»Sie wollen Sicherheit? Geben Sie Freiheit!«

Von Marwan Barghouti

01.04.2002   Lesezeit: 9 min

Eine Pause in der Gewalt ist genau das, was der israelische Premierminister, Ariel Sharon, sich nicht leisten kann. Er wurde in einer Zeit der Krise gewählt und weiß, daß seine Herrschaft nur in einer Zeit der Krise aufrecht zu erhalten ist. Für sein eigenes politisches Überleben wird er sein möglichstes tun und jede Rechtfertigung benutzen, um die Flammen der Unruhe zu schüren. Daher wurden mehr als 600 Palästinenser, die schon Flüchtlinge waren, vor kurzem erneut zu Flüchtlingen gemacht, als Sharons Planierraupen ihre Häuser in Gaza zerstörten. Einen Tag später wurden unsere Häuser im besetzten Ostjerusalem zerstört. Sharon rechtfertigt solche grausamen und illegalen Maßnahmen im Namen der »Sicherheit«. Aber so wie man mich selbst oft als Kandidat für ein israelisches Attentat vorsah, kann ich dem israelischen Volk versichern, daß weder ein Attentat auf mich noch irgendwelche der anderen 82 Attentate während der letzten 15 Monate sie jener Sicherheit, die sie suchen und benötigen, näher bringen werden. Der einzige Weg zu Israels Sicherheit ist ganz einfach, die 35-jährige Besatzung palästinensischer Gebiete zu beenden. Israel muß den Mythos überwinden, daß es möglich sei, Frieden & Besatzung zugleich zu haben, daß eine friedliche Koexistenz zwischen Sklaven und Herren möglich sei. Der Mangel an israelischer Sicherheit beruht auf dem Mangel an palästinensischer Freiheit. Israel wird Sicherheit nur nach dem Ende der Besatzung haben, nicht vorher.

Wenn Israel und der Rest der Welt diese Grundwahrheit erst einmal verstehen, wird der Weg vorwärts klar: Beenden Sie die Besatzung, erlauben Sie den Palästinensern in Freiheit zu leben, und lassen Sie die unabhängigen und gleichen Nachbarn Israel und Palästina eine friedliche Zukunft mit engen Ökonomischen und kulturellen Bindungen aushandeln. Lassen Sie uns nicht vergessen: wir Palästinenser haben Israel 78 % des historischen Palästinas zuerkannt. Es ist Israel, das sich weigert, Palästinas Recht, auf den übrigen 22% des 1967 eingenommenen Landes zu existieren, anzuerkennen. Und dennoch wird den Palästinensern vorgeworfen, keine Kompromisse zu schließen und die Chancen zu vertun. Offen gesagt sind wir es müde, die Schuld für die israelische Unnachgiebigkeit immer auf uns zu nehmen. Und wir haben kein Vertrauen zu den Vereinigten Staaten, den Gebern jährlicher Milliarden Dollarhilfe, um Israels Expansion illegaler Kolonien zu finanzieren, den »Bekämpfern des Terrorismus«, die Israel mit F-16 Jägern und waffenstarrenden Hubschraubern zur Verwendung gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung beliefern. Die Rolle der einzigen Supermacht der Welt ist auf die eines bloßen Zuschauers reduziert worden, der nichts als einen ermüdenden Refrain »Stoppt die Gewalt« anzubieten hat und nichts tut, um die eigentlichen Gründe der Gewalt zu benennen: die Ablehnung der palästinensischen Freiheit. Wenn von Palästinensern erwartet wird unter Besatzung zu verhandeln, muß Israel davon ausgehen, zu verhandeln, während wir gegen die Besatzung Widerstand leisten.

Ich bin kein Terrorist, aber auch kein Pazifist. Ich bin einfach ein Mensch von der palästinensischen Straße, der nur verlangt, was jeder andere unterdrückte Mensch verlangt. Dieses Prinzip kann leicht zu einem Attentat auf mich führen. Deshalb lassen Sie mich meine Position deutlich machen, damit mein Tod von der Welt nicht einfach abgehakt wird als ein weiterer statistischer Fall in Israels »Krieg gegen Terrorismus«. Sechs Jahre habe ich als Gefangener in einem israelischen Gefängnis verbracht, wo ich gefoltert wurde, ich hing mit verbundenen Augen, als ein Israeli mit einem Stock auf meine Genitalien schlug. Aber seit 1994, als ich glaubte, Israel wolle ernstlich die Besatzung beenden, war ich ein unermüdlicher Befürworter des Friedens auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Gleichheit. Ich führte Delegationen von Palästinensern bei Besprechungen mit israelischen Parlamentariern, um gegenseitiges Verständnis und Kooperation zu fördern.

