Über den sozialen Ausschluss oder das »Recht, Rechte zu haben«. Von Thomas Gebauer
Um die Sache der Menschenrechte steht es vermeintlich nicht schlecht. Klagte Hannah Arendt noch darüber, dass die Menschenrechte deshalb so wenig Fortschritte machten, weil ihre Verfechter nicht über die Bedeutung von Tierschutzvereinen hinauskämen, sind es heute allerdings mächtige Institutionen und Sicherheitspolitiker, die von den Menschenrechten reden.
»Unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert hängt nicht nur von der erfolgreichen Globalisierung des freien Waren- und Güterverkehrs ab. Vielmehr noch hängt sie ab von der Globalisierung der Grundwerte der Menschenrechte«, so der deutsche Außenminister Ende 2003 auf dem EU-Gipfel in Neapel. Europa sei gerüstet, um den »neuen Bedrohungen« zu begegnen: »Entwicklungszusammenarbeit, Finanz- und Handelspolitik, Menschenrechtspolitik, Polizei und Militär – über eine so breit angelegte Kombination von Mitteln zur Krisenbewältigung verfügt kaum ein anderer sicherheitspolitischer Akteur.«
Keine Frage: Die moralisch begründete Sorge um die Mitmenschen ist nicht mehr länger nur das Steckenpferd wohlmeinender Idealisten. Aber ganz offenbar ist dabei die Sache der Menschenrechte zu einer zweischneidigen Angelegenheit geworden. Einerseits stehen die Menschenrechte noch immer für emanzipatorische Ziele; andererseits wird unter dem Banner der Menschenrechte auch die Absicherung einer Weltordnung vorangetrieben, die auf Ungleichheit und Unfreiheit gründet.
Ist der im Norden gepflegte Menschenrechtsdiskurs also nur ein zynischer Reflex auf eine gegenläufige Entwicklung in der Wirklichkeit? Steckt in der allgegenwärtigen Betonung des Humanitären gar die Absicht, von der eigenen Beteiligung an den fortwährend in aller Welt stattfindenden Menschenrechtsverletzungen abzulenken?
Im Kontext von Krieg und Globalisierung
Im Zuge der globalen Entfesselung des Kapitalismus ist die Welt zwar näher zusammengerückt, doch war sie nie so gespalten wie heute. Parallel zur Ausweitung des Weltmarktes bis in den letzten Winkel der Erde sind große Teile der Weltbevölkerung Opfer eines umfassenden ökonomischen und sozialen Ausschlusses geworden. Für Millionen scheint es in der globalisierten Ökonomie weder als Konsumenten noch als Produzenten einen Platz zu geben; sie gelten dem System als »überflüssig«. Nur dort, wo relativer Wohlstand existiert, können sich die Menschen auch ihrer Rechte erfreuen.
Schon kurz nach dem Fall der Berliner Mauer warnte der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes, dass die Idee der Freiheit zur neoliberalen Befreiung von sozialer Verantwortung verkümmern könnte. Dann hätten die Freiheitsrechte nicht mehr die Menschen zu ihrem Subjekt, sondern nur noch den Handel, die Investitionen und den Kapitalverkehr. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, wie recht Carlos Fuentes mit seiner Warnung hatte. Tatsächlich drohen die Menschenrechte von ihren sozialen Versprechen gelöst zu werden, um fortan wesentlich der Legitimation kapitalistischer Vorherrschaft zu dienen. Auffallend ist, dass die an die Länder des Südens gerichtete Forderung, endlich die Menschenrechte zu respektieren, fast immer mit der Forderung nach marktwirtschaftlicher Orientierung verknüpft ist. Vor allem die Neo-Konservativen in den USA haben die Gleichsetzung von Freiheitsrechten, entfesselten Märkten und partikularen Profitinteressen so weit perfektioniert, dass daraus ein umfassendes, kaum noch von außen zu erschütterndes moralisches Prinzip wurde, nach dem selbst noch der Krieg als ein quasi göttlicher Auftrag erscheint.
