basis-Gesundheitszentrum für aidskranke Frauen und Kinder leitet. Für sie führt der Weg zur Gesundheit nicht über Medikamente, sondern über die Einbeziehung der gesamten Lebensumstände und die Stärkung der sozialen Netze. Die erste Gesundheitsmaßnahme des CHC in Shantis Dorf war deshalb die Selbstorganisation der Frauen, die nun gemeinsam getrockneten Fisch vermarkten, um ihre Familien zu ernähren. Die Ärztin riet Shanti zu Psychopharmaka. Shanti und Sister Mary überlegen dagegen, ob sie sich nicht an die Vermittlungsstelle für Tsunami-Waisenkinder wenden sollte. Ein gemeinsames Schicksal lässt sich besser auch gemeinsam tragen.

Mittlerweile ist die Nothilfephase an der vom Tsunami betroffenen indischen Küste zu Ende. In einer ersten Zwischenbilanz des von medico geförderten Tsunami-Response-Watch wird deutlich, dass die NGOs zu häufig an den Nöten der Betroffenen vorbeigehen. Beispiele dafür sind: fensterlose Übergangsquartiere, in denen auf weniger als 7 Quadratmetern eine 8-köpfige Familie ausharren soll; offene Latrinen, die das Grundwasser verseuchen; die konsequente Ausgrenzung der kastenlosen Dalits, einer der ärmsten Bevölkerungsschichten, von der Hilfe. Und vor allen Dingen: Es gibt zu wenige NGOs, die wert darauf legen, die Gemeinden zu stärken, um diesen tatsächlich Teilhabe an dem Wiederaufbau der zerstörten Regionen zu sichern. Partizipation, so der Bericht, beschränke sich meist auf die Einbeziehung der lokalen Verwaltung.

Auf unserer Website finden Sie fortlaufend Informationen über die Arbeit unserer Partner und ausgewählte Berichte, Reportagen und Studien des Tsunami-Response-Watch. Auch die Geschichte von Shantis Dorf wird dort fortgesetzt. Regelmäßig werden die Berichte von medico gesichtet.


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