Ich suche immer noch die friedliche Koexistenz zwischen den gleichen und unabhängigen Ländern Israel & Palästina. Ich will Israel nicht zerstören, sondern nur seine Besatzung meines Landes beenden.

(Washington Post, 16.2.02; gekürzt)

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Im Osten was Neues

Lösungen aus allgemeiner Verzweiflung

»quasi una fantasia«

»...Du erklärst, mein Freund, daß Du kein Judenhasser bist, sondern bloß »Antizionist«. Und ich sage, lasse die Wahrheit von hohen Berggipfeln erklingen, lassen sie in allen Tälern der grünen Erde Gottes widerhallen: Wenn Menschen Zionismus kritisieren, meinen sie Juden.« Martin Luther King

Es gibt Äußerungen, für deren angemessene Kennzeichnung einem die Worte fehlen, will man die angebrachte Rücksicht selbst nicht unterschreiten. Das öffentliche Bedauern des israelischen Ministerpräsidenten Sharon, den Führer des Nachbarvolks der Palästinenser, Arafat, während des Libanonkriegs vor 20 Jahren nicht »eliminiert« zu haben, gehört wohl dazu. Aber was ist eigentlich die Logik dieser ungeheuerlichen Aussage? Gemeint ist doch wohl, hätten wir ihn rechtzeitig umgebracht, hätte er nichts mehr gegen uns unternehmen können. Nach dieser Logik allerdings wären sämtliche Palästinenser, die Sympathie oder auch nur Verständnis für »Gewalt« aufbringen, am besten alle nicht mehr am Leben.

Die eine Seite des Problems:

Schon als Ariel Scharon gewählt wurde befand sich Israel in einer tiefgreifenden sozialen Katastrophe. Das Jahr 2002 sei das »schlimmste seit 1953« gewesen. Das Bruttosozialprodukt schrumpfte. Das Pro-Kopf-Einkommen fiel – bei einer um 2,6% gewachsenen Bevölkerung – um beinahe 3%. Die Produktivität sank um 2% und der Export ging um 13% zurück. Fast jeder sechste Israeli, sagt die offizielle Statistik, lebt unter der Armutsgrenze.

Die andere Seite des Problems:

Nach Ansicht der Palästinenser leben die »Juden und Siedler« auf arabischem Boden und verbrauchen das arabische Wasser. Ihre Soldaten halten die autonomen Gebiete auf 200 Inseln voneinander abgeriegelt. Nach 17 Monaten Krieg ist die palästinensische Produktivität kaum mehr meßbar. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 65%. Hier leben über die Hälfte in tiefer Armut. Allein 5000 Menschen wurden während der Kämpfe zusätzlich obdachlos. Am schlimmsten aber: die bösen Worte Sharons werden nicht nur von der Mehrheit der Israelis geteilt, auch auf palästinensischer Seite verzeichnen Parolen der Elimination nicht minder große Zustimmung: »Die oder wir! Nur wenn die nicht sind, sind wir!« – Was also kann überhaupt noch geschehen, um solchen finalen Haß zu beseitigen? Die stereotypen, einfallslos erneuten Parolen Europas & der USA vergehen in spurloser Sterilität. Zurück an den Verhandlungstisch? Über was wie verhandeln? Um Boden gegen Frieden zu tauschen? Mit dem Ergebnis eines anerkannten palästinensischen Staates? Der Boden, über den seit Oslo schon verhandelt wird, ist so wenig wert wie der Frieden, der dafür getauscht werden soll. Es geht dabei um verödete Olivenhaine, um Felder ohne Wasser, um armselige Städte & Dörfer, von den Israelis aus »Sicherheitsgründen« reklamiert, von den Palästinensern, um aus dem Patchwork ihrer autonomen Minimalgebiete ein staatliches Terrain zu flicken. Was soll daraus denn werden? Zwei StaatenWestbank 1980 nebeneinander, die beide nicht recht lebensfähig sind? Ein verarmter Araberstaat, dessen Einwohner ressentimentgeladen auf den als vermeintlich reich erlebten Nachbarn schauen, dessen Bewohner ihrerseits jede Attacke als Beweis fortgesetzter Vernichtungserfahrungen begreifen? Als ob ein Sharon international anerkannte Grenzen nicht bei jedem über einen Steinwurf hinausgehenden Angriff je akzeptieren würde? Und wird es dann nicht so kommen, daß die nun staatlich fundierten Palästinenser auf der Stelle weiteren Anspruch auf von ihnen reklamierte Teile Israels beanspruchen? Die Konstruktion zweier Staaten auf einem Gebiet, das insgesamt nicht viel größer als Hessen ist, das dürfte nur die nächstfolgende Stufe verschärften Konflikts einleiten. Keinen Frieden. Keine Demokratie. Keine Sicherheit und Normalität. – Über das rivalisierende Staats- und Gebietsverlangen weit hinaus wäre eine Perspektive auf ganz anderem Niveau zu entwickeln, die eine tatsächliche materielle Lebensgrundlage garantiert. Für ausnahmslos alle! Daniel Barenboim, kein Politiker, sondern Dirigent, meint: »Wir hängen alle an Traditionen, sind rückwärts fixiert, von Zukunftsvisionen keine Spur. Mit Scharon wird es keinen Frieden geben. Er versteht nicht, daß Israel als Staat Verantwortung für eine kreative Lösung hat«. Was Israel braucht, ist nicht Sicherheit – es ist stark gerüstet –, sondern Normalität. Die Realität israelisch-jüdischer Existenz soll und muß in der ganzen Region als bloße Selbstverständlichkeit anerkannt werden. Darum geht es. Der in Umrissen erkennbare Plan der Prinzen Abdullah von Saudi Arabien möchte genau dafür die geeigneten Elemente enthalten: indem der akute Konflikt auf eine neue (andere) Ebene transponiert wird, die nicht um kleine Parzellen verkarsteten Bodens streitet, sondern wo die normale Anerkennung Israels (und der Palästinenser) als wirtschaftliche und soziale Realität eröffnet wird. Warum sollte nicht, wenn es Gewinn, Auskommen, Leben und Existenz verspricht, die leistungsfähige israelische Industrie in arabische Länder und die Golfstaaten exportieren? In enger Kooperation mit den dort bereits seit langem eingeführten palästinensischen Technikern und Wissenschaftlern? Warum kein Marshall-Plan für diesen Zweck, der ausdrücklich joint ventures favorisiert? Mit investivem Kapital, das gemischte Vorstände & Unternehmenseigner von beiden Seiten fördert? An der nicht sehr großen Zahl von 3 Mio. Palästinensern müßte eine Struktur integrativen ökonomischen Handelns nicht scheitern. Viele von ihnen sind gut ausgebildete technische Kader, die benötigt würden. Weshalb legen nicht das deutsche BMZ (Wieczorek-Zeul), die EU, die arabischen Staaten, auch die USA, von mir aus samt George Soros, einen Masterplan »Entwicklung Palästina« auf, durch den initial beispielsweise in Paris, Washington oder Kairo (später in Ramallah/Tel Aviv), fähige junge Menschen jüdischer und arabischer Herkunft lehrstückhaft gemeinsam ausbildet werden, im High tec Sektor, um die Kader zu bilden für durchaus lukrative Unternehmen? Der arabische Raum wartet auf solche Initiativen, die palästinensischen wie israelischen Ressourcen werden dringend benötigt. Eine solche Anstrengung hätte ökonomische Vernunft. Aus einer solchen integrativen Struktur, einem Exempel beweisbaren und nachhaltigen gemeinsamen Wirtschaftsprodukts entstünden viel eher als aus allen steril-traditionalistischen Anspruchshaltungen erkennbare Muster für ein zukünftig ganz normales Zusammenleben, weil darin erkennbar und glaubhaft Vorteile für alle lägen. Mit der fernen Perspektive der sozialen Vielvölkergemeinschaft der Vereinigten Staaten des Nahen Ostens.

Nicht die Frage, zu wem man augenblicklich hält, ist heute so sehr entscheidend, sondern was für alle getan werden könnte. Die Gelderzuwendungen der EU, die Verhandlungen und Konferenzen der Vergangenheit fanden unter falschen Voraussetzungen statt. Gerade die Deutschen wären gefordert, Maßnahmen zu ergreifen, die Israel mit dauerhafter Perspektive die benötigte Normalität verschaffen – und nicht minder Marwan Barghouti die verdiente Gerechtigkeit.

Hans Branscheidt


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