Auch hierzulande ist immer häufiger von »humanitären Interventionen« die Rede. Der Krieg in Afghanistan beispielsweise habe geführt werden müssen, um der dortigen Bevölkerung zu ihren Rechten zu verhelfen. Tatsächlich aber gaben nicht die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen der Taliban den Ausschlag für die Bombardierung des Landes, sondern die Bedrohung der eigenen auf Vorherrschaft und Privilegien gründenden Sicherheit. Der Verweis auf die Menschenrechte diente vornehmlich der Rechtfertigung der Kriegshandlungen in der eigenen Öffentlichkeit. Macht und Moral schienen auf wunderbare Weise versöhnt. Und während sich die Gegner des Krieges dem Vorwurf der Unmenschlichkeit ausgesetzt sahen, glänzten die Militärs in der Rolle der Kavallerie, die im Kino bekanntlich immer dann auf den Plan tritt, wenn es um die Rettung der Zivilisation aus den Klauen der Barbaren geht.
Menschenrechte sind keine abstrakten Rechte. Der Grad ihrer Verwirklichung unterliegt der Dynamik des sozialen und geschichtlichen Kontextes. Auch heute ist das gesellschaftliche Terrain, auf dem sich die Auseinandersetzung um die Menschenrechte ereignet, umkämpft. Leider scheint die Entwicklung der Menschenrechte heute rückläufig zu sein. Eine Vielzahl bereits »realisierter« Rechte wird wieder ausgehöhlt; vor allem die sozialen Rechte der Menschen sind bedroht.
Um den schützenden und emanzipatorischen Gehalt der Menschenrechte verteidigen zu können, bedarf es eines kritischen Menschenrechtsbegriffes. Dazu ist dreierlei notwendig: die Beachtung der historischen Wurzeln des herrschenden Menschenrechtsverständnisses, das Pochen auf die Unteilbarkeit der Menschenrechte und die Erkenntnis, dass Menschenrechte so lange nichts bedeuten, wie sie nicht politisch durchgesetzt werden. Der bürgerliche Ursprung des herrschenden Menschenrechtsverständnisses
Auch Menschenrechtsaktivisten übersehen bisweilen den bürgerlichen Ursprung des herrschenden Menschenrechtsverständnisses. Sie betonen den demokratischen Anspruch der Menschenrechte, lassen aber außer acht, dass die Entwicklung der Menschenrechte aufs engste mit der Entwicklung des Kapitalismus verbunden war. Deutlich wird das insbesondere in dem Recht auf Privateigentum, mit dem das aufkommende Bürgertum einerseits die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs mit der herrschenden Feudalordnung begründete, zugleich aber auch ihr spezifisches Interesse an Kapitalbildung als ein allgemeines auszugeben versuchte. Während der antifeudalen Aufstände bedeutete das Drängen auf Eigentumsrechte fraglos einen historischen Fortschritt. Über die Mystifizierung der partikularen Interessen des Bürgertums zu einem natürlichen, ewig und universell geltenden Menschenrecht aber wurde das ideologische Fundament für die weitverbreitete Überzeugung gelegt, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe und seine globale Ausbreitung das eigentliche Ziel der Geschichte sei.
Die Unteilbarkeit der Menschenrechte
Noch unter dem Eindruck der gewaltigen Verheerungen der beiden Weltkriege verabschiedeten die Vereinten Nationen 1948 die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte«. Ohne die volle Respektierung der Rechte aller Menschen sei die Sicherung des Weltfriedens nicht möglich.
Zu den wichtigsten Menschenrechtskonventionen, mit denen die Absichten der 48er Erklärung in geltendes Völkerrecht überführt wurden, zählen die beiden Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966: die »Konvention über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte« und die »Konvention über die politischen und Bürgerrechte«. Geht es letzterer vor allem um die Begrenzung der Macht des Staates, also um »Freiheitsrechte«, formuliert der Wirtschafts- und Sozialpakt vornehmlich Verpflichtungen, die politische Gemeinwesen gegenüber ihren Mitgliedern haben, kurz: »die Sozialrechte«. Beide Vertragstexte haben dieselbe Präambel. »Das Ideal vom freien Menschen«, so heißt es darin, »kann nur verwirklicht werden, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ebenso wie seine bürgerlichen und politischen Rechte genießen kann.«
Ungeachtet der Unteilbarkeit der Menschenrechte steht heute der Sozialpakt im Schatten des Zivilpaktes. Gerade den Ländern des reichen Nordens gelten die Sozialrechte, in denen sich die Ideen der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit spiegeln, meist nur als Absichtserklärungen, nicht aber als geltende, vom einzelnen Bürger einklagbare Rechtsansprüche. Statt die erforderlichen Schritte zur Erreichung eines Höchstmaßes an Bildung, Gesundheit und kulturellen Angeboten zu unternehmen, wie es die Konvention auferlegt, werden weltweit die Aufwendungen für öffentliche Güter gekürzt – oft mit dem Hinweis, private Anbieter seien überlegen. Mit der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen aber wird nicht nur die soziale Spaltung vorangetrieben, es verkümmert auch die Idee, dass im Zugang zu Bibliotheken, Arzneimitteln und Schauspielhäusern elementare Menschenrechte zum Ausdruck kommen. Der Deregulierung von Staatlichkeit, deren Institutionen tendenziell nur noch der Sicherung von Wirtschafts- und Machtinteressen dienen, folgt zwangsläufig die Deregulierung der Menschenrechte.
Weltbürgerrechte
Die Vorstellung, dass Menschenrechte unpolitische quasi heilige Rechtsnormen darstellen, die vor einem imaginären Weltgericht einklagbar sind, macht die Menschenrechtsdebatte anfällig für Instrumentalisierungen. Vor allem Hannah Arendt hat sich mit Vehemenz für ein politisches Verständnis der Menschenrechte ausgesprochen: »Als Gleiche sind wir nicht geboren, Gleiche werden wir als Mitglieder einer Gruppe erst kraft unserer Entscheidung, uns gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren,« schrieb sie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Selbst von Staatenlosigkeit nicht verschont geblieben, erkannte Arendt, dass Rechte nichts wert sind, wenn sie nicht politisch durchgesetzt und gesichert werden. »Die Menschenrechte sind keine Attribute einer wie immer gearteten menschlichen Natur, sondern Qualitäten einer von Menschen errichteten Welt«. Nur als Teil eines rechtlich verfassten Kollektivs sichern sich die Menschen das Recht auf Freiheit und Gleichheit. Dagegen führt der soziale Ausschluss immer auch zur Rechtlosigkeit. Das »Recht, Rechte zu haben« (Arendt) steht somit allen anderen Rechten voran. Es ist angesichts der Entwicklung in der Welt mehr denn je bedroht.
Schutz und Verwirklichung der Menschenrechte sind heute nur noch global zu denken. Angesichts des Bedeutungsverlustes der Nationalstaaten wird künftig allein ein institutionalisiertes Weltbürgerrecht die Gewähr dafür bieten, dass alle Menschen unmittelbaren Zugang zu ihren politischen und sozialen Rechten haben. Der Weg dahin mag weit sein, er ist aber ohne Alternative. Ein erster Schritt könnte die Einrichtung eines Internationalen Zivilgerichtshofs sein, für den zu streiten es sich allerdings lohnen würde.
Die Menschenrechte scheinen künftig nur dann noch eine Chance zu haben, wenn sie »von unten« erneuert werden. Die internationale Öffentlichkeit scheint diese Herausforderung angenommen zu haben. Ihr obliegt eine doppelte Verantwortung. Sie muss einerseits ihr eigenes Engagement für neue Lebens- und Kommunikationsformen immer stärker an den Menschenrechten ausrichten. Und sie muss andererseits aufmerksam darüber wachen, dass der öffentliche Menschenrechtsdiskurs nicht von politischen Opportunitätserwägungen bestimmt wird oder nur der Sicherung von Vorherrschaft dient.